War in Oslo ein Jahr nach dem Massaker von Utøya

Weltoffen rassistisch

Ein Jahr nach dem Massaker von Utøya und Oslo gibt sich Norwegen demokratisch und weltoffen. Der Hass auf Roma ist ­jedoch weit verbreitet.

Sogar »The Boss« persönlich trat beim Gedenkkonzert anlässlich des 1. Jahrestages des Bombenattentats von Oslo und der Morde auf Utøya überraschend auf. Zuvor war in norwegischen Medien tagelang spekuliert worden, ob Bruce Springsteen, der im Rahmen seiner Tournee ohnehin vor Ort war, tatsächlich kommen würde. »Für alle unter uns, die Freiheit und Demokratie lieben, war das, was geschehen ist, eine internationale Tragödie«, sagte Springsteen auf der Bühne vor dem Osloer Rathaus, bevor er und Steven Van Zandt »We shall overcome« anstimmten.
Freiheit und Demokratie waren bereits kurz nach Anders Behring Breiviks Taten am 22. Juli 2011 beschworen worden. Ministerpräsident Jens Stoltenberg hatte in einer ersten öffentlichen Reaktion gesagt, dass man dem Terror mit »mehr Offenheit und Demokratie« begegnen wolle. Bis heute sind selbst Politiker anderer Parteien sehr stolz auf diese Rede, die als eine Zusammenfassung skandinavischer Werte gilt. Die Realität sieht jedoch anders aus: Die Sicherheitsvorkehrungen wurden drastisch verstärkt, unter anderem für Stoltenberg, der zuvor nur bei offiziellen Anlässen von Personenschützern begleitet worden war. Heute wird er rund um die Uhr bewacht – was selbst nach dem Mord am schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme in Norwegen nicht in Erwägung gezogen wurde.

Insgesamt sei auf die Anschläge angemessen reagiert worden, findet nicht nur Stoltenberg. Allgemein ist man sehr stolz darauf, dass die Norweger auf den Terror anders geantwortet hätten als die USA nach 9/11 – man habe Hass nicht mit Hass vergolten. Junge Migranten, die als Zuschauer beim Osloer Gedenkkonzert teilnahmen, betonten zudem, dass es nach dem 22. Juli zu keinerlei ausländerfeindlichen Übergriffen gekommen sei und sie sich erstmals wirklich als Teil der Gesellschaft gefühlt hätten. Diese Sicht der Dinge ist jedoch euphemistisch und verkitscht, denn anders als bei 9/11 kam der Terror nicht von außen, sondern von einem gebürtigen Norweger – und damit gab es schlicht kein Ziel für mögliche Vergeltungsaktionen und Hassausbrüche.
Dem kurzfristigen Schock darüber, dass Breivik schon lange vor seinen Taten im Internet nicht nur ungehindert seine Hetze verbreiten konnte, sondern auch von einem zumindest verbal hochaggressiven Netzwerk zahlreicher Fremdenhasser umgeben war, waren ausgiebige Diskussionen über Meinungsfreiheit gefolgt. Die großen Medien des Landes hatten mit der strikten Überwachung und Reglementierung ihrer Kommentarspalten reagiert, Nutzer können seither nicht mehr anonym agieren. Aber während man beim Gedenkkonzert in Oslo die eigene Vorbildlichkeit feierte, zeigte sich nicht nur bei Facebook und anderen Internetmedien, sondern auch im wirk­lichen Leben, dass die vielgepriesenen Grundwerte wie Toleranz und Offenheit doch nicht so tief verankert sind, wie man der Welt glauben machen will.

