Antifa-Politik in Deutschland nach den Pogromen

Der rassistische Konsens

Rostock-Lichtenhagen war eine politische Zäsur, die den Rassismus der Bevölkerung ins Zentrum der politischen Analyse rückte. Eine Erinnerung an die Tage der Gewalt in Rostock, die Wut und die Hilflosigkeit.

Es kam in den Nachrichten. Immer wieder: Aufgebrachte Bürger protestierten vor der Rostocker Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast). Das ganze Wochenende vom 22. und 23. August 1992 war es Thema, im Radio, im Fernsehen. Seit zwei Jahren gehörte Rostock zur Bundesrepublik, die nationale Euphorie nach dem 9. November 1989 hatte sich bis zur offiziellen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 gesteigert. Und nun, im August 1992, bekamen wir in Hamburg nahezu live mit, wie sich 150 Kilometer östlich ein brutaler Rassismus austobte. Die Bilder waren schlimm. Per Telefonkette wurde zu einer gemeinsamen Fahrt nach Rostock mobilisiert. Am Sonntagnachmittag fuhren wir mit einigen Leuten aus dem Umkreis des Antirassistischen Telefons los. Wir von der Gruppe K., einer kleinen kommunistischen, antideutschen Organisation, hatten uns intensiv mit Rassismustheorien beschäftigt, mit der Gefahr einer Faschisierung von unten in Folge der Nationwerdung von Staat und Gesellschaft nach 1989.
So waren wir zwar theoretisch vorbereitet auf das, was uns in Rostock erwartete, die Realität aber war für uns alle ein Schock. Wir fuhren zunächst dorthin, wo sich die angereisten radikalen Linken, Antifaschisten und Antirassisten sammelten, ins Jugend-Alternativ-Zentrum (JAZ) am Rosengarten, mitten in der Stadt. Dort bekamen wir mit, wie die Lage in Rostock-Lichtenhagen eskalierte. Stundenlang wurde beratschlagt. Insgesamt waren wir rund 200 Leute. Nicht genug, um etwas zu unternehmen gegen die spontane Zusammenrottung des Mobs aus Beifall klatschenden Anwohnern, angreifenden Jugendlichen und Neonazis, die sich dazwischen wie Fische im Wasser bewegten.

Am Sonntagabend waren es wohl rund 3 000 Deutsche, die grölend und klatschend vor der Zast und dem Wohnheim standen. »Vorne standen die Jugendlichen mit Steinen und Molotow-Cocktails«, schildert Adriana Majchrzyk vom Verein für Frieden und Menschenrechte in Rostock in dem Film »The Truth Lies in Rostock« die Szenerie. »Alle haben jeden Steinwurf, jeden Molotow-Cocktail begrüßt. So viel Hass habe ich noch nie zuvor in meinem Leben erlebt.« Majchrzyk war in den angegriffenen Häusern und dokumentierte die Angriffe aus der Perspektive der Opfer.
Die Polizei ließ die Angreifenden weitgehend gewähren und agierte tagelang defensiv. Der Rostocker Polizeidirektor, Siegfried Kordus, rechtfertigte sich später mit er Aussage, er könne doch nicht auf Bürgerproteste mit behelmten Hundertschaften reagieren. Erst nachts gelang es 300 Antirassistinnen und Antirassisten aus dem JAZ, nach Lichtenhagen zu fahren. Mit Autos nach Lütten Klein, von dort zu Fuß zum Sonnenblumenhaus.
Dort gelang es gegen ein Uhr nachts mit einer spontanen Demonstration in Ketten, die Restmenge der Angreifenden kurzzeitig zu verjagen und Parolen rufend durch den schlafenden Stadtteil zu ziehen. In einigen Rückblicken wird diese Demonstration als ein Moment der Stärke interpretiert. Für mich persönlich war es das Gegenteil. Erst als alles vorbei war, konnten wir auftreten. Auf dem Rückweg zum JAZ zeigte die Polizei noch einmal, was sie kann, wenn sie will, und verhaftete 60 Antifaschistinnen und Antifaschisten.
Am Montag wurde die überfüllte Zast geräumt. Am frühen Abend ging das rassistische Volksfest wieder los. Gegen neun Uhr abends zog die Polizei vollständig ab. Wieder die dumpfen Sprechchöre aus Tausenden Kehlen: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« Dann gingen einige Jugendliche aus der Menge in die Häuser hinein, zerschlugen in den unteren Stockwerken die Wohnungseinrichtung und versuchten, Feuer zu legen. Schließlich brannte eines der Hochhäuser lichterloh, über mehrere Stockwerke. Die Menschenmenge hinderte die Feuerwehr daran, einzugreifen. Keine Polizei, nirgends. Die 150 vietnamesischen Vertragsarbeiter und Unterstützer, die im Haus waren, konnten sich retten. Hilfe von außen gab es nicht. Nicht von uns, die wir im JAZ voller Wut ohnmächtig dasaßen, nicht von der Polizei oder der Feuerwehr. Überall Rauch, die Fluchttür war versperrt und musste aufgebrochen werden. Zwei Vertragsarbeiter filmten dies mit Videokameras. Im Nachbarhaus angekommen, klingelten sie an den Wohnungstüren. Es dauerte, bis sich Mieter fanden, die ihnen die Türen öffneten. Obwohl Kleinkinder und Schwangere unter ihnen waren. Zu sehen ist dies im Film »The Truth Lies in Rostock«, der in beklemmender Weise die Situation aus den angegriffenen Häusern heraus beschreibt und das Wohnheim am Morgen danach zeigt: ausgebrannt, zerstört.
So skandalös es war, dass die örtliche Polizeiführung und viele Politiker gegenüber der rassistischen Gewalt tagelang passiv blieben, diese gar rechtfertigten – so wichtig ist es, dass sich linke Kritik nicht auf diese Tatsachen beschränkt. Die Bedeutung der rassistischen Gewalt von Rostock-Lichtenhagen liegt im punktuellen Zusammengehen von Anwohnern und Stiefelnazis bei der rassistischen Belagerung. Rostock-Lichtenhagen steht für eine Zäsur. Dies sollte nicht aktionistisch weggeredet werden, etwa in Gedankenspielen wie: Was wäre, wenn wir nur entschlossener oder mehr gewesen wären …

