Free-Jazz-Festival in Österreich

Landluft macht Free Jazz

Das Festival »Konfrontationen« im österreichischen Nickelsdorf ist eines der wichtigen Foren für improvisierte, zeitgenössische und neue Musik.

´Die Gemeinde Nickelsdorf im österreichischen Burgenland liegt keine tausend Schritte von der österreichisch-ungarischen Grenze entfernt. Stacheldraht trennte hier früher Ost und West voneinander. Auf der anderen Seite der Grenze regieren heute wieder die Faschisten mit, Minderheiten müssen um ihre Existenz fürchten. Ausgerechnet hier, in der 1 600-Einwohner-Gemeinde Nickelsdorf, findet sich seit 32 Jahren eine eingeschworene Gemeinschaft zusammen, die den Gedanken der Freiheit in der Musik hochhält.
»Konfrontationen« heißt das »Festival for free and improvised music«, das vom 19. bis zum 22. Juli bereits zum 33. Mal stattgefunden hat. Nicht nur musikalische Grenzen sind während der vier Tage aufgehoben: Das Festival ist eine internationale, im besten Fall sogar antinationale Veranstaltung. »Mir geht es immer darum, die Menschen zusammenzuführen, um etwas Neues entstehen zu lassen«, sagt Hans Falb, Festivalgründer und künstlerischer Leiter der »Konfrontationen«. Auf dem Festival geht es familiär zu, Falb hört sich jedes Konzert an und kümmert sich persönlich um jeden einzelnen Musiker. Wer einmal in Nickelsdorf war, kommt immer wieder – seit 15, 20, 30 Jahren. Egal, ob als Musiker oder Fan.
Das Publikum kommt aus Rumänien, Belgien, Skandinavien und den USA. Musiker, die zum ersten Mal in Nickelsdorf auftreten, werden für die gesamte Festivalzeit eingeladen, auf Kosten der Veranstalter. »Sie sollen sehen, wie das Festival funktioniert«, sagt Falb.
Manchen gefällt es hier so gut, dass sie bleiben wollen. Der Pianist Georg Gräwe, der Schlagzeuger Paul Lovens und der schwedische Saxophonist Mats Gustafsson haben oder hatten ihren Wohnsitz vorübergehend und zum Teil komplett in die Gemeinde verlegt. »Wenn es um Musik geht, dann ist Nickelsdorf mein Lieblingsplatz in Europa«, sagt Gustafsson. Nirgendwo seien Besucher und Musiker so entspannt wie hier.
Gemeinsam mit der Sängerin Neneh Cherry und seinem Powerjazztrio The Thing lieferte Gustafsson den wohl publikumswirksamsten Auftritt des Festivals. Die Formation avancierte in den vergangenen Wochen zum Liebling des Feuilletons. Der Gasthof, in dem das Festival stattfindet, war am Samstagabend entsprechend voll, das Publikum begeistert. Dabei kommt die Dekonstruktion von Songs wie »Dream Baby Dream« von Suicide oder »Dirt« von The Stooges vergleichsweise konventionell daher, zumindest wenn man das übrige Programm als Maßstab nimmt. Free-Attacken im Punk-Gewand treffen auf die vielleicht etwas zu sanfte Stimme von Neneh Cherry. Free Jazz mit Tendenz zum Pop, vor 15 Jahren wären die Musiker dafür vermutlich ausgebuht worden. Doch Grooves und Melodien werden heute nicht mehr als Relikte einer längst vergangenen Epoche wahrgenommen, sondern sind Bestandteil der freien Improvisation mit all ihren Schattierungen.
Das zeigt auch die Formation A Trio aus Beirut. Trompeter Mazen Kerbaj nutzt alle möglichen Techniken, er spielt mit und ohne Mundstück, manchmal bläst er durch einen Luftballon, legt Plastikbecher in den Trichter und schlägt auf sein Instrument ein. Unterstützt wird er dabei von Sharif Sehnaoui, der hauptsächlich die Holzkanten seines Kontrabasses mit dem Bogen bearbeitet und einen hypnotisierenden Drone­sound erzeugt, und dem Gitarristen Raed Yassin, der seine akustische Gitarre als Perkussionsinstrument benutzt. Ähnliches haben Musiker wie Fred Frith oder Keith Rowe zwar schon in den siebziger Jahren gemacht, das Trio erzeugt aber eine selten gehörte klangliche Homogenität.
Seit 2001 veranstalten die Musiker in Beirut jährlich das Irtijal-Festival für improvisierte Musik. Staatliche Unterstützung gibt es dafür nicht. »Wir sind immer wieder überrascht, wie viele Leute zu diesen Konzerten kommen und wie offen sie sind«, sagt Mazen Kerbaj. Das Festival in Nickelsdorf diente ihnen als Vorbild. »Die Menschen in Beirut glauben, dass wir die Musik neu erfunden haben, weil sie so etwas noch nie gehört haben. Wenn ich dann sage, dass es so etwas in einem kleinen Dorf an der österreichisch-ungarischen Grenze schon seit vielen Jahren gibt, sind sie enttäuscht.«
