Beschneidung und Religionsfreiheit

Das Dilemma

Die jüdische Beschneidungspraxis sollte weder dezidiert verboten noch legalisiert werden.

Beginnen wir mit einer einfachen Tatsache: Die Beschneidung von männlichen Babys und jungen Kindern ist nach den Gesetzen der Bundesrepublik nicht legal. Das Urteil des Kölner Landgerichts vom Mai legte einfach diese Tatsache dar, auf der Basis dessen, was – zumindest für einen Laien – eine stringente Interpretation der relevanten Rechtsvorschriften zu sein scheint. Man sollte sich auch daran erinnern, dass es keine schlechte Sache ist, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das dem Gericht zufolge von der Beschneidung verletzt wird, gesetzlich festzuschreiben und zu schützen. Fahren wir mit einer weiteren Tatsache fort: Die Beschneidung von männlichen Neugeborenen ist eine sehr weit verbreitete Praxis von Juden in aller Welt – mehr als jede andere religiöse Pflicht, Tradition, jeder andere Brauch oder Initiationsritus. Jüdische Eltern, seien sie religiös oder säkular, arm oder reich, homosexuell oder heterosexuell, lassen ihre männlichen Kinder in den ersten Wochen nach der Geburt beschneiden. Ist es falsch, dass das Gesetz in Deutschland festlegt, dass die Beschneidung nicht mit dem Prinzip der körperlichen Unversehrtheit zu vereinbaren ist, und sollte es daher geändert werden? Ist es falsch, wenn die Eltern diese Prozedur an ihren Neugeborenen vollziehen lassen, sollten sie deshalb ermutigt werden, es zu unterlassen? Ist es möglich, dass beide teilweise Recht haben?
Es gibt rechtliche, medizinische, ethische, gesellschaftliche und politische Indizien dafür, dass dies der Fall ist: Tatsächlich haben deutsche Parlamentarier der CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen kürzlich bereits eine Resolution verabschiedet, der zufolge ein Problem in der Gesetzeslage existiert, das der Bundestag möglichst bis zum Herbst beheben soll.
Die bislang geäußerten allgemeinen Behauptungen, nach denen die Feststellung der rechtlichen Lage durch das Gericht und die darauf folgende öffentliche Debatte eine Bedrohung des jüdischen Lebens in Deutschland oder anderswo in Europa darstellen, sind wenig hilfreich und verfehlt. Zudem hat der Aufschrei von Sprechern und Repräsentanten der jüdischen Gemeinde dazu beigetragen, die Debatte über die Beschneidung von minderjährigen Jungen in ein jüdisches Thema zu verwandeln, obwohl vermutlich nicht einmal ein Prozent der betroffenen Jungen jüdisch ist. In den folgenden Anmerkungen zu dieser Debatte werde ich mich deshalb ebenfalls auf die jüdischen Aspekte der Beschneidung konzentrieren.
Was steht auf dem Spiel? Anhand der Beschneidung unter Juden in Deutschland lassen sich Fragen der Religionsfreiheit, der Rechte Minderjähriger und der Elternrechten einer kleinen Minderheit der Bevölkerung aufwerfen. In einer demokratischen Republik, die den Prinzipien der Gleichheit der Bürger, des Schutzes von Rechten und Freiheiten und der Gleichheit vor dem Gesetz verpflichtet ist, sollten wir in der Lage sein, auf die Frage zu antworten, was ein rechtliches Verbot der Beschneidung Neugeborener in diesen Begrifflichkeiten für die jüdische Minderheit in Deutschland (und anderswo in Europa) bedeuten würde. Würden ihre Rechte und Freiheiten, würde ihre Gleichheit als Bürger ungerechtfertigt beeinträchtigt? Es gibt gute Gründe dafür, zu argumentieren, dass die Antwort auf diese Fragen »Ja« lautet und dass ein dezidiertes Verbot deshalb nicht zu rechtfertigen wäre.
In der vorigen Ausgabe der Jungle World argumentierte Alexander Hasgall, dass etwas falsch sei an dem Versuch, die Frage der Beschneidung in diesen rechtlichen Begriffen zu beurteilen. Natürlich sollten wir nicht dem Rechtsfetischismus verfallen und im Kopf behalten, dass demokratische Gesetze und die öffentliche Debatte mit den Vorurteilen, Gewohnheiten und Überzeugungen der Mehrheit verknüpft sind. Sie tendieren dazu, den Minderheiten eine unfaire Last der Rechtfertigung aufzuerlegen. Deren Praktiken, Überzeugungen und Bräuche werden auf eine Weise in Frage gestellt und problematisiert, wie dies bei der Mehrheit nicht geschieht. Aber auch wenn wir dies bedenken und die nötige Zurückhaltung walten lassen, gibt es kein Anzeichen dafür, dass die Frage nach der rechtlichen Beurteilung der Beschneidung nicht legitim sei. Es war der Fall eines vierjährigen muslimischen Jungen, bei dem nach der Beschneidung ernsthafte Komplikationen auftraten, der die Praxis vor ein deutsches Gericht brachte. In einer Rechtskultur, die es Hundehaltern untersagt, die Schwänze ihrer Haustiere zu kupieren, wäre es auch äußerst erstaunlich gewesen, wenn eine Praxis, die die Entfernung eines Teils des Körpers eines menschlichen Wesens beinhaltet, nicht von einem Gericht zumindest in Frage gestellt worden wäre.

