Die Lage in den kurdischen Gebieten Nordsyriens

Die dritte Position

Im Norden Syriens bereiten sich die Kurden auf die Zeit nach dem Krieg vor. Die Aussichten für eine kurdische Autonomie sind aber schlecht.

Rad Mecid Sexmus war der letzte kurdische shahid (Märtyrer) von Qamishlo, einer Stadt im Nordosten Syriens. Sein Tod zeigt, dass der syrische Bürgerkrieg allmählich die kurdischen Gebiete erfasst. Sexmus starb am 22. Juli bei einem Angriff syrischer Soldaten auf einen Checkpoint, an dem er Wache hielt. Auch mehrere unbewaffnete Zivilgarden wurden dabei verletzt. An der Beerdigung auf dem neu errichteten »Friedhof der Märtyrer«, einem staubigen Feld unweit des Stadtzentrums, nahmen Hunderte Menschen teil, die Slogans gegen Syriens Diktator Bashar al-Assad skandierten. Bisher waren Städte wie Qamishlo, Derik, Efrin und Kobani von den im Rest des Landes wütetenden Massakern verschont worden. In den vergangenen Wochen sind rund 40 000 Kurden vor dem Bürgerkrieg in diese vergleichsweise ruhigen Städte sowie in die benachbarten Dörfer geflohen. Auch immer mehr arabische Familien, die in der Region Verwandtschaft haben, suchten hier Sicherheit.
Aus verschiedenen Gründen war die Lage in den kurdischen Gebieten Syriens lange vergleichsweise stabil. Neben der Tatsache, dass in dieser Region weniger Soldaten der syrischen Armee stationiert sind – die meisten Kämpfe finden in Damaskus, Homs, Aleppo und Idlib statt – spielt die politische Strategie der »Bewegung der Demokratischen Gesellschaft in Westkurdistan« (Tev-Dem), eines Dachverbandes, dem rund 80 Prozent der kurdischen Organisationen in Syrien angehören, eine entscheidende Rolle für die Lage in der Region: »Wir vertreten in diesem Konflikt eine dritte Position«, erklärt Aldar Xelil, einer der drei Sprecher der Tev-Dem. »Natürlich sind wir gegen das Regime, aber gleichzeitig sind wir gegen eine Intervention von außen. Wir konzentrieren uns darüber hinaus auf die kurdische Frage, die nicht nur in Syrien brisant ist, sondern auch die Nachbarländer Türkei und Iran betrifft.«

Hozanao Midi, Journalist der kurdischen Nachrichtenagentur Xeber24, versucht zu erklären, warum die kurdischen Organisationen diese Position vertreten. »Sie müssen wissen, dass die kurdischen Gebiete in Syrien strategisch sehr wichtig sind. Hier wird Öl gefördert und Lebensmittel werden in großem Umfang produziert«, sagt er. »Aber Hafez al-Assad (der Vater von Bashar al-Assad, Anm. d. Red.) nahm den Kurden das Land weg. Er besetzte die wichtigen Machtpositionen mit Arabern und ließ sie Land und Wirtschaft verwalten, während die Kurden in Armut leben.« Dass Midi nicht übertreibt, kann man in dieser Region alltäglich beobachten.
In der Provinz von Derik sieht man überall Ölquellen. Die Dörfer, die sich in der Nähe der Quellen befinden, haben jedoch kaum Strom, die Arbeitslosenquote dort ist sehr hoch, ein Großteil der lokalen Bevölkerung wird in der Regel als Saisonarbeiter auf den Feldern beschäftigt. Eigenes Land ist ein seltener Luxus für Kurden. Aber nicht nur der Wohlstand wird von dieser Region ferngehalten, auch jede Form von kurdischem Leben und kurdischer Kultur wird vom Regime systematisch bekämpft. Unterricht auf Kurdisch ist in den Schulen verboten. Kurdische Tänze oder andere Elemente kurdischer Kultur werden als Opposition gegen den Staat betrachtet und bestraft, manchmal mit bis zu zehn Jahren Gefängnis. Hunderte von kurdischen Aktivisten sind in den vergangenen Jahren »verschwunden«, von ihnen fehlt jede Spur. Um die Bevölkerung in dieser Region besser zu kontrollieren, hat das Regime 300 000 Menschen die Pässe entzogen – ihnen werden jegliche Rechte verweigert. Assad widerrief diese Maßnahme zwar im April vergangenen Jahres offiziell, doch sind seitdem nur wenige Tausend Kurden »eingebürgert« worden.
Mit dem Ziel, die eigene Kultur wieder zu beleben und sie vor der staatlichen Repression zu schützen, haben kurdische Organisationen in der gesamten Region kulturelle Zentren eröffnet. Um das kleine Dorf Bestasos zu erreichen, das etwa eine halbe Stunde Autofahrt von Qamishlo entfernt ist, muss man über den holprigen Weg fahren, der noch aus der französischen Kolonialzeit stammt. In Bestasos wird die Eröffnung eines kurdischen Kulturzentrums gefeiert. »Das Zentrum ist vor allem für die Kocher wichtig«, erzählt Ibrahim Feke, ein Dorfbewohner. »Die Kocher sind eine nomadische kurdische Gruppe, die unter dem Regime von Assad dazu gezwungen wurde, in dieser Region sesshaft zu werden und ihren Lebensstil aufzugeben. Wir versuchen, diese alte Kultur zu erhalten und sie vor dem Aussterben zu bewahren.«

