Hat die Opfer der antiziganistischen Pogrome im ungarischen Gyöngyöspata besucht

»Das Problem heißt Rassismus«

Das Europäische Parlament beschloss 2011 die »Roma-Rahmenstrategie«, um die Lage der größten Minderheit Europas zu verbessern. Der Vorschlag kam ausgerechnet aus Ungarn, wo rassistische Angriffe auf Roma an der Tagesordnung sind. Ein Bericht aus Gyöngyöspata und Budapest.

»Ein kleiner Junge kam herein und sagte: Bei Ihnen brennt doch das Haus. Das Dach, es brennt! Ich war nicht da, ich habe jemanden zum Bus nach Gyöngyös gefahren. Darauf müssen sie gewartet haben, denn ich passe auf wie ein Verrückter. Aber mein Sohn war da, der ist herausgerannt und hat Gas und Strom abgedreht, damit das Haus nicht explodiert. Dann hat er angefangen, die Leute rauszuholen. 17 Menschen waren hier.«
János Farkas deutet mit der selbstgedrehten Zigarette auf das Zimmer. Der gewählte Minderheitenvertreter der Roma in Gyöngyöspata erzählt von jener Nacht im Februar, als er beinahe seine gesamte Familie verloren hätte. Seine Frau sitzt am Fenster des Wohnzimmers vor den roten Vorhängen. Sie zieht ein Kleidungsstück nach dem anderen aus einem großen Beutel. Jedes Kleidungsstück faltet sie behutsam auseinander, sagt, wem es passen könnte, faltet es in gekonnten Bewegungen zusammen und deponiert es auf einem der verschiedenen Stapel für die Familienmitglieder. Meist sind es Kindersachen.
»An dem Abend war eine Jobbik-Feier hier in der Stadt«, fährt Farkas fort und fingert an der Zigarette herum, die noch nicht brennt. »Das Feuer entstand an einer Stelle im Haus, wo normalerweise kein Feuer entsteht. Die Kinder waren alle hier unten. Sie müssen gewartet haben, bis ich weg war. Sie wissen, dass ich wie ein Verrückter aufpasse«, wiederholt er und blickt auf den alten, vor sich hin pollernden Küchenofen. »Sie müssen beobachtet haben, wie ich losgefahren bin«, sagt er und öffnet eine kleine Klappe im Ofen, hinter der das Feuer lodert. Er hält die Zigarette hinein. »Dann haben sie einen Molotowcocktail oder irgendwas Brennbares auf das Haus geworfen. Ich weiß es nicht genau. In Sekunden stand das Dach in Flammen.«
Er holt die Zigarette aus dem Ofen, schließt die Klappe und raucht. Sein Blick fällt auf seine Frau, die eine freudige Bemerkung macht, während sie ein kleines Kleid in die Höhe hält. Er nickt, ohne das Gesicht zu verziehen. »Seit den Angriffen schlafen wir alle in unseren Kleidern. Aber Schlafen kann man das wohl nicht nennen«, sagt Farkas und zieht hastig an seiner Zigarette. »Ich höre jede Fliege, die irgendwo im Haus summt.«
Er geht zurück zum Ofen und wirft den Zigarettenstummel hinein. Die Feuerwehr sei erst nach 30 Minuten eingetroffen, zu spät, um zu verhindern, dass die gesamte obere Etage unbewohnbar wurde. Der kleine Ofen ist derzeit die einzige Heizung im Haus. 13 Personen schlafen gewöhnlich im Wohnzimmer, in dem wir auf einem Doppelbett sitzen.

Die Tür neben dem Ofen fliegt auf. Farkas’ Sohn tritt mit zwei Espresso-Tassen herein. Er bittet um Entschuldigung, dass sie keine Milch im Haus haben. Er heißt ebenfalls János und ist der Einzige in der Familie, der einen höheren Schulabschluss hat. Er, der uns nun die Kaffeetassen reicht, war es, der in jener Februarnacht, als das Dach in Flammen stand, den Strom abstellte.
