Neues vom Ergenekon-Prozess in der Türkei

Mondschein und Meeresleuchten

Der ehemalige türkische Generalstabschef Hilmi Özkök hat im sogenannten Ergenekon-Prozess überraschende Aussagen gemacht.

Auf der Militärakademie nannten ihn alle den Maulwurf. Er galt als fleißig, eifrig und verschlossen. Obwohl Hilmi Özkök, Generalstabschef der türkischen Streitkräfte a. D., eine glänzende Karriere mit vielen Jahren Auslandserfahrung bei der Nato vorweisen kann, gab es immer Kollegen, die ihn nicht ernst nahmen. »Mit den Fundamentalisten kommt der nie klar«, prognostizierte sein Vorgänger Hüseyin Kıvrıkoğlu, dem er 2002 im Amt des Generalstabschefs nachfolgte. Doch vor Gericht zeigte Özkök vergangene Woche, dass er seine Aufgaben immer ernst nimmt. Zwei Tage lang gab er bei den Anhörungen im sogenannten Ergenekon-Prozess in Istanbul umfassend Auskunft über viele der Vorwürfe gegen derzeitige und ehemalige Mitglieder der Streitkräfte. Er lieferte damit wichtige Einblicke in die Intrigen der Machthaber, die der Öffentlichkeit meist verschwiegen werden. So habe 2003 der damalige stellvertretende US-amerikanische Verteidigungsminister Paul Wolfowitz starken Druck auf ihn ausgeübt, die parlamentarische Entscheidung über die Teilnahme der Türkei an der Irak-Intervention zu beeinflussen. Dies lehnte Özkök damals ab. Das türkische Parlament hat dann ebenso dagegen entschieden und den US-amerikanischen Streitkräften, anders als während des Golfkriegs 1990/91, auch nicht gestattet, ihre Militärbasis İncirlik im südanatolischen Adana zu nutzen.
Anders als viele seiner Vorgänger und Nachfolger hatte Özkök sich als Generalstabschef zwischen 2002 und 2006 aus der Politik herausgehalten. Das nehmen ihm viele bis heute übel. Der Journalist Tuncay Özkan, ebenfalls Angeklagter im Ergenekon-Verfahren und lange Jahre einer der Hauptagitatoren des privaten nationalistischen Fernsehkanals Oda TV, bezeichnete ihn in einer Fernsehtalkshow einmal als »Idioten«. Die Hard­liner warfen ihm vor, nicht entschieden genug gegen das Erstarken der islamisch-konservativen Regierung vorzugehen. »Ich sah meine Aufgabe nicht darin, gegen die gewählte Regierung zu opponieren«, sagte Özkök am Freitag vergangener Woche vor Gericht schlicht. Doch die Kommandanten unter seinem Befehl schmiedeten gleich mehrere Putschpläne mit höchst abenteuerlichen Methoden der Machtergreifung.

Im Ergenekon-Verfahren geht es um Amtsmissbrauch und das Schüren politischer Konflikte mittels Erpressung, Entführung und Mord. 273 Personen, darunter viele Offiziere, aber auch Politiker, Journalisten, Juristen und Akademiker, werden beschuldigt, zum Umfeld des Geheimbundes Ergenekon zu gehören. Ob es den tatsächlich als Organisation gegeben hat, das bezweifelt Özkök bis heute. Aber der Name war in seiner Amtszeit bis zu ihm vorgedrungen. Es gab Berichte des militärischen Geheimdienstes über eine Formation dieses Namens, die zu allen Mitteln greife, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Den Kommandanten der Jandarma, Şener Eruygur, ebenfalls Angeklagter im Ergenekon-Verfahren, habe er 2004 verwarnen müssen. Zusammen mit dem Kommandanten der Landstreitkräfte, Aytaç Yalman, hätte Eruygur zwei Putschpläne mit den poetischen Namen »Mondschein« und »Meeresleuchten« unterstützt. Die Armee wollte damals die Presse kontrollieren und manipulieren und die Zivilgesellschaft zu einer Rebellion gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan aufstacheln. Özkök unterband damals diese Absicht.
Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst setzten Offiziere wie Eruygur ihre Aktivitäten in Vereinen fort. Als Generalsekretär des »Vereins zu Ehren des Gedankenguts von Atatürk« gehörte er zu den Initiatoren der »republikanischen Demons­tra­ti­onen«. Tausende Menschen hatten 2007 vor allem in Istanbul und Ankara gegen die Kandidatur eines islamisch-konservativen Politikers für das Amt des Staatspräsidenten protestiert. Diese Aktivitäten gehörten zu den zivilen Propagandaak­tionen von Ergenekon, behauptet nun die Staatsanwaltschaft. Diese Sichtweise wollte Özkök nicht bestätigen. Er verstärkte damit den Eindruck, dass es zwar viele fragwürdige und strafbare Aktivitäten von im Ergenekon-Verfahren Angeklagten gebe, aber die Organisation selbst das Produkt einer Verschwörungstheorie sei. Er habe damals keinen Grund gesehen, personelle Veränderungen anzuordnen, aber diese Pläne strikt verboten, fuhr der General vor Gericht fort.

Über Jahrzehnte hinweg wurde das politische System der Türkei von einem Zusammenspiel des Militärs mit dem jeweiligen Staatspräsidenten dominiert. Nach dem Militärputsch von 1980 war der erste Präsident ein General. Kenan Evren sorgte für die Installation einer autoritären Verfassung. An deren Änderung arbeitet derzeit eine Kommission. Hätten nicht alle Generalstabschefs der vergangenen Jahre immer Berichte über vermeintliche Putschisten in den eigenen Reihen vertuscht, wäre es vielleicht zu einem angemessenen Rückzug des Militärs aus der Politik gekommen. Auch an dem obskuren »Schlaghammer-Aktionsplan« hatte Özkök nur wenig Kritik. Die Luftstreitkräfte haben 2003 in Seminaren Putschpläne als Manöversimulationen entwickelt, die weit über das Ziel einer Ausbildung in militärischer Strategie hinausgingen. Die Helden der Lüfte entwarfen wahre Horrorszenarien. Moscheen sollten in die Luft gesprengt und Politiker ermordet werden. »Der Schlaghammer-Aktionsplan schoss weit über seine Ziel hinaus«, untertrieb Özkök die faschistoiden Planspiele innerhalb der Streitkräfte während seiner Amtszeit als Generalstabschef.
Klar wurde zudem, dass es in dem Ergenekon-Verfahren auch um die Aburteilung politischer Gegner geht. Die nationalistische Agitation von Oda TV etwa ist an sich zwar schlechte Fernseh­berichterstattung, aber ohne eine Rolle im Ergenekon-Gefüge noch kein unter das Anti-Terror-Gesetz fallendes Delikt. Putschpläne zeigen die politische Gesinnung und Gewaltbereitschaft von einzelnen Offizieren. Doch auch solche Pläne sind nur als Teil eines Gesamtgefüges innerhalb einer Terrororganisation strafbar. Deswegen bemüht sich das Gericht derzeit zwanghaft, eine solche Organisation nachzuweisen.