Diskriminierung von Touristen in Berlin

My Kiez is my castle

Die Abneigung gegen Touristen führt in Berlin zu absurden Erscheinungen: In einem Kreuzberger Café müssen Urlauber mehr zahlen als Einheimische.

Pieter und Anna stehen an der Wiener Straße in Berlin-Kreuzberg. Sie kommen aus Kopenhagen, tragen abgewetzte »Ungdomshuset«-Shirts, sind Mitte beziehungsweise Ende 20 und verbringen insgesamt zwölf Tage in Berlin. Pieter lehnt an der Litfaßsäule, auf der im Frühling noch der mit Filzstift geschriebene Spruch stand: »Zündet Touristen an und keiner muss mehr frieren.«

Die Frage, ob ihnen selbst ähnliche Anfeindungen aufgefallen seien, beantworten sie bereitwillig: Bereits am ersten Abend in Berlin seien sie auf das Graffito »Tourists go home« gestoßen. Heute hätten sie an einer Kreuzberger Hauswand »H8 Tourists« gelesen. »Zum allgemeinen Wohlbefinden trägt das nicht gerade bei«, sagt Anna.
Kurz zuvor saßen die beiden noch im Café Marx am Spreewaldplatz, gleich um die Ecke. Wer dort frühstücken geht, dem kann es passieren, dass er beim Bezahlen danach gefragt wird, ob er in Berlin lebe. Auf Nachfrage erhält man die Auskunft, dass Touristen seit neuestem 20 Prozent mehr für die Speisen und Getränke des Cafés zu zahlen hätten. Man wolle nämlich keine Touristen, da diese ständig besoffen seien und sich dann schlecht benähmen. Das trifft allerdings auch auf Berliner zu. Doch »echte Berliner« erhalten vom Personal des Cafés eine sogenannte »Kiezkarte«, mit der sie sich zukünftig als ortsansässig ausweisen können. Dann dürfen sie statt der offiziell angegebenen Preise den günstigeren Berlin-Tarif zahlen. Auf die Frage, woran der gemeine Tourist denn zu erkennen sei, erhält man eine simple Antwort: Den meisten sehe man doch schon an, dass sie nicht aus Berlin kämen. Und so kommt es vor, dass etwa Englisch sprechende Besucher gar nicht erst nach ihrem Wohnort gefragt werden.
Auch der Selbstversuch zeigt es: Mit einem Fotoapparat um den Hals betrete ich das Café Marx, nehme Platz und lege demonstrativ einen Berlin-Reiseführer auf den Tisch. Beim Kaffeetrinken beobachte ich zwei Touristinnen, welche die Mitarbeiter des Cafés fragen, in welchen Kreuzberger Hostels eventuell noch Betten frei seien. Sie werden mit höhnischem Unterton abgewimmelt. Als sie außer Sichtweite sind, scherzt das Personal über ihre Naivität. Als ich einige Zeit später bezahlen möchte, werde ich nicht nach meinem Wohnort gefragt und bezahle den Touristenpreis.

Ein Reiseführer auf dem Tisch und eine Kamera genügen also als Beweis für die Einordnung in die Kategorie »Tourist«. Seit einiger Zeit erfreut sich das Feindbild des Touristen, neben dem des »Schwaben« und dem des »Hipsters«, immer größerer Beliebtheit. Fast zehn Millionen Besucher wurden 2011 in Berlin verzeichnet, ungefähr doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor.
Dass der wachsende Tourismus nicht immer angenehme Auswirkungen für diejenigen hat, die in touristischen Zentren wie Kreuzberg und Nord-Neukölln leben, steht außer Frage. Dafür Menschen verantwortlich zu machen, die nur ein paar schöne Tage in Berlin verbringen wollen, wird der Komplexität der Sache jedoch nicht gerecht. Argumente gibt es selten, dafür umso mehr Ressentiments gegen Touristen. Die Geisteshaltung erinnert teilweise an einen Diskriminierungsmechanismus, den eine Bielefelder Forschungsgruppe zum Thema »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« unter dem Stichwort »Etabliertenvorrechte« beschreibt. Die Annahme, dass mehr zu sagen und größere Rechte haben müsse, wer schon länger an einem Ort lebe, ist charakteristisch für dieses Denken. In Berlin ist es offenbar weit verbreitet. Ursprünglich Teil einer platten Kritik an Gentrifizierung, wie sie vor allem in Teilen der radikalen Linken kolportiert wurde, scheint der Hass auf Besucher in einigen Bezirken der Stadt beinahe konsensfähig geworden zu sein. Der Hass auf die »Touris«, wie sie abschätzig genannt werden, drückt sich hauptsächlich in diskriminierenden Graffiti aus, wird bisweilen aber auch rabiater artikuliert, etwa in Form aggressiver Sprüche, die Reisende zu hören bekommen.
Thomas Lengfelder, Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbandes Berlin, sieht dennoch keine generelle Feindseligkeit gegen Touristen in Kreuzberg. Er geht davon aus, dass es sich um ein Randphänomen handelt. Die Methoden, die im Café Marx angewandt werden, missbilligt er jedoch. Ein solches Verhalten passe nicht zu einer gastfreundlichen und weltoffenen Stadt wie Berlin. »Wenn ich so etwas als Tourist mitbekäme, würde ich mich beim Ordnungsamt beschweren«, sagt er. Die Betreiberin des Café Marx, Nina Warneke, kann die Aufregung nicht so recht nachvollziehen. Sie diskriminiere niemanden, sondern wolle den Menschen aus dem Kiez dabei helfen, ihren »Lebensraum« zu bewahren beziehungsweise zurückzuerobern. Seit der Eröffnung eines billigen Hostels nebenan habe man vermehrt mit einer Klientel zu tun, das die Stammgäste aus dem Kiez zusehends verdränge. Nicht nur die Trinkgelder blieben dann aus, die meist jungen »Partytouristen« randalierten auch auf dem Platz und zerstörten manchmal sogar das Geschirr des Cafés. Die eigentliche Verantwortung sieht Warneke jedoch bei der Politik, die sich bislang nicht darum kümmere, den Tourismus in sozialverträgliche Bahnen zu lenken.

Als Pieter und Anna, die Touristen aus Dänemark, erfahren, dass sie im Café Marx 20 Prozent mehr gezahlt haben als die autochthonen Berliner, verwandelt sich ihr Gesichtsausdruck in eine Mischung aus Ratlosigkeit, Empörung und Enttäuschung. »Ernsthaft?« fragen sie. Anna empfindet das Vorgehen des Cafés als Diskriminierung und denkt darüber nach, ob es sich nicht um eine krude Variante von Fremdenfeindlichkeit handelt. Pieter sagt: »Ich würde es ja verstehen, wenn Deutschland ein armes Land wäre und die Besucher aus deutlich reicheren Ländern kämen. Aber so?« Er wolle nur behandelt werden wie jeder andere auch. »Woher man kommt und wo man lebt, sollte da keine Rolle spielen.«