Der Pianist Georg Gräwe beschreibt die Stimmung auf dem Festival in einem Beitrag in dem Buch »Tell No Lies – Claim No Easy Victories«, das zum 30jährigen Jubiläum der »Konfrontationen« erschienen ist. Beim Frühstück, so Gräwe, »traf ich auf meinen Freund Melvyn Poore, der mich dem Posaunisten Paul Rutherford vorstellte, den ich vorher nie persönlich getroffen hatte. Es war so gegen Mittag und nach schnellen Ham and Eggs stand der erste Spritzer vor mir. Ich hatte eine sehr anregende Unterhaltung mit Ru­therford, an deren Inhalt ich mich aber kaum noch erinnere, nicht zuletzt weil die Getränke in schneller Folge erneuert wurden. Irgendwann musste ich auf die Bühne und ich war total betrunken. Ich glaube, es hat niemand gemerkt – vielleicht hat die Landluft mir geholfen.«
Bei seinem diesjährigen Auftritt war Gräwe laut eigenen Angaben nüchtern. Gemeinsam mit John Butcher am Saxophon und Mark Sanders am Schlagzeug lieferte er eines der besten Konzerte des Festivals. »Nickelsdorf ist ein Heimspiel«, sagt Gräwe, der hier mehrere Jahre gelebt hat und mittlerweile in Wien wohnt.
1976 übernahm der damals 22jährige Hans Falb den elterlichen Gastronomiebetrieb an der Unteren Hauptstraße – früher eine der wichtigsten Verbindungen im deutsch-österreichischen Grenzverkehr. Doch seit dem Bau der neuen Autobahn machen die Reisenden einen Bogen um Nickelsdorf. Darunter hatte auch der Gasthof und die von Falb eingerichtete »Jazzgalerie« zu leiden. Machten die Autofahrer früher vor der Grenze noch kurz Rast, um sich zu stärken, fahren sie heute vorbei. Die Einnahmen fehlen.
Anfang 2008 musste die »Jazzgalerie« Konkurs anmelden und vorübergehend den Betrieb einstellen. 2004 hatten Bund und Land die ohnehin geringen Zuschüsse komplett gestrichen. Hinzu kam, dass die Gema rückwirkend jede Menge Geld verlangte. 40 000 Euro fehlten. Hans Falb verlor seinen gesamten Besitz. Doch er konnte sich auf seinen Freundeskreis verlassen. In Amsterdam und Berlin, in Köln und Wien gab es Solidaritätskonzerte, deren Einnahmen komplett nach Nickelsdorf flossen, damit Falb das Gasthaus aus der Konkursmasse zurückkaufen konnte. Im Sommer 2008 konnten die »29. Konfrontationen« stattfinden. Mittlerweile auch wieder mit öffentlicher Förderung.
Die finanziellen Angelegenheiten regelt der Verein »Jazzgalerie Nickelsdorf/Impro 2000«. Falb kümmert sich nur noch um die Musik. »Hans kennt sich in finanziellen Dingen nicht besonders gut aus«, sagt der befreundete US-amerikanische Musiker Bob Ostertag und korrigiert sich gleich wieder: »Vielleicht ja doch«. Das Festival würde vermutlich in der jetzigen Form nicht mehr existieren, wenn er sich um den kommerziellen Aspekt der Musik Gedanken gemacht hätte, es hätte sich ziemlich sicher ähnlich weit von seinen Anfängen entfernt wie die Festivals in Saalfelden oder in Moers. Dort kommen jährlich mehrere tausend Menschen zusammen, um Stars wie Herbie Hancock oder Ornette Coleman zu sehen.
Um neue, unbekannte Musiker zu entdecken, trampt Falb durch halb Europa und besucht viele kleine Festivals. Beim »Albert Ayler«-Festival auf Sardinien vor zwei Jahren hat er als Aufräumer gearbeitet und sich so den Aufenthalt dort verdient. »Ich höre viel Musik und weiß so immer, was auf der Welt passiert«, sagt Falb, der sein Programm für die kommenden Jahre immer mit sich herumträgt.
Die Qualität der Festivals in Österreich ist beachtlich: Wels, Ulrichsberg, St. Johann – die Liste ließe sich fortsetzen. Aber warum ist das so? »Wir sind unabhängig geblieben«, sagt Falb. Die Politik hält sich raus. Auch die Rechten ignorieren das Festival mittlerweile. »Die wissen vermutlich gar nicht, dass es uns überhaupt noch gibt«, sagt er. Und auch die öffentlich-rechtlichen Sender haben keinen Einfluss auf das Programm. Glücklicherweise konnte das Festival bislang auf die Unterstützung des SWR bauen. Reinhard Kager, beim Sender bis vor kurzem verantwortlicher Redakteur für den Jazz, kam vor allem als Fan. Der SWR mietete eigens einen Übertragungswagen vom ORF, um die Konzerte am Samstag und Sonntag aufzuzeichnen. Ob Kagers Nachfolger auch ins Burgenland reisen werden, ist unsicher, aber vermutlich auch egal: Nickelsdorf wird weiter auf Konfrontationskurs gehen.