»Antideutsche« Stimmung in Italien

Die Rhetorik wird schrill

Während Berlusconis Hausblatt ein »Viertes Reich« in Europa heraufziehen sieht, geißelt der Generalsekretär der CSU, Alexander Dobrindt, die »Gier« des italienischen Ministerpräsidenten »nach deutschen Steuergeldern«.

Der offene Chauvinismus, der die deutsch-italienischen Beziehungen in jüngster Zeit prägt, erklärt sich nicht aus der fehlenden Aufarbeitung der vergangenen Kriege, er kündet vielmehr von den kommenden Kämpfen. Darüber kann auch die rückwärtsgewandte Metaphorik der rechten Tageszeitung Il Giornale nicht hinwegtäuschen. Das Hausorgan der Familie Berlusconi verglich die letzte Sitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) Anfang August mit der Münchner Viermächtekonferenz von 1938. Wie damals hätten sich die versammelten Großmächte einschüchtern lassen und den Forderungen Deutschlands nachgegeben. Die Entscheidung der EZB, kurzfristige Staatsanleihen verschuldeter Euro-Staaten erst zu kaufen, wenn diese offiziell unter dem von der EU-Kommission kontrollierten Euro-»Rettungs­schirm« stünden, wurde allgemein als »deutscher Sieg« gewertet. Für Il Giornale befindet sich Italien schon nicht mehr in Europa, sondern im »Vierten Reich«. Die Wirtschaftszeitung Il Sole 24 ore erklärte, es sei ein »neues Feudalsystem« eingerichtet worden, das den Schuldnerstaaten die totale wirtschaftliche Unterwerfung abverlange. Sollte Italien zwecks Senkung seiner anhaltend hohen Risikozuschläge gezwungen sein, die EZB um Ankäufe auf dem Anleihemarkt zu bitten, dann wäre – so das Wirtschaftsblatt weiter – der anstehende Wahlkampf eine »sinnlose rhetorische Übung«, denn die italienische Wirtschafts- und Sozialpolitik würde endgültig von den Auflagen der EU bestimmt.
Die Aufregung, die Mario Montis Spiegel-Interview vergangene Woche ausgelöst hat, muss vor diesem Hintergrund verstanden werden. Der italienische Ministerpräsident berichtet darin von antideutschen Ressentiments in seinem Land. Er legt außerdem nahe, dass die feindselige Stimmung begründet und insbesondere die deutsche Politik für die Anzeichen einer »psychologischen Auflösung Europas« verantwortlich ist. Mit professoraler Akribie zählt er auf, was die deutsche Propaganda gegen die Südländer gerne verschweigt: dass die Zahlungen zur Rettung des griechischen und spanischen Bankensektors auch den deutschen Geldinstituten zugute kommen, somit ins eigene Land zurückfließen, und dass Deutschland auch infolge der hohen Renditen, die Italien für seine Staatsanleihen zahlen muss, von einem niedrigen Zinssatz für die eigenen Anleihen profitiert. Wie zur Bestätigung Montis übergingen die deutschen Kommentatoren diese Interviewpassagen, stattdessen echauffierten sie sich einhellig über Montis Bemerkung, die europäischen Regierungen müssten ihre Parlamente erziehen und eventuell auch gegen deren Vorgaben eine engere europäische Integration vorantreiben. Aus der SPD kam der Vorwurf, es mangele in Italien offensichtlich an »Parlamentsverständnis«, der Generalsekretär der CSU, Alexander Dobrindt, sprach sogar von einem »Anschlag auf die Demokratie« und meinte: »Die Gier nach deutschen Steuergeldern treibt bei Herrn Monti undemokratische Blüten.«

