Die Arbeit der Untersuchungsausschüsse zum NSU

Ein Drama in 20 Aktenordnern

Die Untersuchungsausschüsse zum NSU in Thüringen und Sachsen offenbaren weitere Verfehlungen und Vertuschungen der Behörden.

Akten geschreddert, Akten gefunden – die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden wirken äußerst unsicher. Zurzeit dürften selbst jene Politiker enttäuscht sein, die erwarten, dass das Bundeskriminalamt (BKA), das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), die Landeskriminalämter (LKA) und der Landesverfassungsschutz die Gesellschaft und das Grundgesetz schützen. Seit dem zufälligen Bekanntwerden des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im November 2011 werden immer wieder Verfehlungen, Verflechtungen und Vertuschungen der Behörden bekannt. Ein Ende ist nicht abzusehen.
Am Sonntag musste die schwarz-rote Regierung in Thüringen einräumen, dass neue Akten zur rechtsextremen Vereinigung »Thüringer Heimatschutz« aufgetaucht sind, in der Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Mitglieder waren. In Archiven der Kriminalpolizei des Landes seien Tausende Dokumente gefunden worden, die insgesamt 20 Ordner füllten. Am 2. Juli soll das LKA um Erlaubnis gebeten haben, in dem Fall noch einmal in den einzelnen Inspektionen zu recherchieren. Zuvor waren auch beim sächsischen Verfassungsschutz Papiere entdeckt worden, in denen es um mögliche Unterstützer des NSU gehen soll. Der Sprecher der thüringischen Landesregierung, Peter Zimmermann, beschwichtigte im MDR sogleich: Der Vorgang sei nichts Besonderes, bei Recherchen könnten eben neue Erkenntnisse gewonnen werden. »Wir sind mit der Aufklärung noch nicht am Ende«, sagte auch Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) dem MDR. Im Morgenmagazin von ARD und ZDF betonte sie zudem, dass die Recherche der Behörden in ihren eigenen Beständen doch gänzlich üblich sei.

Dass Behörden ihre eigenen Akten noch einmal durchsehen, klingt tatsächlich nicht außergewöhnlich. Doch der Zeitpunkt des Ermittlungsauftrags irritiert. Denn die Landesregierung hatte Gerhard Schäfer, einen ehemaligen Richter des Bundesgerichtshofs, schon Ende November 2011 beauftragt, die Ermittlungen des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), der Staatsanwaltschaften und des LKA gegen den NSU zu überprüfen. Am 15. Mai stellte Schäfer gemeinsam mit dem Innenminister Jörg Geibert (CDU) ein Gutachten zur Arbeit der Thüringer Behörden vor. Auf 266 Seiten wurde der behördliche Dilettantismus dokumentiert. Bei der Vorstellung in Erfurt wirkte Schäfer angesichts der Mischung aus Inkompetenz und Konkurrenz zwischen dem Thüringer Verfassungsschutz und dem Landeskriminalamt erschüttert. Die Arbeit des Verfassungsschutzes, sagte Schäfer, sei ein »sehr belastendes Kapitel«. An der Zusammenarbeit der Behörden mit der von ihm geleiteten Kommission bemängelte er im Mai nichts.
Das dürfte er nun, da weitere Akten aufgetaucht sind, anders sehen. Es sei peinlich, dass das Land eine so renommierte Persönlichkeit habe »informationell nahezu verhungern lassen«, sagte der innenpolitische Sprecher der Landtagsfraktion der Grünen, Dirk Adams. Der Innenminister habe sein Versprechen, Transparenz zu schaffen, nicht eingelöst. »Es ist erstaunlich, dass Geibert erst nach sieben Monaten beginnt, in seinem eigenen Bereich zu recherchieren«, bemängelte Adams. Unterlagen aus dem Ministerium sollen noch vollständig fehlen. Im Untersuchungsausschuss des Landtags war jedoch schon im Februar beschlossen worden, dass diese Akten vorgelegt werden sollten. »Wir können nicht ausschließen, dass Behördenmitarbeiter, die in den neunziger Jahren und bis 2003 Verantwortung trugen, heute mit dafür sorgen, dass Akten nicht oder spät zugänglich gemacht werden«, sagte Martina Renner, die Innenexpertin der Linksfraktion. »Dieser Innenminister muss sich die Frage gefallen lassen, ob er endlich konsequent einen eigenen Beitrag zur Aufklärung leisten will.« Da der Schäfer-Bericht offenkundig auf unvollständigen Akten beruht, müsse sich die Exekutive fragen lassen, was aus ihrer Ankündigung schonungsloser Aufarbeitung geworden sei, befanden Renner und Adams. Die Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Dorothea Marx (SPD), betonte: »Die politische Verantwortung dafür liegt beim Innenministerium.«

