Kristina Hille und Mariano Aiello im Gespräch über Rassismus gegen Indigene in Argentinien

»Der ›gute Wilde‹ hat den ›bösen Wilden‹ abgelöst«

Der argentinische Dokumentarfilm »Awka Liwen« (Aufstand im Morgengrauen) erzählt die Geschichte des Rassismus gegen die indigene Bevölkerung seit dem 19. Jahrhundert. Ein Gespräch mit den Filmemachern Kristina Hille und Mariano Aiello

Die argentinische Regierung unter Cristina Fernández de Kirchner profiliert sich mit der Verteidigung der Menschenrechte. Erst kürzlich wurden der ehemalige General und Diktator Jorge Rafael Videla und andere ehemalige Militärs, die in die Verbrechen während der Diktatur verstrickt waren, zu Freiheitsstrafen verurteilt. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht vor einigen Jahren die Amnestiegesetze abgeschafft worden wären. Welche Haltung vertritt die Regierung im Bezug auf die Rechte der indigenen Bevölkerung Argentiniens?
Mariano Aiello: Es wurden einige Gesetze erlassen, in deren Rahmen ein langsamer Prozess vorangetrieben werden kann, der die Wiederherstellung der Rechte der Indigenen und die Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit ermöglichen könnte. Ich denke, dieser Prozess steht noch am Anfang. Von der Regierung wird er zwar durch verschiedene Maßnahmen unterstützt, aber nicht gerade zielstrebig vorangetrieben. Immerhin tun sie überhaupt etwas. Die Regierung betreibt eine Politik des Ausgleichs. Sie sucht nach gangbaren Wegen im Rahmen des Bestehenden. Neue Wege geht sie nicht. Wichtig ist, dass die Regierung bestimmte Dinge unterlässt: Sie unterdrückt die Proteste der Indigenen nicht. Die Provinzregierungen, unter ihnen auch viele Gouverneure, die mit dem Kirchnerismus verbunden sind, unterdrücken die Proteste sehr wohl. Es gibt Konflikte um Land, das der Agrarsektor benötigt, um zum Beispiel Soja anzubauen. Ähnliche Konflikte gibt es im Tagebau. Aber wenn mehr Land benötigt wird, um mehr Soja anbauen zu können, stellt sich zunächst einmal die Frage, ob die Menschen, die dort leben, vertrieben werden, oder ob sie in einen Prozess kapitalistischer Entwicklung eingebunden werden. Die Zentralregierung hat sich für Letzteres entschieden, allerdings ohne das Modell Argentiniens als Soja-Exportnation in Frage zu stellen. Sie beschränkt sich darauf, die negativen Auswirkungen auf die indigenen Gemeinden zu mildern und diese einzubinden.
Kristina Hille: Sie wollen auf keinen Fall, dass die Landverteilung im Kontext der traditionellen Eigentumsansprüche der Indigenen thematisiert wird, denn dies wäre eine sehr grundsätzliche Debatte.
Wie stark ist die indigene Bewegung in Argentinien im Vergleich mit den Bewegungen in anderen Ländern?
Aiello: In Guatemala oder auch in Chile sind sie viel besser organisiert als in Argentinien. Der Organisationsprozess in Argentinien vollzieht sich langsamer. Ein wichtiger Unterschied ist auch, dass der Anteil der Mestizen an der Bevölkerung in Argentinien wesentlich größer ist als in den anderen Ländern. Es gibt vergleichsweise wenige Indigene, die noch ihre ursprüngliche Lebensweise kultivieren. In Argentinien hat ein massiver Prozess der Zerstörung der indigenen Kulturen stattgefunden. Aber ich bin auch sehr kritisch gegenüber Stimmen, die fordern: »Jetzt müssen alle wieder diese oder jene Sprache erlernen, denn vor 500 Jahren haben sie dieselbe Sprache gesprochen.« Diese Kul­tur­archäologie gefällt mir nicht. In Argentinien sind die Indigenen zwar schlechter organisiert, aber die Kämpfe finden auch stärker in der ökonomischen als in der kulturellen Sphäre statt. In einigen Teilen des Landes gibt es zwar organisierte indigene Communities, deren Engagment sehr wirkungsvoll ist, aber in anderen Landesteilen gibt es dies nicht, und vielleicht möchten sie dies dort auch gar nicht. Es gibt viele Kooperativen in Gegenden, in denen die ethnische Herkunft keine herausragende Rolle spielt. Ähnliches gilt für die Gewerkschaften. Das Ethnische wird dort überwunden, aber nicht, um die daraus resultierenden Probleme zu ­negieren.
Meine Vorfahren sind vor 200 Jahren aus ­einem europäischen Land nach Argentinien gekommen. Meine Bräuche sind aber nicht mehr die meiner Vorfahren, sie sind argentinisch. Sie haben noch Aspekte der Bräuche meiner Vorfahren, haben aber auch zum Beispiel Anteile der indigenen Kultur. Es handelt sich um ein Mosaik. Deswegen erscheint mir die Idee, eine Ethnizität zu erzwingen, als nicht sinnvoll.