Die deutsche Empörung über Montis Offenheit ist pure Heuchelei. Erst im November vergangenen Jahres hatte die Bundesregierung vermittelt durch die EU-Kommission Berlusconis Rücktritt erzwungen und auf die Nominierung ihres Wunschkandidaten Monti zum neuen Ministerpräsidenten gedrängt. Um einen vermeintlich bevorstehenden Staatsbankrott abzuwehren, wurden damals Neuwahlen verhindert. Eine Regierung aus Technokraten wurde eingesetzt, die seither von einer parteiübergreifenden Parlamentsmehrheit getragen wird. Doch Monti hätte seine rigide Haushalts- und Strukturpolitik in den vergangenen Monaten kaum durchsetzen können, hätte er nicht die im Spiegel-Interview geforderte »Erziehung« selbst praktiziert und das Parlament mit einer Serie von mehr als 30 Vertrauensabstimmungen auf die Staatsräson verpflichtet.
Derzeit deutet jedoch einiges darauf hin, dass Monti diese Politik nicht bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2013 durchhalten kann und es noch in diesem Jahr zu vorgezogenen Neuwahlen kommt. Die jüngsten Zahlen des Statistikamtes bestätigen, dass die italienische Wirtschaftleistung weiter sinkt, das Land befindet sich in einer anhaltenden Rezession. Unter diesen Umständen sind die von der Regierung beschlossenen Abgabeerhöhungen bei gleichzeitiger Kürzung der Renten- und Sozialausgaben mehr als unpopulär. Die Verarmung der Mittelschicht ist in den vergangenen Monaten rasant fortgeschritten. Der Konsens, der die Notstandsregierung trägt, schwindet. Monti befindet sich im Wahlkampf. Deshalb bat er im Spiegel seine deutschen Freunde um eine »moralische Unterstützung« für seine Politik. Prompt hielt ihm der Italien-Korrespondent der FAZ seine »unerledigten Hausaufgaben« vor. Die Reformen ließen noch »viel Raum für Verbesserung«, vor allem hinsichtlich der Eindämmung des Einflusses »rückwärtsgewandter« Gewerkschaften. Die Schelte für Monti zeigt, dass man fürchtet, in Italien könnte sich aufgrund von sozialen Kämpfen die gewünschte Austeritätspolitik nicht dauerhaft durchsetzen lassen. Die deutsche Politik könnte deshalb versucht sein, zukünftig auf die Einmischung in die italienische Regierungsbildung zu verzichten und das Auseinanderbrechen der Euro-Zone einzukalkulieren.

Tatsächlich ist derzeit noch nicht abzusehen, ob sich nach den Wahlen in Italien eine stabile Regierungskoalition bilden kann. Berlusconis Ankündigung, erneut zu kandidieren, konterte Monti in einem Interview mit dem Wall Street Journal vorige Woche mit der Behauptung, ohne eine Ablösung der rechten Regierung wäre die Situation am Anleihemarkt für Italien untragbar geworden. Umfragen zufolge ist mit einer Wiederwahl eines von Berlusconi geführten Rechtsbündnisses kaum zu rechnen. Gegenwärtig würde wohl der Partito Democratico (PD) die relative Mehrheit der Sitze gewinnen, doch noch ist unklar, mit wem die Linksliberalen regieren wollen oder können. Der rechte Parteiflügel steht loyal zu Montis Regierung und seinem europapolitischen Kurs. Er tendiert deshalb zu einem Bündnis mit der katholischen Zentrumspartei UDC. Diese sieht wieder einmal die Chance für die Auferstehung einer großen christdemokratischen Partei gekommen und würde am liebsten mit Monti und seinen Ministern weiterregieren. Weite Teile des PD unter Führung des Parteivorsitzenden Pier Luigi Bersani favorisieren dagegen ein breites Mitte-Links-Bündnis mit Nichi Vendolas Linkspartei SEL, die wohl mit dem PD koalieren würde, ein Bündnis mit der UDC aber kategorisch ausschließt.
Dass es der parlamentarischen Linken nunmehr seit Jahren nicht gelingt, die anachronistische Aufspaltung in eine sozialliberale und eine zivilgesellschaftlich orientierte Partei zu überwinden, ist für viele linke Wähler nicht mehr akzeptabel. Viele haben sich resigniert von der Politik abgewandt oder sich in ihrem Frust populistischen Bewegungen angeschlossen. Vor allem die von dem Starkomiker Beppe Grillo über einen Internetblog angeführte »Fünf-Sterne-Bewegung« erfreut sich großen Zulaufs. Allein ein neues Wahlgesetz, das noch vor den anstehenden Wahlen verabschiedet werden soll, könnte zu programmatischen Absprachen der beiden linken Parteien führen, andernfalls droht der linken Wählerschaft eine weitere Zersplitterung und damit die fortgesetzte politische Bedeutungslosigkeit.
Für die postoperaistischen Theoretiker des autonomen Netzwerks Uninomade scheint ein mindestens zeitweiliger Ausstieg Italiens aus der Euro-Zone unumgänglich. Sie sehen die einzige Chance für eine andere Europa-Politik in der Reorganisation und Ausweitung der sozialen Kämpfe. Doch ihre Betonung der »außerordentlichen Bedeutung des Mittelmeerraums« ist kaum mehr als eine Beschwörungsformel. Viel zu lange haben die italienischen Linken der hippen deutschen Hauptstadtkultur gefrönt, anstatt sich kritisch mit der Berliner Großmachtpolitik auseinanderzusetzen.