Einige Wochen zuvor waren rumänische Roma nach Oslo gekommen und hatten nach langem Hin und Her eine vorläufige Bleibe auf dem Gelände einer Kirche gefunden. Im Internet sprachen Norwegerinnen und Norweger ungeniert aus, was sie von den Zuwanderern hielten: »Spült den Dreck ins Meer«, »Untermenschen«, »Ich spuck auf sie«, »Bringt viele kleine Breiviks nach Rumänien und lasst sie alle erschießen«, »Wenn die Polizei machtlos ist, dann muss man das Militär gegen sie einsetzen«, lauteten Kommentare, die unter vollem Namen veröffentlicht wurden.
Dass Norwegen aufgrund der Verträge mit der Europäischen Union dazu verpflichtet ist, EU-Bürger uneingeschränkt aufzunehmen, und daher keinerlei Möglichkeit hat, missliebige Personen auszuweisen, spielte bei den Hassausbrüchen keinerlei Rolle. »Sie könnten arbeiten, aber sie werden dazu erzogen, zu betteln, zu stehlen und ihre Kinder an Pädophile zu verkaufen«, schrieb eine Facebook-Userin namens Anastasia.
Zeitgleich berichtete Natasha Bieleberg, die norwegische Repräsentantin der internationalen Romani Union, von sich häufenden Anfeindungen: »Es beginnt so langsam, einem Kriegszustand zu gleichen.« Zum ersten Mal sei beispielsweise das »Sigøynerfestivalen« angefeindet worden, gleich mehrere Bombendrohungen seien bei den Veranstaltern eingegangen. Maria Rosvoll vom Bildungs- und Forschungszentrum Holocaustsenteret bezeichnete die Situation als »furchteinflößend«, es gebe »deutliche Parallelen dazu, wie in den dreißiger Jahren über Juden und Roma geredet wurde«.
Die ersten Roma kamen in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Norwegen, nachdem es in Rumänien gesetzlich verboten worden war, sie als Sklaven zu halten und zu verkaufen. Während sich die Bauern des Landes zunächst über die Zugereisten freuten, weil sie nicht nur geschickte Metallhandwerker und Pferdekenner waren, sondern auch mit Musik und Tanz Abwechslung in den langweiligen Dorfalltag brachten, reagierte die Politik feindselig. Neue Gesetze erlaubten die Zwangnorwegisierung reisender Gruppen, 1 500 Rom-Kinder wurden ihren Eltern weggenommen und von einheimischen Familien adoptiert. 1930 verließen die meisten Roma das Land und zogen nach Deutschland und Frankreich. Drei Jahre zuvor war ein Gesetz erlassen worden, dass als »sigøynerparagraf« bekannt wurde. Es verbot sogenannten staatenlosen Bürgern die Einreise nach Norwegen und sollte Juden und Roma treffen, wurde de facto aber nur gegen Roma angewandt. Als 68 norwegische Roma 1934 aus Furcht vor dem Naziterror wieder zurückkehren wollten, obwohl ihnen mittlerweile aufgrund eines Gesetzes Zwangssterilisation drohte, wurden sie nicht ins Land gelassen – alle verfügten über norwegische Pässe. 56 dieser Roma wurden später in Auschwitz ermordet. Zwölf überlebten, einer von ihnen war Milos Karoli, der in seiner Biographie »En for hverandere« (Einer für den anderen) später darüber berichtete, wie er bei seiner Rückkehr 1953 empfangen worden war: Der norwegische Staatsbürger wurde umgehend von der Polizei ausgewiesen, erst drei Jahre später hob das Parlament den »sigøynerparagraf« auf. Die ihnen eigentlich zustehenden Kriegspensionen und Haftentschädigungen erhielten Karoli und die anderen überlebenden Roma erst 1971 – bis dahin hatte die offizielle Begründung gelautet, sie seien während ihrer KZ-Haft keine Norweger gewesen.

Der Hass ist allerdings geblieben: 55 Prozent der Norwegerinnen und Norweger wollen einer Umfrage zufolge keine Roma als Nachbarn haben, 40 Prozent würden nicht wollen, dass jemand aus dem Freundeskreis Roma mitbringt. »Es gibt einen latenten Antiziganismus, und der bricht bei Anlässen wie jetzt, wenn Roma nach Oslo kommen, eben aus«, sagt Rosvoll.
Etwas Unrechtsbewusstsein scheinen diejenigen, die im Internet gegen Roma hetzten, zu haben. Die Tageszeitung Aftenposten versuchte einige dieser Personen zu interviewen, aber niemand wollte zu seinen öffentlichen Äußerungen stehen. Lediglich die Frau, die erklärt hatte, Roma würden davon leben, ihre Kinder an Pädophile zu verkaufen, fand sich zu einem Gespräch bereit – allerdings nicht unter ihrem richtigen Namen. »Man schreibt ja insgesamt so viele selt­same Sachen«, sagte sie, »aber so weit stehe ich dazu.« Über ihre konkreten Anschuldigungen könne man »ja vielleicht diskutieren, also über das, was ich da geschrieben habe«. Rosvoll sieht jedoch die Hauptschuld für den Hass bei Politikern (als Maßnahme gegen Roma wird immer noch ein allgemeines Bettelverbot diskutiert) und Journalisten. Breivik darf in seiner Zelle übrigens Zeitungen lesen. Er wird sich über die Berichte vom ungebremsten Hass auf die Roma gefreut haben.