Was kosten die Drinks?

»Ich bin ein Berliner«, sagte ein US-Präsident. Aber sind wir nicht vielmehr alle irgendwie Touristen? Autoren berichten von ihren Erfahrungen mit Fremdenverkehrsteilnehmern.

Mit dem falschen Pullover am falschen Ort
von Leo Fischer
Es hat so kommen müssen. Nach Jahrzehnten der splendid isolation musste sich die westdeutsche Enklave Berlin nach und nach dem Fremdenfeindlichkeitsniveau der anderen ostdeutschen Bundesländer angleichen. Dass dieser Chauvinismus ein spezifisch hauptstädtisches, cool-hippes Gepräge hat und sich als lässiger Kampf gegen Verschwabung und Tourifizierung inszeniert, macht ihn nicht sympathischer.
Ich selbst reise nur mehr in Notfällen in die Stadt, nicht mehr als Tourist. Grund: der Rollkragen-Incident. Vor vielen Jahren luden mich Freunde, bei denen ich nächtigte, in die Kreuzberger Pizzeria »C.« ein, die für die Unverschämtheit ihrer Kellner legendär ist – unter der ich jedoch weniger leiden sollte als unter dem Umstand, dass ich zu diesem Anlass einen Rollkragenpullover trug. Keinen besonders eleganten; ein klobiges, spackiges Ding – das dennoch sofort die Aufmerksamkeit unserer Tischnachbarn auf sich zog. Sie unterhielten sich fortan über das »Spießerteil«, über »Yuppietypen«, die den »autonomen Kiez« ruinierten: »Und das in einem Laden, der von Ex-Punks geführt wird!« Dies wohlgemerkt entquoll dem Munde von Leuten, die gerade Wein um 40 Euro die Flasche tranken und deren Haut nicht vom Tränengas, sondern von der Fettleber gezeichnet war. Die brutale Gäste­extraktion im »C.« sorgte zwar dafür, dass diese Humanirrtümer flugs gegangen und durch zwei spargelige Studenten ersetzt wurden. Wie erstaunt aber waren wir, als die beiden sofort ins gleiche Horn stießen: und im Rolli ihr einziges Gesprächsthema hatten. Zunächst auf Deutsch, später bizarrerweise in der Geheimsprache Englisch wurde die Unmöglichkeit des Pullis thematisiert: Er stünde dafür, dass die »anarchy« in der »neighbourhood« vor die Hunde (»dogs«) gehe etc. Nachdem der Kellner beim Kassieren punky an meinem Kragen gezupft hatte, traten wir den Heimweg an. Freundin S. versuchte, mich in ihrer Jacke zu bergen – umsonst: Eine Gruppe junger Türken fühlte sich provoziert (»Ey, voll der Künstler!«) und folgte uns. Die Flucht aus der modischen Sperrzone war beschwerlich. Kein Taxi wollte für einen Rolliträger halten. Am nächsten Morgen fanden wir Bilder von uns in der Zeitung: »Touris machen den Kiez kaputt!« Meine Gastgeber sagten mir, dass ich nun zu gehen habe. Sie liebten mich heiß und innig, doch wollten sie nicht in den Ruch kommen, auf ihrem Dachboden Touris zu verstecken. Ich schloss mich einer Gruppe von Jeansjackenträgern an. Eine Zeitlang lebten wir im Untergrund, dann bezahlten wir einen Schleuser und ließen uns in die weltoffene und tolerante Provinz bringen. Heute halte ich in Schulklassen Referate über diese Zeit. Die Leute müssen erfahren, was in den östlichen Autonomiegebieten geschieht.