Es gibt eine Antifa-Praxis vor und nach Hoyerswerda und Lichtenhagen. Ende 1992 entstanden die »Wohlfahrtsausschüsse«, die 1993 unter dem Motto »Etwas besseres als die Nation« eine Konzerttournee durch die ehemalige DDR organisierten, um so dem nationalen Taumel etwas entgegenzusetzen, das über eine sich nur an den Nazis abarbeitende antifaschitische Politik hinausging. Vor den Pogromen war es antifaschistischer Konsens, davon auszugehen, dass man mit der bürgerlichen Mehrheit ein gemeinsames Interesse am Kampf gegen die Neonazis teile, und man könne sich als Antifa weitgehend auf das notwendige Vorgehen gegen Stiefelnazis beschränken. Nach Rostock und Hoyerswerda gab es Strömungen, die sich der postnazistischen Realität stellten und eine antifaschistische Politik gegen den gesellschaftlichen Konsens mit antirassistischen Inhalten angingen. Eine Politik, die sich speziell der deutschen Realität stellt und nicht nur allgemein gegen Faschismus ist, sondern die postnazistischen Verhältnisse in Deutschland und die latente Gefahr brutaler Volksgemeinschaftlichkeit berücksichtigt. Dabei wurde nicht nur reflektiert, dass die politischen Inhalte der Nazis mehrheitsfähig sind, es wurde auch deutlich die Kritik formuliert, dass die gesellschaftliche Ausgrenzung von Neonazis nur eine formelle ist: Naziorganisationen sind pfui, schaden dem Ansehen Deutschlands, Nazis werden als rüpelig, ungebildet und als Unterschichtenphänomen gesehen. Als ob das Problem bei den Pogromen vom August 1992 Dosenbier und die vollgepinkelten Jogginghosen, die auf einem berühmt gewordenen Foto zu sehen sind, gewesen wären.
Rostock-Lichtenhagen war eine nachholende konformistische Rebellion, bei der er um die Anerkennung als vollwertige Deutsche ging. In der besonderen Verachtung für die vor der Zast auf Asyl hoffenden Roma aus Osteuropa, die in Lichtenhagen von vielen auf der Straße offen ausgesprochen wurde, kam ein deutsches antiziganistisches Motiv zum Vorschein: »Wir wollen als Deutsche wertarbeiten, mitschuften dürfen«, ganz anders als diese von ihnen als schmutzig und faul imaginierten »Wirtschaftsscheinasylanten«. Die panische Angst, als Ostdeutsche nicht als arbeitswütige vollwertige Deutsche zu gelten – auch sie entlud sich gewalttätig in Lichtenhagen.
Noch bei der Demonstration eine Woche nach den Angriffen am 29. August 1992 riefen viele Autonome und Antifaschisten: »Die Ausländer sind die falsche Adresse, haut den Politikern auf die Fresse!«. Als ob die tagelange militante Belagerung der Asylunterkunft nur ein Missverständnis gewesen wäre. Dieser hilflos erscheinende Beratungsversuch interpretierte den Gewalt zumindest akzeptierenden Rassismus der Lichtenhagener Mehrheitsbevölkerung paternalistisch als fehlgeleiteten Unmut, der sich »eigentlich« gegen die Politiker zu richten habe. Gerne wurde auch gerufen: »Hinter dem Faschismus steht das Kapital, der Kampf um Befeiung ist international!« Dass nicht das Kapital dafür verantwortlich war, wenn sich Tausende Anwohner als applaudierende Masse zu den militanten Neonazis gesellten, die ein von Nichtdeutschen bewohntes Hochhaus in Brand steckten, wollten sie nicht erkennen. Rassismus kommt in diesem simplen Weltbild nur als Ideologie der Herrschenden vor, nicht als auch von »unten« wirkungsmächtige Ideologie, die dort durchaus eine eigenständige Dynamik entwickeln kann.