Das syrische Regime zerfällt

Zunehmend entfreundet

Die Assads verstanden sich stets prächtig darauf, sich mit allen Seiten gut zu stellen. Einige alten Freunde danken es ihnen immer noch, doch es werden immer weniger.

Was eint die russische und die chinesische Regierung, die Führung der Islamischen Republik Iran, die letzten Antiimperialisten und gefühlte 90 Prozent der deutschen Leserkommentarschreiber im Internet? Es ist die Sorge um das Regime von Bashar al-Assad in Syrien. Fairerweise muss man hinzufügen, dass dieses Band der Sympathie bis vor Kurzem auch noch US-Präsident Barack Obama und die israelische Regierung mit dem mörderischen, aber äußerst pragmatischen Regime verbunden hat. Inzwischen hat sich der wahlkampfgeplagte Obama dazu durchgerungen, die syrische Opposition offiziell zu unterstützen – wenn auch nicht mit Waffen; schließlich steht die Zwangsräumung des Präsidentenpalastes in Damaskus kurz bevor. Ministerpräsident Riyad Hijab ist bereits ausgezogen. Der Karriere-Ba’athist hat sich am Montag vorausschauend der Free Syrian Army angeschlossen. Als Ministerpräsident unter Assad hatte er zwar nicht viel zu sagen, aber sein symbolträchtiger Abgang hat doch die Propaganda übertönt, mit der die halbe verbliebene Regierungsarmee nun auf Aleppo losgelassen werden soll.
Warum stehen also immer noch so viele hinter Assad? Die einen tun es zwangsweise, ihre Inves­titionen sind bedroht. Russland, die Hizbollah und der Iran stehen tatsächlich vor einem Desaster, wie sie es sich vor Jahresfrist wohl kaum hätten vorstellen können. Für die anderen Assad-Sympathisanten gilt es nun erneut, wie schon beim Ausbruch des sogenannten Arabischen Frühlings, mahnend den Zeigefinger zu heben: Wäre es denn nicht besser gewesen, es hätte sich im Nahen Osten nie etwas verändert? Mit den Demonstrationen in Syrien im März 2011 waren die arabischen Aufstände im Zentrum des Nahen Ostens angelangt. Tunesien, Libyen, Jemen, Bahrain, ja selbst Ägypten – die Brennpunkte der Geschehnisse lagen verglichen mit Syrien bloß in der Peripherie der Weltpolitik.

