Der Rechtsstreit um ein christliches Kloster in der Türkei

Kein Streit um Land

Der jahrelange Rechtsstreit um die Ländereien des Klosters Mor Gabriel in Südost­anatolien gilt vielen als Testfall für den Umgang der Türkei mit der christlichen ­Minderheit. Ein Gericht hat jetzt die Verstaatlichung großer Teile des Grundstücks ­angeordnet.

Das versengte Gras leuchtet im Licht der aufgehenden Sonne. Die Hügellandschaft in der Provinz Midyat wird in ein angenehm weiches Licht getaucht. Um sechs Uhr morgens sind es fast 30 Grad. Das Kloster Mor Gabriel liegt wie eine Verheißung aus fernen Zeiten auf dem Hügel über dem Tal. Für syrisch-orthodoxe Christen ist dieser Ort nach Jerusalem und dem Sitz des Patriarchen in Damaskus die wichtigste religiöse Pilgerstätte. Die Geschichte des Klosters reicht bis in das Frühchristentum zurück. Tur Abdin, Berg der Knechte Gottes, heißt dieser Landstrich in der Südosttürkei nahe der Grenze zu Syrien. Schon im ersten Jahrhundert wanderten Christen von Jerusalem nach Anatolien und missionierten unter den dort lebenden Assyrern, die zu einem uralten Volk aus Mesopotamien, dem Zweistromland an Euphrat und Tigris, gehörten. Assyrische Mönche gründeten im vierten Jahrhundert das Kloster Mor Gabriel. Heute leben der Metropolit Samuel Aktaş, zwei Mönche, 14 Nonnen und einige Klosterschüler an diesem für die syrisch-orthodoxen Christen heiligen Ort.
Eine Treppe führt in den Innenhof des Gemäuers. Choräle dringen aus der kleinen Kapelle auf der rechten Seite. Die Kirchenbesucher müssen am Eingang ihre Schuhe ausziehen. Innen ist es etwas kühler als draußen. Das Kloster wurde mit dicken, soliden Sandsteinquadern gebaut. Samuel Aktaş leitet die Morgenandacht mit dem schönen melancholischen Gesang der syrisch-orthodoxen Kirche. Die Mönche, Nonnen, Klosterschüler und einige wenige Besucher stimmen auf sein Zeichen hin ein. Ungeübte Sonntagssänger wie in christlichen Gottesdiensten in Deutschland, wo falsch und viel zu laut gesungen wird, gibt es hier nicht. Alle Gemeindemitglieder kennen Melodie und Text und singen auch ohne Gebetbuch oder instrumentale Begleitung richtig und gut. Von klein auf lernen die hier lebenden Christen die alten Lieder, die von der Geschichte des Christentums und der Tradition der Tur Abdin erzählen. Sie werden auf Aramäisch gesungen, eine semitische Sprache, die Jesus gesprochen haben soll.