Doch in der Landespolitik Thüringens scheint es gar nicht so leicht zu sein, Verantwortlichkeiten aufzuklären. Anfang voriger Woche musste der ehemalige Präsident des LfV, Helmut Roewer, dem Untersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen, woraus aber eher ein Schweigen und Ausweichen am frühen Abend wurde. »Ich weiß es nicht mehr«, »Ich kann das nicht beantworten« oder »Ich habe dazu keine Erinnerung«, antwortete der ehemalige Verfassungsschützer meist, in dessen Amtszeit das NSU-Trio untertauchten konnte. Auf die fünfmal wiederholte Frage der Abgeordneten der Linkspartei, Katharina König, ob er die Entwicklung der rechtsextremen Szene in seiner Amtszeit kurz skizzieren könne, antwortete er immer wieder: »Gucken Sie in die Verfassungsschutzberichte aus dieser Zeit.« Wer ihm 1994 seine Ernennungsurkunde übergeben hatte, wusste er auch nicht mehr: »Ich war betrunken.« In der Sitzung des Untersuchungsausschusses am Dienstag vergangener Woche wollte niemand Roewer ins Amt geholt haben. Der frühere CDU-Innenstaatssekretär Michael Lippert stritt die Verantwortung ebenso ab wie der damalige Innenminister Franz Schuster (CDU). Am 13. Juli wurden aber Protokolle bekannt, die belegen, dass Lippert in einer Kabinettssitzung am 15. Juli 1994 in Anwesenheit Schusters Roewer als Präsidenten des LfV vorschlug.
Auch in Sachsen kann kaum von einer lückenlosen Aufklärung gesprochen werden. Landtagsabgeordnete befürchten, dass Dokumente zum NSU auch dort vernichtet wurden. Kerstin Köditz, Mitglied der Fraktion der »Linken« im NSU-Untersuchungsausschuss des Landes, fordert deshalb »Aufklärung über Aktenvernichtungen im Amt seit dem 4. November 2011«. Sie sagt: »Ich gehe davon aus, dass es auch in diesem Bereich noch zu peinlichen Enthüllungen kommen wird.« Bisher wurde nur die Aktenvernichtung beim BfV offiziell eingeräumt.
Der sächsische Verfassungsschutz gab auf Nachfragen zu, personenbezogene Daten wegen gesetzlicher Datenschutzbestimmungen vernichtet zu haben. »Die Frage ist, welchen Personenkreis der Verfassungsschutz als NSU definiert«, sagt Köditz. Der Hinweis auf vermeintliche Pflichten bei der Aktenführung verwundert auch den Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar. »Es gibt keinerlei gesetzliche Prüffristen für Akten. Die Aussage, auch vom Verfassungsschutz, diese Akten hätten aus datenschutzrechtlichen Gründen vernichtet werden müssen, ist für mich völlig unverständlich«, sagte Schaar zum Aktenschreddern des BfV.
Einen umfassenden Umbau des Verfassungsschutzes scheint Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) trotz allem nicht anzustreben. Am Wochenende schlug seine Kabinettskollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) eine Verringerung der Zahl der Landesverfassungsschutzämter vor. »Die Zahl der Behörden muss deutlich reduziert werden«, sagte die Bundes­justizministerin. Das sei eine »sehr pauschale Forderung«, erwiderte Friedrich, es gehe nicht um Quantität, sondern um »Effizienzsteigerung«.
Am Montag eröffnete Friedrich, dass der Ministerialdirektor im Bundesinnenministerium, Hans-Georg Maaßen, die Leitung des BfV übernehmen soll. Eine »sehr kluge Personalentscheidung« nannte dies der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach. Von einer »denkbar schlechten Wahl« spricht hingegen der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Nešković (Linkspartei): »Hans-Georg Maaßen ist genau der Typ Bürokrat und Abwiegler, den der Verfassungsschutz jetzt nicht gebrauchen kann.« Mit Maaßen, so Nešković, sei der erforderliche »Struktur- und Kulturwandel« nicht zu schaffen.

Der Blick der Behörden auf rechtsextreme Täter scheint sich ohnehin kaum zu ändern. Am vergangenen Freitag griffen acht Nazis Besucher einer Ausstellungseröffnung im Erfurter Kunsthaus an. Sie grölten dabei »Sieg Heil«, wie die Veranstalter umgehend öffentlich machten. Die Nazis verprügelten den Kurator und brachen ihm das Nasenbein, der Leiterin des Kunsthauses schlugen sie eine volle Bierflasche auf den Kopf. Als die Polizei ihnen nachstellte, verletzten sie eine Beamtin ebenfalls schwer. Doch in der ersten Pressemitteilung der Polizei vom Samstag hieß es, »aus bisher nicht bekannten Gründen« sei es zu gefährlichen Körperverletzungen gekommen. Erst später sprach die Polizei von zwei rechtsextremen Tätern.
»Aus dem NSU-Naziterror hätte man unter anderem zwei Lehren ziehen können«, sagt Martina Renner von der Linkspartei. »Erstens sollte man Opfern rechter Gewalt Glauben schenken. Zweitens sollte man deutliche Hinweise auf Neonazis ernst nehmen.« Beides sei wieder einmal unterblieben. »Wohin es führt, wenn das Offensichtliche nicht gesehen werden soll«, sagt die thüringische Innenpolitikerin, »können wir gerade bei der Aufarbeitung des jahrelangen Wegschauens der Sicherheitsbehörden erleben.«