Abdruck aus: »Die Kunst des Liegens. Handbuch der horizontalen Lebensform«

Liegen bleiben

Zur Kulturgeschichte einer vernachlässigten Lebensform.

Regelmäßiger Schlaf, diese bewusstlose Auszeit, ist eine physiologische Notwendigkeit. Wenn Menschen häufig schlecht schlafen, beeinträchtigt das ihre geistigen und körperlichen Funktionen, sie werden reizbar und verwirrt, und wenn sie überhaupt nicht schlafen können, sterben sie. Ein extremes Beispiel dafür ist die fatal familial insomnia, die tödliche familiäre Schlaflosigkeit. Es ist eine überaus seltene, erst seit einem Vierteljahrhundert bekannte und bis dato nicht heilbare Erbkrankheit, von der ganze Familien betroffen sind. Die genetische Mutation ist dieselbe, die auch für die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit typisch ist.
Aber was ist eigentlich der Schlaf? Wissenschaftler und Philosophen früherer Zeiten haben zum Teil erstaunliche Erklärungen auf diese Frage gegeben: Aristoteles meinte, die Nahrung führe zu einer Ausdünstung in den Adern, welche sich im Kopf sammelt und Schläfrigkeit auslöst. Zu einer Zeit, als man meinte, vieles auf der Grundlage von chemischen Vorgängen erklären zu können, führte Alexander von Humboldt den Schlaf auf Sauerstoffmangel zurück. Heute verstehen wir die Prozesse während des Schlafens viel besser, aber noch längst sind nicht alle Fragen gelöst. Sicher ist, dass der Schlaf als Unterbrechung des Wachbewusstseins eine gewisse Wahrnehmungsmauer aufbaut, die aber anfällig gegenüber äußeren Sinnesreizen bleibt. Doch in mancherlei Hinsicht ist der Schlaf bis heute ein blinder Fleck. Wie wir Tag und Nacht gestalten, welchen Grad der Aktivität wir in den verschiedenen Phasen erreichen und ob sie physisch oder mental ist – all das ist auf vielschich­tige Weise miteinander verbunden und voneinander abhängig. Friedrich Nietzsche schrieb einmal: »Schlafen ist kein geringes Kunststück, denn man muss den ganzen Tag dafür wach bleiben.« Liegen und Schlafen sind mehr als nur Vorbereitungen für das Stehen, Laufen, Sitzen und alle anderen Aktivitäten. Der Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley charakterisiert das Schlafen schlicht als »eine andere Form des Wachens«, dessen Nutzen sich im Übrigen nicht an der Dauer, sondern an der Qualität bemisst. Womöglich dreht man sich mit all den Fragen danach, was eigentlich den Schlaf ausmacht, sogar ganz im Kreise: Im Grunde ist das Wachsein ebenso erklärungsbedürftig wie der Schlaf. Warum sind wir wach? Und wenn man schon dabei ist: Warum leben wir? »Das Leben kann nicht ohne den Tod gedacht werden«, schrieb der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio in seinem grandiosen Buch »Vom Alter«, und genau dasselbe gilt wohl eben auch für das Verhältnis von Wachen und Schlafen.
Was passiert, physiologisch gesehen, beim Hinlegen und was beim Aufstehen? Der Blutdruck ist in den herznahen Schlagadern am größten und sinkt, je weiter das Blut durch den Körper fließt, bis er in den Venen am rechten Vorhof des Herzens nahezu null beträgt. Da im Liegen alle Blutgefäße in horizontaler Ebene verlaufen und das Blutvolumen somit nur wenige Zentimeter hoch ist, ist der Anteil des sogenannten hydrostatischen Drucks am Gesamtblutdruck gering. Anders formuliert: Das Herz muss in der horizontalen Schlafhaltung kein Gefälle zwischen Beinen und Herz überwinden. Wenn man sich hinlegt, schwellen die Venen im Kopf- und Halsbereich sichtbar an, Halsschlagader und auch Schläfenarterie pulsieren stärker. Manchmal stellen sich vorübergehend Kopfschmerzen und Gedankenverwirrung ein. Diese Symptome verstärken sich noch, wenn der Kopf im Verhältnis zum übrigen Körper tiefer liegt. Beim Aufrichten gewinnt der hydrostatische Druck an Bedeutung, da sich nun die Höhe der Flüssigkeitssäule ändert und die Höhenunterschiede in den Gefäßen größer werden. Im Kopf-Hals-Bereich, etwa in den zum Kopf hinführenden Arterien, nimmt der Druck schlagartig ab, in den Beinarterien dagegen zu. Geht das Aufstehen sehr schnell, kann es zu einer Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff kommen. Dann droht ein Kreislaufkollaps.