Um für die »Dritte Position« zu werben, organisierte die Tev-Dem, als die Revolte begann, friedliche Demonstrationen in den kurdischen Städten. Gleichzeitig wurden staatliche Parallelstrukturen aufgebaut, wie etwa die Verteidigungskräfte der People’s Protection Union (YPG). Man will nicht von der Free Syrian Army (FSA) abhängig sein, aber gleichzeitig herrscht großes Misstrauen gegenüber der islamischen und übrigen arabischen Opposition. »Natürlich sind wir nicht gegen den bewaffneten Aufstand der FSA«, sagt Aldar Xelil von der Tev-Dem, »aber wir befürchten, dass deren politische Ziele von der Türkei beeinflusst werden und dass sie ihre Interessen am Ende gegen die unserer Bevölkerung durchsetzen.«

Der Zwischenfall während des Treffens des Syrischen Nationalrates (SNC) in Kairo scheint diese Vermutung zu bestätigen. Wieder einmal verweigerte der SNC jegliche Sonderrechte oder Entschädigungen für die Kurden in der Post-Assad-Zeit. Die kurdische Delegation verließ das Treffen in Rage. Während das Massakrieren in Damaskus und Aleppo weitergeht, bereiten sich die kurdischen Organisationen auf die Übernahme staatlicher Aufgaben in ihren Siedlungsgebieten vor.
Angefangen wurde mit Kobani, dann übernahmen die Kurden eine Stadt nach der anderen und installierten dort eigene Regierungen, nachdem sie die politischen Institutionen, die dem Regime unterstanden, entmachtet hatten. »Die Aktion war seit mindestens anderthalb Jahren geplant«, sagt Ehemed Sexo, einer der zwei jüngst gewählten Vorsitzenden des Stadtrates von Kobani. »Aufgrund dieser langen Vorbereitungszeit ist es uns gelungen, die Stadt ohne Blutvergießen zu übernehmen. Kein einziger syrischer Soldat wurde getötet, sie haben sich alle ergeben.« Die Soldaten mussten lediglich ihre Uniformen und die Waffen abgeben, dann seien sie nach Hause geschickt worden. Wenn dies wegen der Kämpfe in den anderen syrischen Städten nicht möglich war, seien die Soldaten in den verlassenen Gebäuden der syrischen Armee inhaftiert worden.
Nachdem die syrischen Soldaten die Stadt verlassen hatten, wurden sofort die Außengrenzen befestigt. An allen größeren Checkpoints auf der Straße wurden kurdische Fahnen gehisst, dort kontrollieren bewaffnete Kämpfer jedes einzelne Auto, das in die Stadt fährt. »Wir wollen verhindern, dass Mitglieder der FSA, aber auch Spione des Regimes, in die Stadt fahren«, sagt ein vermummter Kämpfer, der stolz seine gerade erworbene Waffe präsentiert. Viele Waffen werden aus dem Nordirak ins Land geschmuggelt, andere werden auf dem Schwarzmarkt gekauft oder von der syrischen Armee und der Polizei konfisziert.
Im Stadtzentrum von Kobani scheint das Leben wie gewöhnlich weiterzugehen. Man sieht Kinder, die auf der Straße spielen, die Läden sind geöffnet und abends nach Sonnenuntergang versammeln sich die Dorfbewohnerinnen und -bewohner zum gemeinsamen Essen, wie die Tradition während des Fastenmonats Ramadan es verlangt. Es herrscht allerdings großes Misstrauen gegenüber Fremden. »Wir wissen, dass der Krieg in unsere Region kommen kann, vor allem, wenn die neue Führung in Syrien uns Rechte wie Religionsfreiheit und Säkularismus nicht garantiert«, sagt eine ältere arabische Christin, die behauptet, sich jetzt ähnlich unsicher zu fühlen, wie vor dem Krieg: »Die Bewohner von Kobani kämpfen seit 1990 gegen das Assad-Regime für die Rechte unserer kurdischen Nachbarn. Wir werden jetzt nicht aufgeben.«
Allein in Kobani zählt man bereits 250 »Märtyrer«. Viele von ihnen hatten sich der PKK im Nahen Osten angeschlossen, viele andere sind wegen ihrer politischen Aktivitäten in den syrischen Gefängnissen gestorben. Nach Angaben von Einwohnern ist es vor allem die Solidarität in der Bevölkerung – zu der Christen, Armenier, Turkmenen und mehrere nomadische Gruppen gehören – welche die Stadt in dieser schwierigen Zeit zusammenhält.
Aber nicht alles lief in den vergangenen Wochen so friedlich, wie man es sich hier gewünscht hatte. Die Stadt Derik, die im Nordosten des Landes liegt und von wichtigen Ölfeldern umgeben ist, war umkämpft. Rund 30 syrische Soldaten hatten sich im Hauptquartier des Militärs versteckt und hielten die Stadt unter Beschuss. Die Kämpfe dauerten mehrere Stunden, viele AK47-Patronen wurden in den schmalen Gassen der Stadt abgefeuert.
Die Stadtbewohner schauten in Angst zu, wie der Kampf eskalierte, und unterstützten gleichzeitig die kurdischen Kämpfer, zumindest, bis die ersten Kugeln die Häuser der Zivilbevölkerung trafen. Die YPG begann dann, die Straßen zu säubern und Verkehrskontrollen durchzuführen, um zu vermeiden, dass Zivilisten mitten ins Gefecht fahren. Die syrischen Soldaten ergaben sich erst, als die kurdischen Kämpfer Bazookas und Maschinengewehre einsetzten.
Den kurdischen Kämpfern gelang es auch, einen Teil der Ölfelder rund um die Stadt unter Kontrolle zu bringen. Die Tev-Dem konnte die rund 16 Kilometer südlich von Derik gelegene Stadt Swedy befreien, die Gas in großen Mengen liefert.