Das Kloster Mor Gabriel wird von einer Stiftung verwaltet. Vier Jahre lang kämpfte die Stiftung vor Gericht gegen die Verstaatlichung eines großen Teils ihrer Ländereien. Das Berufungsgericht in Ankara hat jetzt entschieden, dass 28 Hektar Klostergrund an den türkischen Staat fallen sollen. Stiftungsleiter Kuryakos Ergün ist empört. Er steht auf dem Flachdach des Schlaftraktes und blickt hinab ins Tal. Obstbäume und gepflegte Gemüsebeete erstrecken sich auf dem Klostergrund. Auch einen Fußballplatz haben die Mönche für sich und die Klosterschüler angelegt. Mehr als die Hälfte der Fläche soll jetzt öffentlicher Grund werden. Das würde einschneidende Veränderungen mit sich bringen. Ein Teil der Klostermauer müsste abgerissen werden. Die vielen Prozesse erscheinen Kuryakos Ergün wie ein nicht endender Albtraum. »Das Kloster hat eine 1 600 Jahre alte Geschichte«, sagt er müde. »Wir besitzen Dokumente über die Grenzen der Ländereien. Wir haben Steuerquittungen und eine Vereinbarung von 1938, die die Grenzen zum Nachbardorf festlegt.«
Diese Dokumente wertete das Bezirksgericht von Midyat in der ersten Instanz als Beleg für die Rechtmäßigkeit des Klosterbesitzes. Wer Steuern zahle und Grenzen offiziell vereinbart habe, sei rechtmäßiger Besitzer, heißt es in der Urteilsbegründung von 2009. Das Berufungsgericht in Ankara berücksichtigte diese Dokumente jedoch nicht. Stiftungsleiter Kuryakos Ergün überrascht das nicht. »Wir wurden paral­lel zu diesem Prozess auch von den muslimisch-kurdischen Nachbarn verklagt. Ihre Beschwerden waren mehr als merkwürdig. Sie bezeichneten sich da als Enkel von Sultan Fatih Mehmet, dem Eroberer Istanbuls. Der habe gesagt, dass er jedem den Kopf abschneidet, der einen Zweig von seinem Ast abschneidet.«
Solche Drohungen wecken bei den Assyrern schlimme Erinnerungen. Wie die Armenier wurden sie während des Ersten Weltkriegs Opfer von Pogromen, die die osmanische Führung angeordnet hatte. Ausgeführt wurden sie jedoch vor allem von den muslimisch-kurdischen Nachbarn. Vielfach war reine Habgier das Motiv, denn viele Assyrer waren reiche Bauern mit Land­besitz. Tausende Menschen starben, in die assyrische Geschichtsschreibung gingen diese Gräuel als »Seyfo«, Jahre des Schwertes, ein. Streit um Ländereien gibt es bis heute. Und so glaubt auch Kuryakos Ergün, dass es hier eigentlich um eine Umverteilung von Land zugunsten der muslimisch-kurdischen Nachbarn geht. »Nicht nur der Staat, auch die Nachbardörfer haben gegen uns geklagt. Sie kamen und behaupteten, ein Teil des Klostergrundstücks gehöre ihnen. Wir konnten unsere Grenzen nachweisen. Trotzdem wollte das Katasteramt die Grenzen zunächst in der Mitte festlegen, also den Nachbardörfern einen Teil un­seres Landes schenken«.
In den Nachbardörfern des Klosters wohnten früher syrisch-orthodoxe Christen. Doch viele flohen in den neunziger Jahren vor den Kämpfen zwischen der kurdischen PKK und dem türkischen Militär. Kurdische Flüchtlinge, die aus ihren eigenen Dörfern vertrieben worden waren, siedelten sich hier an. Das Dorf Yayvantepe liegt am Fuße des Hügels, auf dem das Kloster liegt. Das Kloster hat in der Vergangenheit beim Bau der Moschee und einer kleinen Ambulanz großzügige finanzielle Hilfe geleistet. Doch das konnte die Armut der Bauern kaum lindern. Der Bürgermeister von Yayvantepe gehört zu den Klägern gegen das Kloster. Er gibt offen zu, dass er vor allem Land dazu gewinnen wollte. Das Katasteramt hatte die Bevölkerung der Region 2008 dazu aufgefordert, ihre Ansprüche auf ihr Eigentum an Grund und Boden geltend zu machen. In vielen Fällen gab es keine ordentlichen Grundbücher. Für die Bauern von Yayvantepe war das die Gelegenheit, ihre Landeinnahme zu legalisieren. »Es gibt hier keine Fa­briken«, sagt Bürgermeister Ismail Erkan, »wie sehen immer die vielen Touristen, die zum Kloster fahren. Wir wollen doch nur an dem Wohlstand teilhaben.« Diese Form des Teilens ging dem Kloster zu weit. Es klagte ebenfalls gegen die Dörfler wegen unberechtigter Ansprüche auf ihre Ländereien.