Warum kein Verbot? Diese Frage ist sehr wichtig, denn sobald wir Kriterien zur Beurteilung der Beschneidungspraxis anlegen und uns gegen ihr rechtliches Verbot entscheiden, werden diese Kriterien für die rechtliche Bewertung einer Unmenge anderer auf Religion und Identität fußender Forderungen und Praktiken gültig – einige sind in den Medien in den vergangenen Wochen bereits diskutiert worden: unter anderem die Forderung nach einem Blasphemiegesetz oder einem vollständigen Verbot der Abtreibung, die Praxis der Genitalverstümmelung bei Mädchen, das Zeigen von religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit, jüdische und islamische Scheidungsgesetze. Es geht hier nicht darum, all diese Forderungen und Praktiken gleichzusetzen. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, dass aus juristischer und gesetzgeberischer Sicht das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz gilt und in öffentlichen Debatten deshalb das gleiche Beurteilungskriterium für die unterschiedlichsten Forderungen und Praktiken anzulegen ist.
Deshalb ist die Religionsfreiheit als solche auf keinen Fall ein ausreichendes Argument gegen das Verbot der Beschneidung: Es gibt eine Menge religiöser Praktiken in dieser Welt, die in Deutschland illegal sind und dies auch bleiben sollten. Also muss man damit beginnen, klar zu machen, dass die Beschneidung männlicher Neugeborener an und für sich aus medizinischer Sicht nicht so schädlich ist, dass Ärzte davon bislang abrieten. Es gibt viele medizinische, psychologische und bioethische Erkenntnisse, die diese Schlussfolgerung stützen, ohne die negativen Auswirkungen der Prozedur zu leugnen. Übernimmt man etwa die Position der Canadian Paediatric Society hinsichtlich der Vor- und Nachteile der Beschneidung Neugeborener, sollte Eltern die Freiheit gelassen werden, ihre Entscheidung »letztlich aufgrund von persönlichen, religiösen oder kulturellen Faktoren« zu treffen. Im deutschen Kontext müssen wir diese kulturellen, religiösen und persönlichen Faktoren, die die Entscheidung der Eltern beeinflussen, gegen das im bundesdeutschen Rechtsverständnis so emphatisch hochgehaltene Prinzip der körperlichen Unversehrtheit abwägen.