Hat sich die Darstellung der Indigenen in der Literatur und im Film im Laufe der Geschichte gewandelt?
Aiello: In der Literatur und im Film wird heute eher ein Bild im Sinne Rousseaus vermittelt. Der »gute Wilde« hat den »bösen Wilden« abgelöst, wie er noch im 19. Jahrhundert, zum Beispiel in dem berühmten Essay »Barbarei und Zivilisation« von Domingo Faustino Sarmiento, beschrieben wird.
Hille: Ich habe eine Freundin in Nordamerika, die in ihrem Umfeld die einzige Afroamerikanerin unter lauter Weißen ist. Sie wird schlicht »die Schwarze« gerufen. Etwas Vergleichbares erleben wir im Moment in einigen argentinischen Filmen. In dem Film »Auszeit in Patagonien« von Pablo Trapero gibt es eine indigene ­Figur, die nur über ihre ethnische Herkunft bestimmt wird. Alle anderen haben einen Namen, nur er nicht.
Aiello: Das ist eine typischen Konstellation im argentinischen Kino. In diesem Film gibt es eine Familie aus der Mittelklasse mit einem uniformierten Dienstmädchen. Diese klassizistische Kultur ist typisch in Argentinien. Ein Dienstmädchen ist ein Statussymbol. Im Film wird das nicht in Frage gestellt, er ist unkritisch. Es wäre sehr einfach gewesen, an dieser Stelle eine Kritik zu formulieren. Auch wenn mir das argentinische Kino gefällt, ist es doch ein Produkt der Diktatur, die das kritische Denken eliminiert hat. Wir Argentinier schätzen die Ästhetik, aber wir folgen immer noch einem absolut konservativen Diskurs in Bezug auf das Inhaltliche.
In Ihrem Film »Awka Liwen« (Aufstand im Morgengrauen), den Sie gemeinsam mit Osvaldo Bayer gedreht haben, zeigen Sie Aufnahmen von José Martínez de Hoz, dem Gründer der wichtigsten Organisation der argen­tinischen Großgrundbesitzer, und von José Alfredo Martínez de Hoz, der Wirtschaftsminister während der letzten Militärdiktatur war. Die Familie Martínez de Hoz geht juristisch gegen den Film vor, weil er angeblich ihr Ansehen beschmutzt.
Aiello: Interessant ist, dass sie nicht alle, die an der Produktion des Films beteiligt waren, verklagt haben. Betroffen sind Osvaldo Bayer, ­Felipe Pigna (ein Historiker, der im Film zu Wort kommt; d. Red.) und ich. Felipe Pigna ist weder Autor noch Regisseur des Films. Warum haben sie nicht auch Kristina Hille verklagt? Weil sie wissen, dass sie sich nicht mit einer deutschen Staatsangehörigen anlegen sollten, sonst könnte die deutsche Botschaft oder der europäische Menschengerichtshof hinzugezogen werden.
Ist es richtig, dass Sie Strafe zahlen, wenn Sie den Film zeigen?
Aiello: Die Familie will eine einstweilige Verfügung gegen uns erwirken, ist damit aber bislang nicht durchgekommen. Der Film soll verboten werden, bis wir alle Bezüge zur Familie Martínez de Hoz herausgeschnitten haben. Wir haben dies nicht getan, sondern eine Kundgebung vor dem Gericht organisiert. Viele Politiker und Gewerkschafter haben sich mit uns solidarisiert. Das war im Oktober 2011. Die Familie verlangt von uns 180 000 Euro Schadenersatz wegen angeblicher Rufschädigung durch die Filmpräsentation.
Hille: Alles, was wir erzählen, ist passiert. José Alfredo Martínez de Hoz war Mittäter bei der Ermordung von 30 000 Menschen während der Militärdiktatur.
Die umstrittenen Aufnahmen stammen aus dem Nationalarchiv und wurden dem Archiv mit Zustimmung der Familie überlassen.
Aiello: Sie haben die Aufnahmen an das Archiv verkauft.
Hille: Die gesamte Öffentlichkeit kann die Aufnahmen nutzen.
Wie wurde der Film in der Öffentlichkeit aufgenommen?
Hille: Der Film hat in Argentinien eine heftige Debatte ausgelöst. Wir hatten das auch erwartete, waren allerdings überrascht über das Ausmaß der Diskussion. Die Angriffe der Familie Martínez de Hoz haben diese noch angeheizt. Sie haben damit bislang genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie eigentlich erreichen wollten. Der Film wurde von der Regierung und der Abgeordnetenkammer zu einem Dokument von »nationalem Interesse« erklärt. Das zeigt auch, dass die Regierung nichts mit den juris­tischen Maßnahmen gegen uns zu tun hat. Es sind Kreise, die gegen die Regierung und ihre progressive Menschenrechtspolitik arbeiten. Es ist die extreme Rechte, die in Argentinien keine Partei hat und die ihre Interessen traditionell mit Hilfe von Militärdiktaturen durchsetzt.
Interview: María Porciel Crosa und ­Florian Wagener
Awka Liwen (Aufstand im Morgengrauen). Dokumentarfilm von Kristina Hille und Mariano Aiello
Kontaktadresse für den Bezug des Films:
info@awka-liwen.org