Über die kurdische Frage

Stellvertretende Kurden

Der Einfluss des kurdisch-irakischen Präsidenten Massoud Barzani wächst und wächst. Für die USA, die Golfstaaten und die Türkei ist er zum wichtigen Ansprechpartner für die Zeit nach Assad geworden.

Während sich in Aleppo und anderen syrischen Städten Rebellen und Armee blutige Straßenkämpfe liefern und täglich über hundert Menschen ums Leben kommen, gelingt es kurdischen Gruppen, immer mehr Ortschaften im Norden und Nordosten des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Was auf den ersten Blick wie eine Erfolgsgeschichte klingt und von einigen Kommenta­toren schon als Beginn eines »kurdischen Frühlings« gefeiert wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung allerdings eher als Teil eines weiteren Stellvertreterkonflikts in der Region. Denn keineswegs agiert in Syrien eine einheitliche kurdische Bewegung. Im Gegenteil: Auch im abge­legenen Nordosten des Landes tragen der Iran, die Türkei und das Assad-Regime inzwischen ihren Stellvertreterkrieg aus.
Die Türkei sucht die Nähe des Präsidenten Irakisch-Kurdistans, Massoud Barzani, den sie im Kampf sowohl gegen das Regime Bashar al-Assads als auch gegen eine wieder erstarkende PKK unterstützt. Die PKK hat ihr altes Bündnis mit der selbsternannten »Achse des Widerstandes«, also dem Regime in Teheran und seinem Schützling in Damaskus, wiederbelebt. Einmal mehr stehen die Kurden also inmitten regionaler Interessenskonflikte und finden sich in Allianzen wieder, die vor allem dem Motto »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« folgen. So brüchig die Zusammenarbeit der PKK mit Assad ist – dessen Vater schließlich vor Jahren den PKK-Führer Abdullah Öcalan verriet –, so wenig trauen sich Türken und irakische Kurden über den Weg.

Ausgerechnet die Entwicklung in Syrisch-Kurdistan hat eine Dynamik in Gang gebracht, mit der vor einem Jahr wohl noch niemand gerechnet hätte. Für die großen kurdischen Parteien, allen voran die PKK und die Kurdische Demokratische Partei (KDP) mit ihren irakischen und iranischen Ablegern, spielten die schätzungsweise 1,5 Millionen Kurden in Syrien nie eine eigenständige Rolle. Als zentrale Schauplätze galten vielmehr die Türkei, der Irak und, in geringerem Maß, der Iran. Syrien wurde bestenfalls als kurdisches Hinterland behandelt, in dem man Anhänger rekrutierte oder gar die dortigen Kurden mehr oder minder offen zwang, ihre Forderungen nach Selbstbestimmung und Demokratie zurückzustellen. Schließlich residierte die PKK jahrelang in der syrisch kontrollierten Bekaa-Ebene im Libanon.
Entsprechend schwach und unorganisiert präsentieren sich auch die genuin syrisch-kurdischen Oppositionsparteien, die es bis heute mit den lokalen Ablegern von PKK und KDP, also mit starken, finanzkräftigen und organisatorisch überlegenen Konkurrenzorganisationen zu tun haben. Als angesichts des in einen Bürgerkrieg ausartenden Massenaufstands gegen das Assad-Regime syrische kurdische Organisationen auf verschiedenen Treffen versuchten, eine gemeinsame politische Plattform zu bilden, nutzte die PKK die Gunst der Stunde. Ihr syrischer Ableger, die Partei der Einheit und Demokratie (PYD), begann schon früh in ihren Machtzentren, vor allem in Städten nördlich von Aleppo, Gegner einzuschüchtern und mit Duldung des Assad-Regimes Kämpfer aus den irakisch-kurdischen Quandil-Bergen nach Syrien zu verlegen. Strategisch äußerst günstig an der türkischen Grenze gelegen, bieten sich Orte wie Afrin auch als Basis für Angriffe auf türkisches Militär an.
Während sich die syrisch-kurdischen Parteien weiter uneinig sind, wie sie sich gegenüber der syrischen Opposition verhalten sollten, schaffte die straff organisierte PYD Fakten, indem sie mittels lokaler Komitees sukzessive Kotrolle in kurdischen Gebieten übernahm und die Free Syrian Army aus diesen Gebieten fernhielt. Als Ende Juli dann die Meldung durch die Weltmedien ging, die ersten kurdischen Städte in Syrien seien »befreit«, handelte es sich eher um eine offenbar abgesprochene Machtübergabe der syrischen Verwaltung des geschwächten Assad-Regimes an Kader der PYD.
Angesichts dieser Entwicklung sah sich die türkische Regierung gezwungen, aktiv zu werden. Hatte sie offenbar lange ihrer eigenen Propaganda geglaubt, sie sei der große Gewinner des so genannten »arabischen Frühlings« und die künftige Hegemonialmacht in der Region, musste sie nun feststellen, dass sie in Wirklichkeit vor einem außenpolitischen Desaster steht. Das von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan und Präsident Abdullah Gül so liebevoll aufgebaute freundschaftliche Verhältnis zu Syrien und seinem Schutzpatron, dem Iran, zerfiel in rasantem Tempo, während sich die PKK, die man dauerhaft geschwächt zu haben glaubte, an der eigenen südlichen Grenze festsetzte. Zwar unterstützt die Türkei, gemeinsam mit Saudi-Arabien, Katar und den USA, die Free Syrian Army sowohl logistisch als auch militärisch. Der Konflikt in Syrien hat sich aber längst verselbständigt, so dass die Regierung in Ankara seinen Ausgang kaum mehr beeinflussen kann.