Schlafen und Erwachen

Liegt man erst einmal, ist der Schlaf – die entsprechende Disposition dazu vorausgesetzt – nicht mehr weit. Obwohl sich der Übergang vom Wachen zum Schlafen selbstverständlich vollzieht, kann man zwar günstige Voraussetzungen schaffen, ihn aber nicht bis ins Letzte planen; es bleibt ein Moment der Unbeherrschbar- und Unberechenbarkeit. Die Augen schließen sich, die Muskeln, auch die des Halses und Nackens, werden in ihrer Aktivität herabgesetzt, der Körper wird von einem Schweregefühl erfasst. Die Gedanken verlieren an Kontur, das Nachdenken hört auf. Das Gefühl für den Raum geht verloren, man gibt die Kontrolle ab, das Bewusstsein schwindet. Nur wenn man sehr müde ist, gelingt es, unter starken Geräuschen oder anderen Außenreizen einzuschlafen, ansonsten braucht man das Gefühl, vor Störungen, unangenehmen Überraschungen oder Gefahren – ob real oder imaginär – sicher zu sein. Manche Menschen, vor allem Kinder, haben Angst, sich der Nacht und dem Schlaf auszuliefern.
Für jemanden, der unter Schlaflosigkeit leidet, kann sich das Liegen im Wachzustand zum Albtraum entwickeln. Kann. Der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward W. Said, der spät zu Bett zu gehen und im Morgengrauen aufzustehen pflegte, wollte, wie er in seiner Autobiographie »Am falschen Ort« erläutert, den Schlaf immer so schnell wie möglich hinter sich bringen: »Schlaflosigkeit ist für mich ein hoch geschätzter Zustand, den ich mir um fast jeden Preis wünsche: Nichts anderes finde ich so belebend wie den frühen Morgen, wenn ich das schattenhafte Halbbewusstsein einer verlorenen Nacht abschüttle, wieder Bekanntschaft schließe mit mir selbst oder wieder aufnehme, was ein paar Stunden zuvor vollständig verloren schien.«
Schlaf kann angenehm und willkommen sein, voller Träume, die neue Möglichkeiten und Ho­rizonte eröffnen, sogar Lösungen bieten, einen Wunsch erfüllen, oder furchtbare Albträume bescheren. Vermutlich konnten Menschen, deren Lebensrhythmus nicht in ähnlichem Maße rigide eingetaktet war, wie es heute oft der Fall ist, bei allen Verpflichtungen und Zwängen etwas gelassener mit dem Schlaf und der für ihn opportun gedachten Zeit umgehen. Sie hatten auch nicht unter dem allgegenwärtigen Lärm zu leiden, der vielen Menschen heute das Durchschlafen erschwert.
Ob ein Mensch wach ist oder ob er schläft, ist für einen Beobachter erst dann festzustellen, wenn er sich ihm nähert und seinem Atem lauscht. Welten trennen die Innenwelt des Liegenden von jener des Schlafenden. Das Atmen ist im Schlaf gleichförmiger und langsamer. Der Körper arbeitet weiter: Die Bewegung der Gedärme setzt sich fort, so wie andere essentielle Körperfunktionen aufrechterhalten bleiben. Einmal in tiefen Schlaf gefallen, wird man selbst durch Hunger und Durst nicht mehr gestört.