Die Überlegungen innerhalb des jüdischen Kontextes sind ziemlich einfach. Soweit es um die Religion geht, gibt es trotz der großen Verschiedenheit von Gruppen und Orientierungen innerhalb der jüdischen Religion heutzutage eine weitgehende Übereinkunft, dass die Beschneidung erforderlich sei. Deshalb sehen sich Eltern, auch wenn sie sich den Geboten der jüdischen Religion nur teilweise verpflichtet sehen, aufgefordert, ihre Söhne beschneiden zu lassen. Dies ist allerdings keineswegs völlig unumstritten: Es gibt in verschiedenen Ländern, auch in Israel, kleine jüdische Gruppen, die diese Praxis ausdrücklich in Frage stellen. Und einigen Eltern fällt es auch privat schwer, eine Entscheidung zu treffen. Der gegenwärtige Konsens könnte sich jedenfalls auf längere Sicht ändern.
Auch jenseits der Religion existieren Ansichten der Identifikation und der Gruppenzugehörigkeit. Für Eltern, die sich in einem kulturellen, historischen oder irgendeinem anderen Sinn als jüdisch verstehen, ist die Beschneidung die am weitesten verbreitete Möglichkeit, diese Identifikation auszudrücken. Diese Sachlage ist nicht unangefochten, sie wird debattiert und mag sich auf längere Sicht verändern, und ich muss gestehen, dass ich zu den Israelis gehöre, die eine solche Veränderung sehr begrüßen würden. Aber das ist eine Frage, die die Betroffenen selbst beantworten müssen und die nicht von einem deutschen oder europäischen Gericht oder einem Ethikkomitee im Krankenhaus entschieden werden darf. Die Behauptung des Kölner Landgerichts, dass das Selbstbestimmungsrecht des Kindes gegen die Beschneidung Neugeborener spricht, dürfte in ihren Ohren deshalb wenig überzeugend klingen. Sie beanspruchen vielmehr als erziehungsberechtigte jüdische Eltern, ihre Kinder als Juden aufwachsen zu lassen, ob religiös oder nicht spielt dabei keine Rolle. Es erscheint auch äußerst fraglich, ob eine Beschneidung das Selbstbestimmungsrecht des Kindes so weit tangiert, dass später dem Betroffenen Nachteile entstehen, sollte er sich zum Wechsel seiner Religion entscheiden.
Wenngleich nicht ohne Schwierigkeiten scheinen im Fall der jüdischen Praxis der Beschneidung die Argumente gegen ein Verbot stärker als jene dafür. Jüdisches Leben (oder was davon übrig ist) in Deutschland und anderswo in Europa wird unabhängig von der rechtlichen Lage weiter bestehen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass ein rechtliches Verbot der jüdischen Praxis zur Norm werden würde, wären die Mitglieder der winzigen jüdischen Minderheit in Europa jedoch ungerechtfertigt eingeschränkt. Zugleich, und weil es um die Frage der Gleichheit einer Gruppe von Bürgern geht, kann das gegenwärtige Dilemma nicht mit den Mitteln einer Gesetzgebung gelöst werden, die die Beschneidung Neugeborener befürwortet.
Selbst wenn es für den Bundestag möglich wäre, durch ein Gesetz den religiösen Glauben oder das Erziehungsrecht der Eltern als Gründe für eine Ausnahme vom Grundsatz der körperlichen Unversehrtheit Minderjähriger anzuerkennen, bliebe es für die Repräsentanten der jüdischen Gemeinde falsch und unverantwortlich, ein solches Gesetz zu fordern. Diese Forderung öffnet anderen auf der Religion beruhenden Forderungen, weitere Lücken und Ausnahmen zu schaffen, Tür und Tor. Im Übrigen bläht sie das Dilemma unverhältnismäßig auf, denn sie bedeutet eine Infragestellung des Grundgesetzes für ein Problem, das in Deutschland schätzungsweise nicht mehr als 300 Neugeborene pro Jahr betrifft. Eine praktikable Lösung sollte anderswo gesucht werden. Das mag Zeit erfordern, wie in Finnland, wo im Jahr 2001 stille Beratungen begannen, die bis heute nicht abgeschlossen sind. Auch in Deutschland besteht kein Grund zur Eile oder Panik. Nach Auskunft der Generalstaatsanwaltschaften in Baden-Württemberg bleibt die Praxis, wird sie medizinisch korrekt durchgeführt, bis auf weiteres straffrei.