Die Lage in Syrien

Normal ist das nicht

Das syrische Regime ist durch die Tötung eines Teils der Führungsriege geschwächt worden.

Es kommt eben auf die Perspektive an. Der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi merkte jüngst an, es gebe kein Problem in Syrien und die Verhältnisse in Damaskus seien »normal«. Da hatten es die Elitetruppen des syrischen Regimes nach einer Woche Einsatz von Panzern und Kampfhubschraubern gerade geschafft, die Kämpfer der Free Syrian Army (FSA) aus einigen zentrumsnahen Damaszener Stadtvierteln hinauszudrängen. Die offizielle syrische Nachrichtenagentur Sana meldete, es hätten sich sogar jugendliche Freiwillige zum Aufräumen gefunden und in ein paar Tagen könne das Leben wieder seinen gewohnten Gang nehmen. Nach dem obligatorischen Hinweis, die Sicherheitslage in Damaskus verbessere sich ständig, merkte der Sprecher des syrischen Außenministeriums noch an, die chemischen und biologischen Waffen seien unter Kontrolle des syrischen Militärs und man werde sie unter keinen Umständen intern einsetzen, sondern nur gegen einen Angriff von Außen. Sofern es diese Waffen überhaupt gäbe, wie Sana noch schnell, aber wirkungslos einschob. Das ist eine kleine Sensation, schließlich hatte Syrien bislang nie offiziell zugegeben, Massenvernichtungswaffen zu besitzen.
Die wichtigsten Adressaten dieser Stellungnahme waren Israel und die USA, schließlich hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netan­yahu kurz zuvor deutlich gemacht, dass Israel sich gezwungen sehe, einzugreifen, sollten chemische Kampfstoffe etwa in die Hände der Hizb­ollah gelangen. Die live im syrischen Staatsfernsehen ausgestrahlte Botschaft, dass man die Chemiebomben »unter keinen Umständen« intern einsetzen wolle, war aber auch an die eigene Bevölkerung gerichtet, was dadurch konterkariert wird, dass dem Regime zufolge der Aufstand in Syrien vor allem eine terroristische Intervention ausländischer Mächte ist.

So normal ist die Lage für das syrische Regime also mittlerweile, nachdem die FSA mit einer überraschenden Offensive den Bürgerkrieg bis in die Metropolen Damaskus und Aleppo gebracht hat, deren Zentren bis dato von den direkten Auswirkungen der Kämpfe abgeschottet werden konnten. Ein paar Tage nach dem Beginn des Angriffs auf Damaskus waren Anwohnern zufolge einige Detonationen innerhalb eines stark gesicherten Regierungsgebäudes zu hören. Dieses eher beiläufige Knallen dürfte das Ende des Regimes Assads eingeläutet haben, auch wenn die Kämpfe noch andauern. Was genau passiert ist, weiß man nicht. Gerüchten zufolge soll es sich um die Tat eines Leibwächters gehandelt haben. Es starben der Verteidigungsminister, der Geheimdienstchef und der Koordinator des Krisenstabes, außerdem Assads Schwager Asef Shawkat, stellvertretender Verteidigungsminister und die zentrale Figur des Geheimdienstes. Der Innenminister wurde verletzt, weitere Opfer sind nicht genau bekannt, aber wahrscheinlich.
Damit wurde der innere Zirkel um Assad, der für das Überleben des Systems zuständig ist, praktisch halbiert. Die Halbwertszeit des Regimes hat sich dadurch drastisch reduziert, wie auch die darauffolgenden Ereignisse schnell zeigten: Auf Handyvideos der Opposition sind brennende Panzer in Aleppo zu sehen und der FSA gelang die vor allem propagandistisch bedeutende Einnahme von Grenzübergängen zum Irak und in die Türkei. Weite Teile des Nordens um Idlib und an der Grenze zur Türkei sind unter der Kontrolle der Aufständischen. Zeitweise gab es Gerüchte, Assad habe sich nach Latakia an der Küste abgesetzt. Er zeigte sich zwar zwei Tage später auf einem Foto bei der Vereidigung des neuen Verteidigungsministers in dem üblichen Damaszener Amtszimmer, aber es geht unerbittlich dem Ende zu, wenn ein Despot sich bereits demonstrativ fotografieren lassen muss, um zu beweisen, dass er überhaupt noch da ist.
Um sich weiter in Damaskus zu behaupten, zog das Regime seine Truppen von der Grenze mit ­Israel am Golan ab. Zumindest die zentrumsnahen Gebiete von Aleppo müsste es unbedingt wieder unter Kontrolle bringen. Dasselbe gilt für die wichtigsten Grenzübergänge. Zum Teil gelang das den Truppen Assads bereits, eine auch nur mittelfristige Perspektive bietet sich dem Regime dadurch allerdings nicht.

Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass die Aufständischen nun jubeln könnten. Die Kämpfe in Damaskus und Aleppo haben auch gezeigt, dass die maßgeblich aus Alewiten bestehenden Kerntruppen des Regimes mit ihrer schweren Bewaffnung von den bisher offensichtlich nur leicht­bewaffneten Rebellen nicht rein militärisch besiegt werden können. Zumindest dort nicht, wo Assads Truppen gehäuft auftreten. Es ist ein ungleicher Kampf. Die Aufständischen kämpfen aus Seitenstraßen heraus mit Kalaschnikows und Panzerfäusten gegen gepanzerte Truppen, deren Elite dafür ausgerüstet worden ist, eines Tages gegen Israels IDF bestehen zu können.
Ein weiteres Problem sind die Streitereien um die Kommandohierarchie in der FSA sowie die deutlicher wahrnehmbaren Jihadisten. Eine Gruppe von ihnen schaffte es, sich medienwirksam, wenn auch etwas unbeholfen, in Szene zu setzen, als sie mit einer schwarzen Fahne an einem der eroberten Grenzübergänge aufzog. Ein Sprecher der FSA bedauerte, dass die »internationale Gemeinschaft« es nicht vorgezogen habe, die FSA ordentlich zu bewaffnen. Nun bleibe der FSA nichts anderes übrig, als radikale Elemente wie die Jihadisten einzubinden, nicht zuletzt, um sie unter Kontrolle zu halten.
Auch die Situation an den Grenzen Syriens verschärft sich mit der Eskalation der Kämpfe im Inneren. Durch die Gefechte in Damaskus und Aleppo ist die Zahl der Menschen, die nach Jordanien, in den Libanon und die Türkei fliehen, stark gestiegen. Jordanien und der Irak sahen sich veranlasst, ihre Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen.
Die türkische Regierung ist nun damit konfrontiert, dass die syrische Filiale der PKK, die PYD, die syrisch-kurdischen Gebiete weitgehend übernommen hat. Der nahezu reibungslose Wechsel der Kontrolle von syrischen Truppen an die Kämpfer der PYD dürfte nicht ohne das Wohlwollen Assads geschehen sein; präsent sind die syrischen Truppen noch in Qamischli, einem Hauptort der Region direkt an der Grenze zur Türkei. Dort kam es auch zu Kämpfen zwischen Kurden und Syrern, und es dürfte kein Zufall sein, dass hier bisher nicht allein die PKK/PYD das Sagen hat, sondern sich in Qamischli noch unabhängige kurdische Parteien halten, die vom kurdischen Nordirak aus unterstützt werden. Die beiden kurdischen Lager wollen nun die syrisch-kurdischen Gebiete gemeinsam verwalten, aber die PKK hat auch deutlich gemacht, dass die Kämpfer der FSA in den von ihr kontrollierten Gebieten nicht erwünscht sind. Damit dürfte Assad im Moment zufrieden sein, die Forderungen nach kurdischer Autonomie dürften ihn gerade weniger interessieren. Wie die türkische Regierung mit dieser Situation umgeht, ist eine offene Frage, bisher verlegt sie nur Truppen an die Grenze.
Zumindest hat der UN-Sicherheitsrat diesmal einen Entschluss fassen können. Nachdem China und Russland erneut ihr Veto gegen eine bereits verwässerte Resolution zu Syrien eingelegt hatten, einigte man sich immerhin auf eine Verlängerung des Mandats der UN-Beobachtermission, deren Mitglieder seit Wochen ihre Hotelzimmer in Damaskus nicht verlassen können.