Das Aufwachen kann von überaus unangenehmen Gefühlen begleitet sein, und dafür muss man nicht einmal wie Kafkas Gregor Samsa als Ungeziefer erwachen. Es klingt etwas paradox, aber man kann sich beim Aufwachen zerschlagener fühlen als vor dem Schlafengehen, und viele Menschen starten mit heftigen Rückenschmerzen in den Tag. Einen Schritt weiter in ihrer Interpretation geht die Schriftstellerin A. L. Kennedy: »Man sagt, Schlafen ist ein kleiner Tod, aber es ist doch eher das Aufwachen, das uns Grenzen setzt, Schmerzen zufügt, uns tötet.« Wie schon der Dichter Robert Burton im 17. Jahrhundert schrieb, muss »mit Schmerzen verbundenes Aufwachen unter allen Umständen vermieden werden«, will man der Melancholie vorbeugen. Doch wie erwacht man schmerzfrei, welche Vorbereitungen kann man dafür treffen? Legendär ist das Weckritual – das lever du Roi – von Ludwig XIV., der nicht weniger als sechs Adelsränge bemühte, um ihm die Phase des Weckens und Aufstehens mit diversen Handreichungen zu erleichtern. So mancher hat sich schon die Zähne an diesem Problem ausgebissen. Der schottische Schriftsteller James Boswell war von einem starken Schweregefühl geplagt, verwirrt und unwirsch, wenn er erwachte, oder »trübe wie ein Dromedar«. Er wünschte sich sehnlichst ein Mittel, das es ihm erlauben würde, sich ohne große Schmerzen aus dem Bett zu erheben, das die Unbeweglichkeit vertreiben und die Elastizität der Muskulatur wiederherstellen könnte. Das gelang ihm sonst nur, wenn er nach dem Aufwachen noch lange liegen geblieben war. Er stellte sich einen extra für diesen Zweck konstruierten Flaschenzug vor, der ihm helfen sollte, sich allmählich zu erheben, mutmaßte jedoch, dass ihm das nur weitere Schmerzen verursachen werde, weil es seiner Schief­lage zuwiderlaufen würde. Da er sich an Situationen erinnern konnte, in denen das Aufstehen von angenehmen Gefühlen begleitet war, wollte er die Hoffnung jedoch nicht aufgeben, ein Rezept zu finden: »Wir können den Körper erwärmen, wir können ihn kühlen. Wir können ihn in Spannung oder Entspannung versetzen; es ist sicherlich möglich, ihn in einen Zustand zu bringen, in dem das Sicherheben aus dem Bett nicht mit Schmerzen verbunden ist.« Aus physiologischer Sicht kommt es während der Schlafperiode nicht nur zu einer deutlichen Entspannung eines Teiles der Muskulatur, bei einigen Muskeln ergibt sich sogar eine leichte Verkürzung –man spricht von sogenannten »muskulären Dysbalancen«, Ungleichgewichte, die nach dem Aufstehen erst wieder ausgeglichen werden müssen. Das Räkeln und Strecken, das Dehnen von Armen und Rumpf, etwa während man auf der Bettkante sitzt, ist in diesem Sinne zuträglich, weil es genau diesen Ausgleich unterstützt.
Was passiert im psychologischen Sinne, wenn man erwacht? Im ersten Moment des Aufwachens wirkt der umgebende Raum oft fremd und es dauert ein paar Augenblicke, bis man sich die Situation vergegenwärtigt und sich mit Hilfe der Erinnerung darin wiederfindet und verortet. Es ist eine Art von Ambiguität, von Orientierungslosigkeit, die man nicht einmal als beunruhigend empfinden muss; sie kann sogar mit Lust verbunden sein. Es ist ein Zustand, der von der Ungewissheit des Bewusstseins zeugt. Die innere Landkarte im Kopf rekonstituiert sich erst schrittweise wieder, und es dauert einen Augenblick, bis sich das eigene Bewusstsein wieder aufbaut. Man hat kein Gefühl für oben und unten, horizontal oder vertikal. Zuerst nimmt man nur die Oberfläche wahr, auf der man liegt, bevor sich ein Gefühl für die Lage des Bettes im Raum, die umgebenden Möbel und Fenster einstellt. Marcel Proust hatte wie wohl kaum ein anderer eine scharfe Auffassungsgabe für die Empfindungen in solchen Übergangsmomenten: »Wenn ich mitten in der Nacht aufwachte, war ich nicht nur ohne eine Ahnung, wo ich mich befand – ich wusste im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war; ich hatte nur in aller Ureinfachheit das Gefühl des Daseins, wie es zittern mag im Innersten der Kreatur; entblößter war ich als der Höhlenmensch; aber dann kam die Erinnerung (…) und zog mich aus dem Nichts, aus dem ich ganz allein nicht hätte herauskommen können.