Die fragwürdige Bewunderung der Linken für Rocker

No Sons of Anarchy

Lebe wild und gefährlich, empfehlen sich Linke gegenseitig gerne. Kein Wunder, dass auch sie dem Rockercharme von Freiheit und Gesetzlosigkeit zuweilen erliegen.
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Er sieht aus wie ein rasierter Teddybär. Kumpelhaft legt er seine Pranke auf meine Schulter und grinst mir ins Gesicht: »Hey, Digga! Wir müssen mal kurz miteinander reden.« Wenn Typen so aussehen, als ob sie bei McFit wohnen und auf der Sonnenbank schlafen, dann entwickele ich in der Regel kein großes Bedürfnis, ein Gespräch anzufangen. Wenn dann noch »Hells Angels« auf ihrem T-Shirt steht, erst recht nicht.
Nur einen Steinwurf entfernt beginnt gerade, es ist Ende April in Berlin, eine linke Demons­tration gegen Gentrifizierung. Unter dem Motto »Nimm, was Dir zusteht« geht es durch den alten Arbeiterbezirk Wedding. Vor dem »Café Harlem«, an dem die Demo vorbeiziehen soll, haben sich etwa 30 Mitglieder der Hells Angels mit ihren Unterstützern aufgestellt. »Du, guck mal«, bittet mich der Hells-Angely-Teddy und deutet auf das »ACAB«-Tattoo in Frakturschrift auf seinem Unterarm. Er erklärt: »All cops are bastards, Alter! Ich hasse die Bullen, ihr hasst die Bullen, wir alle hier hassen die Bullen. Aber der Laden hier war sehr teuer, ist zwar echt toll geworden – aber hat uns viel Geld gekostet. Wäre echt schade, wenn hier irgendwer einen Pflasterstein reinwirft. Ich glaube, wenn heute der Laden kaputtgeht, dann wäre ich echt sauer. Dann hätten wir ein Problem.«
Dass mir in diesem Jahr ein Mitglied der Hells Angels statt eines Zivilfahnders der Berliner Polizei eine sogenannte »Gefährderansprache« hält, ist zwar kurios, aber trotzdem nicht zum Lachen. Zur Selbstinszenierung der »Outlaw Motorcycle Gangs« (OMCGs) gehört es, als sichtbare »Macht im Kiez« aufzutreten. Wie Straßengangs beanspruchen sie Territorien für sich. Dass die Typen, die vor der Weddinger Shisha-Bar herumlungern, keine zotteligen AC/DC-Fans auf knatternden Harley-Davidsons sind, sondern junge Männer, die BMW fahren, HipHop hören und oft aus türkischen und libanesischen Familien stammen, macht die pauschale Bezeichnung als Rocker fragwürdig. In den vergangenen Jahren haben die Hells Angels und insbesondere die Bandidos viele neue Mitglieder rekrutiert, die nur wenig Interesse an der klassischen Rockerkultur haben.

Die Rocker entstanden als proletarisch-antibürgerliche Subkultur Anfang der fünfziger Jahre in den USA. Ihr zentrales Stilelement war immer das Motorrad, das für sie die Rolle eines Kultgegenstands einnimmt. Gemeinsames Motorradfahren wurde zum Ausdruck eines wilden und gefährlichen Lebensstils geadelt. Mit viel Cowboyromantik bedienten sie die Sehnsüchte nach Abenteuern, Gemeinschaft und der Freiheit, die wohl auf dem Highway zu finden sei. Einer Reihe von ehemaligen Soldaten, die Probleme hatten, sich wieder im zivilen Leben zurechtzufinden, kam in der Gründungsphase der Szene eine besondere Rolle zu. Sie etablierten einen Ehrenkodex, der vor allem auf den militärischen Werten Kameradschaft, Loyalität, Disziplin und Härte beruht.
Die Selbststilisierung als Gesetzlose, die sich niemandem Unterwerfen, ging mit einer Verachtung des bürgerlichen Staates einher, die völlig ohne theoretische Grundlage auskommt. Jede staatliche Reglementierung, egal ob Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Einschränkungen im Waffenrecht, wird als Angriff auf die persönliche Freiheit begriffen. Doch entgegen dem Ideal der individuellen Freiheit organisiert sich die Rockerszene in hierarchischen und männerbündischen Strukturen. Wie bei solchen patriarchalen Bünden üblich, besteht eine starke Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe, die intern von einer klaren Rangordnung geprägt ist. An ihrer Spitze steht der jeweilige Clubpräsident als älterer Übervater. Alles was als unmännlich und schwach begriffen wird, ist ihnen suspekt. Frauen können daher nur in untergeordneten, geschlechtsspezifischen Rollen am Rockerleben teilhaben. Sie sind Freundinnen, Ehefrauen, Töchter oder Huren – niemals aber vollwertige Clubmitglieder. Entsprechend bezeichnen sich viele Rockerclubs wie zum Beispiel die Hells Angels selbst als Bruderschaften.
Die Hells Angels und Bandidos sind dabei nur die größten und bekanntesten der »Outlaw Motorcycle Gangs«. Während viele Rockerclubs tatsächlich motorradverliebte Trachtenvereine mit gelegentlichen Herrenabenden sind, geht es den OMCGs vor allem ums Geschäft. In Deutschland, den Benelux-Staaten und Skandinavien sind solche Rocker sehr bedeutende Akteure im Bereich der organisierten Kriminalität. Dabei geht es um Schutzgelderpressung, Drogen- und Frauenhandel und Prostitution.
Da die organisierte Kriminalität in Deutschland, jenseits der Wirtschaftverbrechen, stark ethnisch aufgeladen ist, erfüllen die OMCGs heute eine besondere Funktion. Die meisten erfolgreichen Geschäftsstrukturen in der organisierten Kriminalität werden von einem engen Netzwerk aus Familienclans getragen. Familien, wie die ita­lienischen Mafiaorganisationen oder die kurdisch-libanesischen Mhallamiye-Clans, halten zusammen und sind abgeschottet. Die Hemmschwelle, seinen Vater, Onkel oder Bruder an die Polizei zu verraten, ist in der Regel enorm hoch. Funktionierende transnationale Seilschaften sind zudem wichtig, um illegale Handelswege zu kontrollieren. Familien, die über mehrere Länder verteilt leben, haben also klare Vorteile. Wer, wie die meisten deutschen Gangster, nicht auf große Familienstrukturen zurückgreifen kann, findet in den großen Bruderschaften der OMCGs einen entsprechenden Familienersatz.

Zurück in den Wedding. Als die Demonstration an dem Café mit den 30 grimmig dreinblickenden Klötzen davor vorbeizieht, passiert nichts. Hätten sich dort 30 Burschenschaftler in Uniformen präsentiert, wäre der Abend mit Sicherheit anders verlaufen. Da jede Burschenschaft im Vergleich zur Bruderschaft der Hells Angels nur ein harmloser Trinkerverein ist, stellt sich die Frage, warum die Bewegungslinke eigentlich keine Position zu den Motorradgangs hat. Vielleicht verhindert eine alte sozialrevolutionäre Verklärtheit, die undifferenziert alle Kriminellen zu potentiellen Verbündeten im Klassenkampf ­erklärt, eine entschiedene Ablehnung. Vielleicht ist es auch einfach Feigheit.