Bei der letzten Bürgermeisterwahl im vergangenen Jahr hatte der junge Farkas sogar kandidiert, die Kandidatur allerdings zurückgezogen, um der von der Regierung unterstützten Kandidatin der Fidesz, Matalik Ferencné, mehr Chancen einzuräumen. Man wollte Schlimmeres verhindern, nämlich dass ein Rechtsextremer von der Partei Jobbik Bürgermeister wird. Doch es nützte nichts. Oszkár Juhász gewann die Wahlen. Einige Monate zuvor, um Ostern 2011, waren Mitglieder der rechtsextremen Bürgerwehr Szebb Jövöért Polgá­rörség (Schönere Zukunft) und Véderö (Wehrmacht) durch die Stadt marschiert (Jungle World 14/2011). Sie patroullierten auf den Straßen, errichteten Blockaden, sprachen sich mit der örtlichen Polizei ab, terrorisierten die Roma auf ihrem Weg in den Lebensmittelladen und zur Arbeit. Nach anhaltendem Belagerungszustand schaltete Richard Field von der American House Foundation das Internationale Rote Kreuz ein. 276 Frauen und Kinder wurden aus Gyöngyöspata evakuiert, auch die der Familie Farkas.
Im 7. Bezirk von Budpest dreht sich Sinan Gökcen vom European Roma Rights Center (ERRC) auf seinem Bürostuhl dem Computerbildschirm zu. Er klickt ein paar Mal mit der Maus und erklärt, das Europäische Parlament habe kurz nach den Vorfällen um Ostern 2011 in Gyöngyöspata die »Roma-Rahmenstrategie« der ungarischen Regierung – die zu dieser Zeit die EU-Präsidentschaft innehatte – übernommen. Gökcen spricht in monotonem behördlichen Tonfall. Larmoyanz ist ihm fremd, es reicht ihm, eins und eins zusammenzuzählen. »Die Roma-Rahmenstrategie ist für die Mitgliedsstaaten der EU zwar nicht bindend und in vielen Punkten kritikwürdig«, führt Gökcen aus, »immerhin können sich Menschenrechtsorganisationen auf sie berufen. Es ist ein Papier, auf das man verweisen kann.« Die Regierung Viktor Orbáns habe in Gyöngyöspata so lange nichts getan, bis der ERRC eine internationale Kampagne ins Leben gerufen habe. »Ich nehme es nicht sehr ernst, wenn sich die Fidesz-Regierung zu den Belangen der Roma äußert. Die Kluft zwischen dem, was sie sagen und dem, was sie tun, ist gewaltig«, sagt Gökcen.
Die »Rahmenstrategie« richtet sich vor allem gegen die extreme Armut, sie blendet nach Ansicht von Göcken allerdings deren Ursachen aus: »Die Roma sind arm, weil sie diskriminiert werden. Diskriminierung ist das entscheidende Element in der Roma-Frage.« Gökcen wendet sich wieder dem Bildschirm zu. »Ich kann ihnen viele Fälle nennen.«
Der ERRC sammelt Indizien und Beweise für Menschenrechtsverletzungen und bringt diese vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zur Verhandlung. »Einer der wichtigsten Fälle, den wir gewannen, war der Fall D. H. gegen die Tschechische Republik im Jahr 2007«, berichtet er, »es ging um Segregation im Bildungsystem.« Gökcen fügt hinzu, dass Diskriminierung von Roma-Kindern in der Schule eine übliche Praxis sei, vor allem in Osteuropa: »Viele Kinder kommen in Behindertenschulen, obwohl sie keine Behinderung haben.« Er redet sich in leichte Wut: »Anstatt sie zu unterstützen, damit sie sich schneller an das Bildungssystem gewöhnen, werden sie für geistig behindert erklärt und in Sonderklassen gesteckt.« Dann fängt er sich wieder und nennt in knappen Sätzen die Probleme, mit denen er täglich konfrontiert ist: »Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat keine Macht zur Sanktion. Meistens heißt es: ›Schämt euch!‹, und dann wird die Sache den nationalen Regierungen überlassen. Die Regierungen beschuldigen sich nicht gegenseitig, weil sie dasselbe machen. Sie sind brothers in sin.«
Welche Maßnahmen würden helfen? Gökcen lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und erzählt von einem Fall aus den USA der frühen fünfziger Jahre: Brown gegen Board of Education. »Der Präsident sandte damals Truppen in die Kleinstadt Little Rock, um neun afroamerikanische Studenten in die Universität zu begleiten. So ließ man die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs umsetzen. In Europa haben wir so etwas nicht«, sagt er und beugt sich ein wenig nach vorn. »Ich meine, wir haben keine Autorität, um die Entscheidungen des Europäischen Gerichts durchzusetzen.« Dann klickt er sich wieder über den Bildschirm, von Fall zu Fall.