« Vielleicht gibt es, wie Proust zu wissen glaubte, tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Situation beim Einschlafen und beim Aufwachen und dem Umstand, dass das Ungewohnte als besonders intensiv empfunden wird, wenn wir zu ungewohnter Zeit und in ungewohnter Position eingeschlafen sind. Proust ist für ein Verständnis der möglichen Assoziationen des Liegens eine zentrale Figur; mit seiner gesteigerten Sensibilität werden ihm auch zunächst überaus profan erscheinende Handlungen im Bett zum Schlüssel für Erinnerungen an die verlorene Zeit: »Zärtlich drückte ich meine Wange an die schönen Wangen des Kopfkissens, die in ihrer Fülle und Kühle wie die Wangen unserer Kindheit sind.«
Die Zeit vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen ist für manche Menschen auch der Zeitpunkt, an dem sich eine eigentümliche Wahrnehmungsstörung manifestiert: Obwohl sie sich faktisch in horizontaler Position befinden, haben sie den Eindruck, in die Vertikale zu geraten, aufzustehen. Man spricht von einer Entkörperung oder out of body experience, bei der sich Körper und Geist vorübergehend voneinander lösen und die offenbar dadurch hervorgerufen wird, dass die vielen Sinneseindrücke nicht sofort miteinander in Einklang gebracht werden können – wie das etwa im Zuge von epileptischen Anfällen oder Verletzungen der Fall sein kann.
Beim Aufstehen dann geraten die Dinge wieder in die Perspektive, die der Alltag von uns verlangt. Folgen wir einen Moment dem Philosophen Hans Blumenberg in seine »Theorie der Lebenswelt«: »Die Selbstaufrichtung in die Vertikalität vermehrt nicht nur das Quantum des Wahrnehmbaren, die Distanz seiner Wahrnehmbarkeit bis dahin, wo es noch nicht oder nicht mehr akut ist, sondern sie erzeugt auch Mittelbarkeit zu der Wahrnehmungswelt durch den Selbstvergleich des zum Menschen gewordenen Organismus mit seinesgleichen. Der höhere, nämlich aufgerichtete Mensch sieht und hört auch dadurch mehr, dass er sehen und hören für sich lassen kann, delegieren kann.« Aber, so möchte man hinzufügen: Es geht ihm eben auch einiges verloren.

Mechanisiertes Liegen

Die Revolutionen der Lebenswelt, die unsere Gesellschaften im 19. Jahrhundert erfassten, waren so existentiell und tiefgreifend, dass sie auch das Liegen veränderten. Einerseits wurde das Liegen an sich als Teil im Leben des Arbeiters in einen fest vorgegebenen Raum und Zeitrahmen gezwängt und auf diese Weise diszipliniert, andererseits arbeitete man unermüdlich daran, es im Detail mit Hilfe der nun auf einmal zur Verfügung stehenden neuen technischen Möglichkeiten zu optimieren und die genaue Position des Liegenden besser zu kontrollieren.
Die zentrale Frage war, wie man den Rücken entlasten könnte, ohne sich dafür komplett in die Horizontale begeben zu müssen. Ein wichtiger Beweggrund für die Schaffung von Lösungen für Zwischenformen von Sitzen und Liegen waren häufige Rückenschmerzen sowie der Wunsch, bettlägerigen Kranken und Invaliden zu helfen, deren Rücken durch das dauernde Liegen Schaden genommen hatten. Ärzte experimentierten auch gerne mit mechanischen Apparaturen in der Hoffnung, Rückenleiden heilen zu können. Im Jahre 1828 erwarb ein gewisser James K. Casey aus New York das Patent für ­einen Rahmen, auf dem ein Mensch stufenlos und ohne irgendetwas zu tun von der Vertikale in die Horizontale bewegt werden konnte. Casey nannte sie »Dormant Balance«, und – vorausgesetzt, der Patient unterzog sich dieser Methode zwei- bis dreimal täglich – sie versprach angeblich Abhilfe bei einem krummen Rücken. Wollte der Patient längere Zeit in horizontaler Position verbringen, wurde eine weiche Unter­lage oder Matratze empfohlen. Glaubt man der die Patentmeldung begleitenden Illustration, konnte der Patient das alles durchaus entspannt, sogar lesend über sich ergehen lassen.