Wie die Panzer, wie die Fliegen
von Thomas Blum
Viel ist in jüngster Zeit geschrieben worden über den Touristen, der mit seiner bloßen Anwesenheit dafür sorge, dass aus dem ehemals lieblichsten Ort, an dem man sich fühlte wie in einem Eichendorff-Gedicht, eine stinkende Jauchegrube wird. Die Wahrheit ist: Alles davon ist wahr.
Wie ein von unsichtbarer Hand ausgesandter Spähertrupp macht sich an besagtem Ort erst unmerklich, dann penetrant das Künstlerpack breit und sondiert mit seinem unfehlbaren Kon­trollblick und seinen drei W-Fragen das Gelände: Wem kann ich hier das Geld aus der Tasche ziehen? Was kosten hier die Drinks? Wo gibt’s hier was umsonst? Ihm folgt der Tourist wie die Fliege dem Gestank. Hat der Tourist einmal einen Ort für sich entdeckt, ist dieser auf immer verloren.
Was den Invasoren ihre Panzer sind, ist dem Touristen sein Rollkoffer: Mit ihm marschiert er ein, mit ihm macht er trommelfellzerfetzenden Krach, mit ihm erobert und kolonisiert er ungesichertes Gelände und macht es binnen Jahresfrist zur Wüstenei. Wie die Borg assimiliert er ruckzuck alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Sein Konzept ist die rücksichtslose Expansion im Universum. Er kennt weder Gnade noch Gefühle wie Mitleid, Schuld oder ähnliches. Und wo man vom Touristen assimiliert wurde (Prenzlauer Berg, Kreuzberg), hat man Mühe, seine Individualität zu entdecken und wieder zum Menschen zu werden.
Wohin der Tourist seinen Fuß auch setzt, sind die Abzocker, Reibachmacher und Parasiten, die ihm und seiner Geldbörse folgen wie die Hyänen dem Verwundeten, nicht weit: Unmerklich zockelt dem Touristen stets eine Kolonne aus Würstchenbudenerrichtern, Laptoptrotteln, Werbeagenturbetreibern, Location Scouts, Modedesignern, Fernsehköchen, Grundstücksspekulanten, Schwaben und anderen Schurken hinterher, die das vom Touristen eroberte Terrain eilig inspizieren, absichern, aufteilen und dessen Totalausschlachtung organisieren. Wo Leben war, soll Ödnis werden.
Die kleine Gasse, in der noch vor Wochenfrist so pittoresk der Putz von den Gründerzeitbauten bröckelte, wird im Handumdrehen zur mit grellfarbenen Biomarkt-Filialen und »Gourmet-Tempeln« verstopften Fressmeile. Wo einst ein verkannter Pianist Lennie-Tristano-Stücke improvisierte, lärmen über Nacht plötzlich die »größten Hits der Siebziger, Achtziger und Neunziger« aus allen Rohren. Wo an lauen Sommerabenden heiteres Stimmengewirr und leises Gläserklirren erklang, erhebt sich allnächtlich ein undurchdringlicher Chor aus Mobiltelefonterrorgeklingel und geistzerschmetterndem Schlachtgebrüll (»Mir sin’ g’rad in dem Eirisch Pabb, wo’s Mauldasche’ un’ Drollinger gibt!«). Und wo das Maiglöcklein auf der Wiese drollig sein Köpflein hängen ließ, steht jetzt ein Parkhaus.
Der Schriftsteller David Foster Wallace hat dazu schon alles gesagt: »Als Tourist mag man ökonomisch bedeutsam sein, doch aus existentieller Sicht verwandelt man sich in eine widerwärtige Schmeißfliege auf einem Kadaver.« Wider­wärtiger und gemeiner noch als der Tourist ist nur einer: der Einheimische. Denn er bleibt hier und geht nicht wieder weg.

Voll einzigartig
von Doris Akrap
Ich habe nichts gegen Touristen. Mein erster Aufenthalt in dieser Stadt hatte zwar keinen touristischen Hintergrund, sondern diente der Wohnungssuche, aber die meisten Menschen, die heute die Touristen aus der Stadt vertreiben wollen – und das, wenn es sein muss, auch militant –, haben diese Stadt zum ersten Mal als Touristen besucht. Für mich war diese Stadt niemals touristisch attraktiv – außer Solei und Bulette gab es nichts zu essen, außer einem stinkenden Kanal kein Gewässer, an dem es sich zu sitzen lohnte, etc. –, die Berlin-Klischees sind alle genannt und längst überholt. Die Stadt hat sich verändert und das dank der Touristen. Die meisten, die heute über die den Bürgersteig vollkotzenden Touristen herziehen, sind eigentlich deswegen in diesen Berliner Kiez gezogen. Nur dass es früher deutsche Provinzpunks waren, die das Trottoir vollpissten und die Anwohner anpöbelten. Heute sind es brave Jungs und Mädchen aus dem Ausland, die sich halt mal die Kante geben.
Die Beschwerdeführer sind jene, die heute gut verdienen und die ihr Kreuzberger Loft nur genießen können, weil es eben das Bisschen Kaputtheit auf der Straße gibt, das ihnen Thrill und ein Image des Besonderen verschafft. Sie können in ihre Bewerbungsunterlagen schreiben, dass sie voll einzigartig sind, weil sie eben nicht an der Alster oder in Zehlendorf wohnen, sondern in Kreuzberg oder Neukölln.
Durch den Kreuzberger Kiez aber, in dem früher konservative bis rechte türkische Migranten jeden türkischstämmigen Schwulen dumm anmachten, laufen heute Hunderte türkischstämmige Schwule und teilen sich mit den konservativ bis rechten Moscheegängern den Kaisers. Und ein paar Groschen für die deutschen Alkis vor dem Supermarkt lassen auch eher mal die Touris fallen als die Loftbewohner.

