Hat sich die Beschneidungsdebatte im Netz genauer angesehen

Vorhäute im Sommerloch

Bei der Beschneidungsdebatte geht es der Mehrheit der meist männlichen Diskutanten im Internet nicht um die Frage nach dem säkularen Staat. Stattdessen sind vor allem Ressentiments und viel Psychokram im Spiel.

So unübersichtlich war es im Sommerloch noch nie: Islamhasser, Maskulisten, Antisemiten, Verschwörungstheoretiker, Rechte, Entwicklungsländer-Experten, Linke, Atheisten, Menschenrechtler und einfache Penisinhaber sorgen nun schon seit Wochen – selbstverständlich aus unterschiedlichen Gründen – gemeinsam dafür, dass ein paar Zentimeter Haut das Thema der Saison sind – ausschließlich in Deutschland wohlgemerkt.
Genau, es geht um die männliche Beschneidung. Die Diskussion im deutschsprachigen Teil des Internet handelt allerdings mitnichten davon, dass man sich beispielsweise um unter schrecklichen Bedingungen beschnittene kleine Jungen aus Entwicklungsländern sorgt. Im Grunde lässt sich der Austausch in Foren, sozialen Netzwerken und den Kommentarspalten viel eher so beschreiben: Unbeschnittene Männer reden mit anderen unbeschnittenen Männern darüber, wie schrecklich diese Beschneiderei sei, und alle zusammen tun sie so, als könne jeden Moment die Penispolizei bei ihnen zu Hause klingeln und ihnen noch im Flur die Hosen herunterziehen, um die Vorhäute abzuschneiden. Als ob die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, darin bestünde, unermüdlich für ein sofortiges Beschneidungsverbot zu agitieren. Dazu wird aus obskuren Quellen zitiert, werden Verschwörungstheorien entwickelt und verbreitet, wird fraglos alles verbreitet, was zur eigenen Meinung passt.

Bei Twitter findet sich unter dem Hashtag »#Beschneidung« entsprechend von blankem Unsinn bis hin zu unangemessenen Vergleichen alles, was männliche unbeschnittene User aus Sorge um ihr anscheinend hoch gefährdetes primäres Geschlechtsorgan umtreibt – wie gesagt, wir reden hier nicht von faktenbasierten Diskussionen, sondern beispielsweise von Ressentiments gegen Muslime und Juden, die man glaubt, nun endlich ausleben zu können. Und von wirklich eigenartigen Wahrnehmungen: »Wie soll ich denn onanieren, wenn die Vorhaut weg ist?« twitterte beispielsweise vor Wochen ein erwachsener Christ, der anscheinend wirklich glaubte, dass nur das Urteil des Kölner Gerichts ihn vor der drohenden staatlichen Zwangsbeschneidung gerettet hat. Er wurde nicht etwa ausgelacht oder angewiesen, halt bei Google nach Stichworten wie »Masturbation« und »beschnitten« zu suchen, sondern umgehend mit Links zu Petitionen versorgt, in denen die Bundesregierung aufgefordert wird, sofort Beschneidungen zu verbieten. Bekanntlich könne kein beschnittener Mann Rad fahren, erklärte ein anderer Twitter-User, da könne man sich ja leicht ausrechnen, welche Schmerzen sich dann erst beim Sex einstellten. Beschneidungen seien genauso schlimm wie das Entfernen der Klitoris, hieß es in gleich mehreren Tweets. Oder sogar noch schlimmer, denn die Vorhaut enthalte rund 20 000 Nervenenden, die Klitoris dagegen bloß 8 000. Schwer traumatisiert bis ans Lebensende seien jedenfalls alle, die die entsetzliche Folter Zirkumzision erleiden mussten, beschrieb ein User das »fürchterliche Leid« derer, denen die Möglichkeit genommen wurde, »Sex zu haben und richtige Männer zu sein«.

Aber auch dort, wo man nicht mit offenkundigem Unfug argumentiert, übernimmt man bemerkenswert unkritisch Informationen, obwohl eigentlich anhand der Aufmachung der entsprechenden Websites und der dort präsentierten Links schnell klar werden müsste, dass der vorgebliche Kampf gegen die Beschneidung zum Beispiel in Wirklichkeit einer gegen Minderheiten ist. Und so wird aus wenigen Zentimetern Haut, die von den Penissen kleiner Babies oder Jungen entfernt werden, schnell die Amputation von 73 Meter Nerven und einem Meter Blutgefäßen. Dass diese Zahlen von einer höchst unseriösen Webpage stammen, spielt keine Rolle. Ein Beispiel? Die obigen Angaben stammen aus einer im Jahr 1996 veröffentlichten Untersuchung kanadischer Urologen, die die Vorhäute von 22 Leichen untersucht hatten. Wo es im Original heißt, dass die Vorhäute mindestens 30 Prozent der Penishautfläche ausmachten, wurden auf der deutschen Internetseite aus diesem Wert 50 bis 80 Prozent. Ähnlich verfuhr man auch mit einer zweiten zitierten Untersuchung, bei der es um die Gewinnung superdünner Hautlappen aus Vorhäuten ging, mit denen durch Krebs in der Mundhöhle entstandene Gewebeschäden repariert werden könnten. 46,7 Quadratzentimeter betrug jeweils die durchschnittliche Größe der auseinandergefalteten Vorhäute von acht erwachsenen Toten – auf der deutschen Website werden daraus 65 bis 100 Quadratzentimeter.
Auf den Websites der Beschneidungsgegner findet sich das, was man von diversen Verschwörungstheoretiker-Seiten im Internet hinlänglich kennt: Vorgeblich objektive Pro- und Contra-Faktensammlungen, die gegnerische Argumente mit haltlosen Behauptungen, Verweisen auf unseriöse Quellen und aus dem Zusammenhang gerissenen, falsch übersetzten englischsprachigen Zitaten aus Wissenschaftspublikationen zu entkräften versuchen. Fast schon obligatorisch: Längliche Briefwechsel mit Organisationen wie der Unseco und der Weltgesundheitsorganisation WHO, die mit beleidigtem Kontaktabbruch und Drohungen enden. Und auch der übliche Zitier-Pingpong mit befreundeten Aktivisten-Webpages, die es Lesern sehr erschweren, nach der wirklichen Quelle für Behauptungen zu suchen, fehlt so wenig wie die Klage über geldgierige Mediziner, die mit Beschneidungen reich werden.