»Als die Frauen und Kinder nach Hause kamen, haben die Nazis gerufen: Warum seid ihr nicht in den Lagern geblieben?« erzählt János Farkas, der Sohn, als er am Computer Bilder der Aufmärsche zeigt. Zwischen einem weiteren Doppelbett und ein paar Regalen steht der alte PC im Kinderzimmer. Das Fenster daneben öffnet den Blick auf eine Brachfläche und ein Feld. Neue Bäume wurden von János und weiteren Roma in der Nähe gepflanzt, im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, auf die der neue Bürgermeister stolz ist. Sie hatten auf Obstbäume gehofft, mussten aber Zierpflanzen setzen, und weil die Arbeit als »gemeinnützig« galt, wurde sie nicht bezahlt. Der Bürgermeister rühmte sich, er habe durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Ordnung gesorgt, 90 Prozent der Roma seien arbeitslos gewesen und »pflegten einen parasitären und kriminellen Lebensstil«. Man kann das Programm »Gemeinnützige Arbeit« auch ganz einfach Zwangsarbeit nennen. Wenn die Roma beschäftigt sind, haben sie keine Zeit für Kriminalität – so wird die »Rahmenstrategie« in Ungarn ausgelegt. Wer nicht an diesen Programmen teilnimmt, dem wird die spärliche soziale Absicherung gestrichen.
János zeigt auf den Computer: »Das ist der Sohn des Bürgermeisters.« Auf dem Bildschirm vergrößert sich nach einiger Ladezeit das Bild eines Jungen mit Stahlhelm. Er ist vielleicht zehn Jahre alt. Auf einem anderen Bild hält der Junge seine zu einer Schusswaffe geformten Finger an die Schläfe einer Statue, die Skulptur eines Demokraten.
János’ Tochter schmiegt sich an seine Schulter. Täglich fährt sie ihr Vater zur Schule, die in einer anderen Stadt liegt. In Gyöngyöspata werden die Kinder der ethnischen Ungarn im oberen Teil des Schulgebäudes unterrichtet, den Roma-Kindern ist der Keller vorbehalten. Auf Schulveranstaltungen herrscht eine Sitzordnung, in der die »weißen« Kinder vorne sitzen, die Roma in den hinteren Stuhlreihen. Die Erzieherinnen achten penibel darauf, dass nach dem Ende der Veranstaltung erst die vorderen Reihen aufstehen und in Zweierreihen den Raum verlassen. Wenn das letzte »weiße« Kind den Raum verlassen hat, werden die Roma-Kinder herausgewunken. Erhalten die Kinder der Mehrheitsgesellschaft ihre Schulspeisung mit Geschirr aus Porzellan und mit Besteck aus Metall, bleibt für die Roma nur Plastik.
Von den 120 Milliarden Forint (rund 4,2 Millionen Euro) der »Rahmenstrategie«, die für die Verbesserung der Lage der Roma vorgesehen sind, kämen nur 12 Milliarden auch bei Roma an, kritisiert Ágnes Dároczi, Autorin, Menschenrechtsaktivistin, Kulturwissenschaftlerin und Angehörige der Minderheit. »Die Regierung hat es verpasst, unsere Stimmen zu hören«, sagt sie und bringt ein zentrales Problem der europäischen Minderheitenpolitik auf den Punkt: »Roma werden als Armutsfälle der nationalen Regierungen wie auch der EU-Strategie behandelt, nicht aber aktiv in die politischen Fragen bezüglich der Roma-Minderheit einbezogen.« Der Roma-Minderheit fehle es an politischer Repräsentation: »Sie hat kein institutionelles System und keine finanziellen Ressourcen, um ihre Kultur zu fördern.«

So liegt das Roma-Parlarment im 8. Bezirk von Budapest derzeitig brach, weil gerade mal das Geld für die Miete, nicht aber für Heizung oder Druckerpapier aufgebracht werden kann. Dároczi berichtet von einigen Aktionen, die sie mit der Roma-Organisation Phralipe durchgeführt habe, etwa, als sie Nahrung und Feuerholz für Bedürftige gesammelt haben, um es in die ärmsten Dörfer zu bringen. Die Hilfsaktion der Roma für die Bedürftigen, egal mit welchem ethnischen Hintergrund, sei allerdings gescheitert: »Die Bürgermeister wiesen unsere Hilfe zurück.« Weil sie von Roma kam.