Wer in Berlin wirklich nervt
Von Heiko Werning
Ach ja, Touristen in Berlin. Natürlich nerven die! Wie sie rechtschaffen übellaunige Berliner mit ihrer furchtbaren Lebensfreude provozieren! Wie sie durch die Straßen ziehen, sich betrinken und dabei offenkundig bester Laune sind. Haben die denn gar kein Feingefühl für die Bräuche der Einheimischen? Sehen die denn nicht, dass es sich hier nun einmal so gehört, durch die Straßen zu ziehen, sich zu betrinken und dabei offenkundig möglichst schlechter Laune zu sein? Und dann: Wie jung die oft sind, diese Touristen! Und wie gut die oft auch noch aussehen dabei! Ein Schlag ins Gesicht für jeden aufrechten Berliner. Da ziehen sie saufend von Späti zu Späti und produzieren dabei unentwegt Lärm, und dazwischen kotzen und pinkeln sie in die Hauseingänge der Berliner. Man muss ja nur mal hingehen, in die Touristen-Ecken von Kreuzkölln, Friedrichshain, Prenzlauer Berg oder Mitte. Lärm, überall Lärm! Wo doch jeder weiß, dass der Berliner, der in Kreuzkölln, Friedrichshain, Prenzlauer Berg oder Mitte wohnt, vor allem deswegen dort wohnt, damit er seine Ruhe hat. Denn wozu ist der Berliner, der in Kreuzkölln, Friedrichshain, Prenzlauer Berg oder Mitte wohnt, schließlich überhaupt hierher gezogen? Damals, aus Hildesheim oder Tuttlingen oder Jena-Paradies oder Quakenbrück. Genau, damit er endlich mal seine Ruhe hat!
Wie gut, dass ich im Wedding lebe. Wenn ich nachts über das Erbrochene in unserem Hauseingang steige, dann weiß ich wenigstens, dass das autochthone Kotze ist, die niemals je ein Tourist betreten hat. Und ich kann mich daran erfreuen, dass das Gegröle nachts auf der Seestraße noch authentisch ist von echtem, einheimischem Prekariat, von wirklichen sozialschwachen Urberlinern.
Die Touristen sind fast so unerträglich wie jene sich offenkundig aus geistiger Verwirrung als links empfindenden Berliner in Kreuzkölln, Friedrichshain, Prenzlauer Berg oder Mitte, die sich jetzt allen Ernstes über die Touristen beschweren, weil sie einfach zu viele geworden sind, sich schlecht benehmen und weil sie, die Original-Berliner, sich deshalb fremd im eigenen Kiez fühlen. Man muss in der Klage so eines linken Szene-Berliners nur das Wort Touristen gegen Türken austauschen, schon hätte man einen 1a-Originalton der Sarrazin-Fans und Heimatschutz-Aktivisten. Man kann also durchaus präzise zusammenfassen: Sie nerven einfach alle. Das Problem Berlins sind die Menschen, die sich darin aufhalten.
Nun könnte man natürlich fragen: Wieso zum Teufel bist du dann überhaupt hier? Die Antwort ist einfach: Ich bin aus Westfalen zugereist. Ich weiß, wie das ist, dort zu wohnen, wo es keine Sushi-Bars und keine Spätkäufe gibt. Und über die Landbevölkerung da haben wir ja noch gar nicht geredet.