Trotz dieser Erfolge bleibt die Lage in der Region angespannt. Die Stadt Ramelan, 28 Kilometer westlich von Derik, befindet sich noch in den Händen des Regimes, das dorthin Verstärkung mit Panzern und zwei Helikoptern geschickt hat. Die arabische Stadt, die 1963 gegründet wurde, nachdem dort Ölquellen entdeckt worden waren, ist strategisch sehr wichtig für das Regime.
Einige Beobachter vermuten, die schnellen Siege der Kurden seien das Ergebnis einer Absprache Assads mit der PKK (Jungle World 15/2012). Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass Assad die Ölfelder, die er benötigt, um den Krieg im Westen des Landes zu finanzieren, aufgeben wird. Sämtliche Gebiete des Landes aber kann das Regime nicht mehr halten, taktische Rückzüge sind erforderlich, um die Truppen konzentriert einsetzen zu können. Die kurdischen Kämpfer sind ihrerseits damit beschäftigt, ihre Städte zu befestigen und dort funktionsfähige Regierungen zu installieren. Einen Kampf um die Kontrolle über diese Ölfelder zu beginnen, würde bedeuten, einen umfassenden Krieg gegen das Regime zu führen, was der Strategie der Tev-Dem widerspräche, die Tötungen von Zivilisten in den kurdischen Regionen vermeiden will.
Die kurdische Bevölkerung in Syrien hofft nun auf die Unterstützung kurdischer Organisationen in den Nachbarländern. So gab es eine Annährung zwischen der PKK und dem Präsidenten der Autonomen Kurdischen Regierung im Irak, Massoud Barzani. Darüber hinaus scheinen sowohl die pro-kurdische Partei BDP aus der Türkei, als auch konservativere Parteien in Syrien die Strategie der Tev-Dem und der YPG zu unterstützen.
Während das Leben in den befreiten Städten Derik, Kobani und Girke Lege weitergeht und an jeder Ecke und in jedem Teehaus über die Möglichkeit einer kurdischen Autonomie diskutiert wird, werden schon bald wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen. Angesichts arabisch-nationalistischer und islamistischer Tendenzen unter den syrischen Aufständischen und der Interessen der Türkei, die kaum etwas mehr fürchtet, als eine weitere autonome kurdische Region direkt an ihren Grenzen, aber gleichzeitig das Assad-Regime bekämpfen will, sieht die Zukunft für die syrischen Kurden nicht rosig aus.
Wenn die Islamisierung der FSA weitergeht und eine neue Regierung in der Zeit nach dem Sturz Assads sich der Muslimbruderschaft annähert, werden die kurdischen Milizen erneut für ihre Freiheit kämpfen müssen. Auch der Kampf um die Kontrolle der Ölfelder könnte zu einer ähnlichen Situation wie im Nordirak führen, wo die Kämpfe zwischen Bagdad und Erbil um die Ölstädte Kirkuk und Mosul andauern. Aber die größte Gefahr bleibt die »Libysierung« Syriens, eine Konstellation nämlich, in der verschiedene religiöse und ethnische Gruppen um die Macht kämpfen und die Milizen sich weigern, die Waffen abzugeben.