Die Assad-Diktatur in Syrien war so etwas wie das Scharnier des alten Nahen Ostens. Sie hat alles Schlechte an diesem alten Nahen Osten, so disparat es auch war, passend miteinander verbunden. Assads Syrien war ein unverzichtbarer Verbündeter des Iran und der Hizbollah und galt doch gleichzeitig als säkular. Damaskus war der Hort von allen möglichen Terrorgruppen, und doch konnte man mit diesem Todfeind aus israelischer Sicht einigermaßen auskommen. Syrien war der einzige wirklich verlässliche und langjährige Verbündete der Sowjetunion und später Russlands in der Region, gleichzeitig ließ man sich von den USA hofieren. Ölgeld vom Golf floss seit den neunziger Jahren auch nach Syrien, schließlich hatte man einen gemeinsamen Feind, die Muslimbrüder. Und während der »Arabische Sozialismus« immer mehr an Bedeutung verlor, ließ sich in Lattakia nach dem Bau schöner Resorts für die etwas ärmeren Sheikhs fast so unbefangen ein ausschweifendes Leben führen wie in Saint-Tropez. Mit den Europäern, vor allem mit Frankreich und Deutschland, verstand man sich sowieso immer bestens und machte kleine und größere Geschäfte. Überhaupt: Zeugten nicht allein schon die Tonnen von mit Intarsien geschmückten Backgammon-Spielen, die westliche Touristen in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus den Bazaren von Aleppo und Damaskus mitgebracht haben, von einem einigermaßen auskömmlichen Nahost-Regime?
In Syrien war zudem – anders als in Ägypten oder Libyen – die Erbfolge, also eine interne Lösung zum Machterhalt des Regimes, bereits im Jahr 2000 geglückt. Seit der alte griesgrämige Hafez al-Assad weg war, umgab den jungen Präsidenten Bashar mit seiner in England aufgewachsenen Frau Asma sogar so etwas wie ein bisschen Glamour, und von Reformen war ja auch immer wieder mal die Rede. Dabei hatte Syrien ökonomisch nie etwas zu bieten, auch keine bedeutenden Bodenschätze, von ein wenig Erdöl abgesehen. Die geographische Lage war das Schicksal des Landes, im Schlechten wie im Guten. Die Assads machten tatsächlich etwas daraus und kompensierten die fehlenden Ressourcen durch immenses Maklergeschick. Am deutlichsten wurde dies 2003, als Assad der Jüngere den Angriff auf Saddam Husseins Irak unterstütze und sich scheinbar dem Westen zuwandte – um hinterher den Jihadistennachschub über die syrisch-irakische Grenze laufen zu lassen. Aber wer wollte da auch zu genau hinschauen, schließlich galt, dass man mit diesen Assads am Ende doch immer irgendwie auskommt.
Dieser Konsens wurde ausgerechnet von jenen aufgekündigt, von denen es unter politischen Beobachtern immer hieß, dass sie mit ihrem geliebten Führerpräsidenten quasi eine naturgegebene Einheit bildeten: der großen Mehrheit der syrischen Bevölkerung. Als unhinterfragbaren gesellschaftlichen Kitt sah man in letzter Konsequenz den abgrundtiefen Hass auf Israel an, für den Rest an Nörglern gab es in Syrien ein paar unangenehme Maßnahmen der Sicherheitsdienste, man kennt das doch, so ist der Nahe Osten eben. Allein, die Syrer wollten nicht mehr. Keine debile Unterwerfung, kein Menschenmassenkneten, keinen Folterhorror mehr. Das, und nur das, war der Anfang vom Ende Assads. Die syrischen Demonstranten forderten wie die Protestierenden anderorts in der Region auch »Freiheit« und »Würde«. Wer mag das zynisch belächeln? Diese Menschen zu verraten, ihren Ausgangspunkt, damit beginnen die faden Ausreden. Was es auch immer an Widersprüchen geben mag.

Die Reaktionen des Westens auf den Ausbruch des Aufstands beschränkten sich lang auf den Appell, Assad möge doch endlich mit seinen »Reformen« beginnen. Ansonsten hatte man mit sich selbst genug zu tun, der Euro und der Rest, klar. Bloß dass die Welt nicht stillsteht, wenn man gerade keine politische Idee mehr hat. Die Golfmonarchen hingegen hatten sich nach dem Schock durch die Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen spätestens seit Ende 2011 gefangen, der Bruch der Arabischen Liga mit Assad war das Fanal für ihre Unterstützung des syrischen Aufstandes, der mittlerweile zum bewaffneten Kampf geworden war. Dass die Golfmonarchien in Syrien kaum jene Kräfte unterstützen, die ein Gegenmodell zu ihrem reaktionären Herrschaftsmodell am Golf anstreben, kann nicht verwundern. Die syrischen Demonstranten hatten sich zuvor monatelang »friedlich« erschießen lassen. Dann allerdings nicht mehr. Und ihre Bitten um Unterstützung wollte im Westen niemand hören. Das politische Bewegung simulierende Geräusch drumherum waren zuerst die »arabischen Beobachter«, dann die UN-Beobachter und schließlich war es Kofi Annan. Das einfach zu benennende Grundproblem war jedoch von Anfang an und ist bis heute: Das System der Assads wird nicht freiwillig abtreten.
Und jetzt ist der Schlamassel da. Ganze Viertel vieler Groß- und Kleinstädte Syriens liegen in Schutt und Asche. Das Regime verteidigt sich mit Artillerie, Panzern und der Luftwaffe. Die Aufständischen sind bis in zentrale Viertel von Damaskus vorgedrungen. Assads Elitetruppen haben sie wieder hinausgedrängt – es war ein Überleben, kein Sieg. In Aleppo, der wirtschaftlichen Metropole, scheinen sich die Aufständischen zu halten. Das Hinterland an der türkischen Grenze wird von der Free Syrian Army beherrscht. Assads Truppen verlieren ständig an Quantität und Qualität. Militärisch ist die Lage klar: Das Regime ist verloren, uumindest in der Form, wie wir es bisher kannten. Als reine Bürgerkriegspartei werden die von Alawiten dominierten Kampfverbände allerdings eine eigene Dynamik entfalten – wenn es denn zum Schlimmsten kommen sollte. Humanitär ist die Katastrophe sowieso längst eingetreten. Die schreckliche Bilanz bisher: 20 000 Tote und 200 000 bis 300 000 internationale Flüchtlinge, von den internen Flüchtlingen ganz zu schweigen. Und wenn weiter in einer Großstadt wie Aleppo gekämpft wird, so wird dies zu einer humanitären Katastrophe ganz anderer Dimensionen führen.