Hatte die Türkei vor knapp zehn Jahren, nach dem Sturz Saddam Husseins, schon weitgehend hilflos zusehen müssen, wie im Nordirak eine autonome kurdische Region entstand, so steht offenbar eine ähnliche Entwicklung in Syrien bevor. Denn auch wenn die kurdischen Parteien erneut in ein schmutziges diplomatisches Spiel involviert sind, so sind dessen Regeln doch neu. Handelte es sich vor Jahrzehnten noch um weitgehend isolierte politisch-militärische Befreiungsbewegungen, kontrollieren im Irak die Kurden nun ein staatsähnliches Gebiet und verfügen über eine eigene Armee. Zudem sind sie enge Alliierte der USA in der Region. Niemand käme momentan auf die Idee, der Status quo ante sei in irgendeiner Form wiederherstellbar. Im Gegenteil: Die Frage ist nur noch, wer künftig Syrisch-Kurdistan kontrolliert und welche Form der Selbstverwaltung es dort geben wird.
Der türkische Außenminister sprach sich kürzlich sogar für ein föderales Modell aus, fürchtet er doch, die syrischen Kurden könnten einen eigenen Staat ausrufen oder sich mit Irakisch-Kurdistan zusammenschließen wollen. Deshalb reiste Ahmet Davutoğlu in den vergangenen Wochen zwei Mal nach Arbil, um sich mit Massoud Barzani zu beraten. Davutoğlu setzt auf eine Annäherung der syrisch-kurdischen Parteien und der gesamtsyrischen, im türkisch gestützten Syrian National Congress zusammengeschlossenen Opposition, um so den Einfluss der PKK zurück­zudrängen. Um eine solche Position einigermaßen glaubhaft vertreten zu können, muss die Türkei sich wider Willen zum Fürsprecher der syrischen Kurden machen und die irakischen Kurden um Hilfe bitten. Massoud Barzani wiederum sieht seine große Stunde gekommen. Seit über einem Jahr versucht sich die syrisch-kurdische Opposition unter seiner Schirmherrschaft zu organisieren. Und fraglos wird Barzani auch künftig enormen Einfluss in den syrischen Gebieten Kurdistans ausüben, er gilt den USA, den Golfstaaten und natürlich der Türkei als wichtiger Ansprechpartner für die Zeit nach Assad.
Eine Zukunft ohne Vermittlung der irakisch-kurdischen Regierung scheint allen Beteiligten undenkbar. Wenn aber in Syrien ein wie auch immer geartetes zweites kurdisches Selbstverwaltungsgebiet entstehen sollte, wird dies enorme Auswirkungen auch auf die kurdischen Nationalbewegungen in der Türkei und im Iran haben. Kurdische Parteien haben sich von bloßen Spielfiguren, derer man sich bei Bedarf bediente, nur um sie später wieder fallenzulassen, zu gewichtigen Akteuren gewandelt. Und ihre Chancen, langfristig zu den wenigen Gewinnern der Umwälzungen zu gehören, sind jedenfalls nicht die schlechtesten. Inwieweit dies allerdings eine gute Nachricht für die Menschen in Syrisch-Kurdistan ist, bleibt unklar, haben sich in der Vergangenheit doch weder PKK noch KDP als begeisterte Anhänger demokratischer Transformation erwiesen.