Das Bezirksgericht von Midyat hatte zugunsten des Klosters entschieden. Die jetzt vom Berufungsgericht beschlossene Verstaatlichung von 28 Hektar Klosterland orientiert sich an der angestrebten Vergleichlösung des Katasteramtes von Midyat, das schon 2008 vorgeschlagen hatte, das Land zu teilen. Die 28 Hektar Land fallen zwar nicht den klagenden Dörflern zu. Die Verstaatlichung würde es ihnen aber in Zukunft ermöglichen, dort Vieh weiden zu lassen, denn auf öffentlichem Grund ist das nicht verboten. Das Kloster will jetzt vor das türkische Verfassungsgericht ziehen. In letzter Instanz bleibt auch noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. »Bis zur dortigen Entscheidung wird sich vor Ort erst einmal nichts ändern«, sagt Erol Dora.
Der Abgeordnete der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) hat das Kloster in der Vergangenheit anwaltlich vertreten. Dora wurde in einem Dorf bei Silopi nahe der syrischen Grenze unweit des Klosters als Sohn assyrischer Eltern geboren. Seine Partei setzt sich für die Rechte der Kurden und anderer Minderheiten wie die der Assyrer ein. Damit ist sie in den vor allem von Kurden bewohnten Provinzen des Südostens der Türkei als stärkste regionale politische Macht eine unerwünschte Konkurrenz für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). »Der Prozess gegen das Kloster hat politische Hintergründe«, betont Erol Dora. »In Midyat soll die kurdische Landbevölkerung glauben, dass die islamisch-konservative Partei sich für sie als Muslime einsetzt«.
Doch das ist nicht der einzige politische Aspekt. Auch die stockenden EU-Beitrittsverhandlungen spielen eine Rolle. »Schon bei den ­Verhandlungen um den Friedensvertrag von Lausanne waren die Minderheiten ein Streitthema«, sagt Dora. Die Siegermächte im Ersten Weltkrieg handelten 1923 mit der türkischen Führung Minderheitenrechte für die armenische, griechische und jüdische Bevölkerung aus. Sie haben seitdem eine juristische Grundlage, um Kirchen und Schulen zu betreiben. Die Assyrer werden in der türkischen Verfassung nicht als Minderheit aufgeführt. Sie hatten damals ­keine vergleichbare politische Lobby in Europa. Dementsprechend werden sie bis heute offi­ziell nicht als Minderheit anerkannt, rechtlich existieren sie also gar nicht. Die Regierung hat zwar in den vergangenen Jahren einige Reformen für nicht-muslimische Minderheiten verabschiedet. Die Assyrer profitieren davon allerdings nicht. Sie dürfen ihre Sprache offiziell nicht unterrichten, es gab auch Drohungen staatlicher Stellen, die Klöster in Museen umwandeln zu lassen. Assyrer und Armenier bereiten sich politisch bereits auf das Jahr 2015 vor. Dann jähren sich zum hundertsten Mal die ­Pogrome an der assyrischen und armenischen Bevölkerung in der Türkei. Auch für dieses Datum braucht die Regierung in Ankara Verhandlungsstoff. Der Abgeordnete Erol Dora hofft daher auf den Europäischen Gerichthof für Menschenrechte. »Die EU ist unsere größte Hoffnung. Sowohl hinsichtlich des Klosters und der Ländereien. Aber wir erhoffen uns auch die Anerkennung als Minderheit im Zuge der türkischen Verfassungsänderungen, die in den folgenden Jahren anstehen.«
Diese Forderungen unterstützen viele Menschen in der Türkei. In einer Unterschriftenaktion solidarisierten sich Hunderte mit der assyrischen Minderheit und dem Kloster Mor Gabriel. Unter dem Motto »Wir sind alle gemeinsam in diesem Land aufgewachsen« werden gleiche Rechte für alle Bürger der Türkei eingefordert.