Das Argument, man müsse mit Assad & Co. doch über Reformen reden, damit es nicht zum Bürgerkrieg kommt, ist jedenfalls obsolet. Er ist da, dieser Bürgerkrieg. Und das nächste Argument für Assad ist auch hinfällig, ja, es wendet sich nun sogar gegen ihn: Seine Herrschaft lässt sich nicht mehr als Bollwerk gegen Jihadisten imaginieren, im Gegenteil, sie ist deren Anziehungspunkt. Droht also in Syrien die Etablierung einer Jihadistischen Internationale? Nach allen verfügbaren Quellen sind es bisher immer noch recht wenige jihadistische Kämpfer, eine niedrige dreistellige Zahl. Beruhigend ist das trotzdem nicht. Nur eines ist gewiss: Je länger der Krieg in Syrien dauert, desto größer wird das Problem mit den Jihadisten werden. Syrien ist nicht Nordmali, wo man die Jihadisten mal wieder unter Achselzucken heimisch werden lässt, bis sie gelangweilt anfangen, wie in Timbuktu Unesco-Weltkulturerbe abzureißen. In Syrien wird eine internationale Intervention letztlich unvermeidlich sein. Das Desaster scheint perfekt.
Wie das zu interpretieren sei, ist bereits ausgemacht. Erstens: In Syrien handelt es sich um einen Religionskrieg – Schiiten versus Sunniten. Zweitens: Es handelt sich um einen Stellvertreterkrieg – Russland, Iran, Hizbollah versus USA (der »Westen«), Golfmonarchien und Salafisten (al-Qaida). Dass in Syrien nur ein Stellvertreterkrieg stattfinde, hat sogar Ban Ki-moon offiziell vor der UN-Vollversammlung erklärt. Eines stimmt daran ja auch: Der Abgesang auf Assad ist zugleich ein Trauermarsch für die Islamische Republik Iran. Historisch liest sich das so: Die schiitische »Offensive«, die man am Beginn des libanesischen Bürgerkriegs 1975 und am Sturz des Schahs 1979 festmachen kann, ist mit der schiitischen Regierung im Irak und der durch die Hizbollah garantierten Regierungsübernahme im Libanon 2011 an ihren Höhepunkt angelangt. Die lange unterdrückten Schiiten haben sich schließlich etabliert: im Irak, im Libanon, in Syrien. Man wird sie nie wieder ignorieren können. Und der große sunnitisch-islamistisch-salafistische Gegenschlag bleibt bisher aus. Weder der Irak noch Syrien werden jemals wieder so sunnitisch dominiert sein, wie sie es früher einmal waren. Auch die Saudis haben kein Konzept. Sie sind Getriebene wie der Rest.