Als Kulturwissenschaftlerin ist Dároczi seit Jahrzehnten darum bemüht, die Geschichte der Roma im kollektiven Gedächtnis lebendig zu halten. Sie verweist auf die Beteiligung an der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung 1848, die Bedeutung der Musiker, Kanonenbauer und Ziegelbrenner: »Es gibt in Ungarn keine Straße, kein Dorf, kein Haus, das ohne Hilfe der Roma erbaut worden ist.« Eine Studie von Gábor Bernáth und Vera Messing, die das Bild der Roma in den ungarischen Medien analysiert, kommt zu dem Schluss, dass Roma fast ausschließlich im Zusammenhang mit Kriminalität öffentlich wahrgenommen werden.
Dároczi betrachtet das fehlende Wissen der ungarischen Mehrheitsgesellschaft um den Genozid an Sinti und Roma als eine Ursache für die heutige Lage der Minderheit.
Sie berichtet darüber, wie das sozialistische Regime mit Roma umging: »Nur ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Roma mit denselben Problemen konfrontiert: Konflikte mit der Mehrheitsgesellschaft, mit der Polizei und am Arbeitsplatz. Regelmäßige Razzien wurden von der Polizei durchgeführt. Regelmäßige Zwangsmaßnahmen, um die Roma ›rein‹ zu halten, regelrechte Zwangswaschungen.« Sie stockt, denn sie hat es selbst erlebt: »Sie kamen mit Zelten und mit Desinfektionsmitteln, die Roma sollten sich in einer Reihe aufstellen und einem nach dem anderen wurden die Haare geschnitten und sie wurden mit diesem Desinfektionszeug ›gesund gemacht‹. Danach mussten sie in die Duschen.« Sie sagt das Wort auf Deutsch.
»Das wahre Problem, mit dem wir es zu tun haben, heißt Rassismus. Das hindert uns daran, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein.«
Als die Feuerwehr am 11. Februar 2012 am Haus der Familie Farkas eintraf und das Feuer löschte, kam auch der Bürgermeister. Er habe gelacht und sei wieder weggefahren, erzählt János Farkas, der Vater, der zurückgekommen war, um einen Freund zur Bushaltestelle ins benachbarte Gyöngyös zu fahren, und sein Haus in Flammen stehend fand. Die Brandursache gilt nach wie vor als ungeklärt.
János Farkas ist nur froh, dass seine Familie nicht erschossen wurde, wie es am 22. Februar 2009 in der Stadt Tatarszentgyörgy geschehen war. Damals war ein Brandsatz auf das Hausdach der Familie Csorba geworfen worden. Als die Familie aus dem Haus floh, wurde mit einer Schrotflinte auf sie geschossen. Der 27jährige Vater, Robert Csorba, und sein fünfjähriger Sohn Robert starben noch vor Ort. Die Feuerwehr fand keine Hinweise auf Fremdeinwirkung. Der Arzt habe keine Schusswunden feststellen, die Polizei weder Hülsen noch Kugeln finden können.
Seit 2009 sind in Ungarn mindestens 19 Brandanschläge und Angriffe mit tödlichen Waffen auf Roma verübt worden. Elf Menschen starben bei rassistischen Angriffen.
An einem Laternenmast neben dem Haus der Familie Farkas war in Folge der Aufmärsche eine Kamera installiert worden, die wohl eher dazu diente, die Familie zu überwachen, als sie zu schützen. Die Kamera filmte auch in der Nacht am 11. Februar das Haus. Das aufgezeichnete Material dürfte Hinweise auf den tatsächlichen Hergang liefern – möglicherweise ließe sich gar die Anschlagsthese entkräften. Die Polizei baute das Gerät auch gleich nach dem Brand ab und verwahrte es. Das leere Plastikgehäuse, unter dem es sich befand, hängt noch da. Weder die Familie Farkas noch Menschenrechtsorganisationen dürfen Einblick in das aufgezeichnete Material nehmen. Fremdeinwirkung ist ausgeschlossen.