Dazu kommen die Berichte der sogenannten Opfer – in aller Regel nichtmuslimische, nichtjüdische Männer, denen aufgrund einer Phimose, einer Vorhautverengung also, im Alter zwischen vier und 16 Jahren in einer darauf spezialisierten deutschen Klinikabteilung die Vorhaut entfernt wurde. Die Schilderungen der meisten aus medizinischen Gründen Beschnittenen handeln wie bei anderen Operationen auch von Hilflosigkeit, Angst und Schmerzen, von arroganten Ärzten und nachlässigem Pflegepersonal. Viele berichten, dass sie sich später schämten, mit Klassenkameraden nach dem Sport zu duschen, weil sie eben »untenrum anders aussahen« und Mobbing befürchteten. Muslime melden sich in diesen Foren übrigens selten, Juden nie zu Wort.
Und so wird auch die zweite Kategorie von Betroffenenberichten durch nichtmuslimische, nichtjüdische Männern bestritten. Diese Schilderungen ähneln sich in Sprache und Stil frappant, manchmal bis hin zu den Rechtschreibfehlern, die eigenartigerweise oft denen der Seitenbetreiber entsprechen. Beschrieben werden richtiggehende Horrorszenarien: Penishaut, die regelrecht verhornt ist und dadurch keinerlei Gefühle beim Sex zulässt, dicke Narben, die Partnerinnen beim ersten intimen Kontakt vor Ekel fast kotzen lassen, ständige Schmerzen und Depressionen. Ausgerechnet diese Berichte wimmeln häufig von logischen Fehlern, die nicht dafür sprechen, dass es sich um realistische Schilderungen handelt: Die Beschneidung ist beispielsweise oft gleichzeitig dafür verantwortlich, dass der angeblich Betroffene keinerlei Gefühle und nur unzureichende Orgasmen hat und gleichzeitig seine Ehe durch dauernde Seitensprünge ruinierte, weil er unter einer massiven Sexsucht leide. Oder dass sein Leben dadurch zur Hölle wurde, dass er allein schon durch zufällige Berührungen oder ein ungünstige Reibung der Unterhose zu andauernden ungewollten Orgasmen kam, er aber bislang andererseits Freundin um Freundin verlor, weil den Frauen der durch den beschneidungshalber gefühllosen Penis ewig dauernde Koitus zu anstrengend war.
Noch abstruser wird es, wenn Berichte von Frauen ins Spiel kommen. Auf Maskulisten-Seiten hält man die Vorhautentfernung gern, wie sonst eigentlich auch alles, für eine große Verschwörung der sogenannten Feminazis, also der Feministinnen, die im Grunde pausenlos damit beschäftigt sind, Männer zu knechten und ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Aber nicht nur bei den Männerrechtlern sind Frauen die Hauptverantwortlichen für Beschneidung, auch in anderen Foren werden sexuell-sadistisch konnotierte angebliche Erfahrungsberichte von Müttern, Pflegerinnen und Pädagoginnen, die sich vehement für die Zirkumzision aussprechen, oft und gern verbreitet. »Ich habe ein sehr schönes FKK-Bild im Netz von einem sehr schön beschnittenen Buben gefunden, fast so wie meiner, der nur noch ein bis zwei Zentimeter höher beschnitten ist, als der Bube auf dem Bild. Ich stelle euch mal den Link ein, sieht doch auch viel schöner aus als so ein langer Rüssel, wo sich immer der letzte Urin oder Spermatropfen verfängt«, wird beispielsweise eine angebliche österreichische Mutter namens Ines43 zitiert. Egal, ob das Posting nun echt sei oder nicht: Mütterliche Macht werde konsequenterweise auch auf den Penis ausgedehnt, lautet der Kommentar eines Seitenbetreibers zu diesem Text.
Was das alles mit dem Kölner Urteil, in dem es um religiös motivierte Beschneidungen ging, zu tun hat? Nichts. Aber Vorhäute, so klein sie auch sind, scheinen groß genug, um sich als Projek­tionsfläche für so ziemlich sämtliche Vorurteile, Hassgefühle und diffuse Ängste zu eignen. Bis die Penispolizei kommt.