Die Vorstufe flexibler Liegemöbel waren »Bettmaschinen«, deren Matratzen in Rücken-, Schenkel- und Beinteile gegliedert waren, anfänglich noch durch schwerfällige Holzscharniere miteinander verbunden. Im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert wurden sie von Modellen mit Metallgelenken abgelöst. Man fand dieses Konstruktionsprinzip ebenso bei klappbaren Eisenbahnsitzen, Friseursitzen, Zahnarztstühlen und Operationsliegen wieder. Die größte Herausforderung für die Mechaniker war es, einen möglichst reibungslosen Übergang vom Sitzen zum Liegen und umgekehrt zu ermöglichen. Ein chirurgischer Stuhl etwa musste alle Stellungen zwischen Sitzen und horizontaler Lage ermöglichen. Bei einem Modell aus dem Jahre 1889 wurde die Fläche in sieben Komponenten aufgeteilt: eine Kopf- und Fußstütze, zwei bewegliche Armstützen und die eigentliche Liege­fläche, die vierfach unterteilt war. Für einen metallenen Liegestuhl wurde mit dem Hinweis geworben, dass er 70 verschiedene Stellungen einnehmen könne. Auf der Chicagoer Weltausstellung präsentierte man 1893 einen mechanisierten Lehnsessel: »Der beste Sessel auf der ganzen Welt. Er kombiniert einen Salon-, Lese-, Rauch- und Lehnsessel, Liege und Bett in Standardgröße, in jede Position verstellbar. Über 80 000 Stück verkauft«, pries der Hersteller Marks Adjustable Folding Chair Co. das Möbel enthusiastisch an. Solche phantasievoll desi­gnten Kreationen ermöglichten neben dem federnden auch das schwebende Sitzen, bei dem der Körper in die Halbhorizontale gebracht wurde. Wie nie zuvor stellte sich ein Verständnis für die Eigentümlichkeiten des Sitzens und Liegens und aller Zwischenstufen ein – nicht zuletzt dem anatomischen Wissen über die Hunderte von Muskeln geschuldet, die am Sitzen und Liegen beteiligt sind.
Der sich nunmehr schon seit Generationen in den USA behauptende »La-Z-boy-Recliner« – ein altmodisch wirkender Sessel, der leicht in die Rückenlage gebracht und auch gedreht werden kann – ist ein Abkömmling dieser mechanischen Sesselwunder. Wie wohl nie zuvor machten diese vielfältigen Liegevorrichtungen deutlich, dass, wie der Theoretiker des Sitzens, Hajo Eickhoff, einmal schrieb, Möbel »wie unsere Haut« zu uns gehören: »Sie bilden unsere Grenze. Sie übernehmen Funktionen verlängerter Arme und Beine, mit denen sie unsere Natur vervollkommnen, und entwickeln dabei typisch menschliche Eigenschaften, von denen wir glauben, dass ihnen diese aus ihrem eigenen Wesen heraus zukommen.«
Neben neuen Technologien und Materialien war der Blick des 19. Jahrhunderts Auslöser für die Schaffung neuer Formen und Möbel. Bewegung als Topos, der die Gelehrten beschäftigte – ob bei Menschen, Vögeln oder anderen Tieren –, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, aber eine vergleichbare Besessenheit, die Gesetzmäßigkeiten von Bewegungen zu erforschen, hatte es bis dahin nicht gegeben. Eadweard J. Muybridge, bekannt für seine im Abstand von einem halben Meter postierten Kameras, mit denen er Athleten bei ihren Übungen und auch Pferde fotografierte, wandte dieses Verfahren 1887 in Kalifornien auch auf bekleidete und nackte Menschen an, die gerade dabei sind, sich zu Bett zu begeben bzw. sich aus einem Bett zu erheben. Die Stop-Motion-Fotos von Muybridge bedeuteten bei den damaligen technischen Standards eine Revolution des Sehens: Erstmals war es nun mit Hilfe der Fotografie möglich, eine alltägliche Bewegung, die dem Blick sonst verborgen blieb, in ihre Einzelschritte zu zer­legen.
In den USA wurden multifunktionale Möbel patentiert, die dem Mittelstand Komfort boten, ohne die meist nur kleinen Wohnungen mit schweren Einzelmöbeln zu überfrachten. Ein einziges Teil konnte Stuhl, Sofa, Bett und selbst Schrank in sich vereinen. Es waren Betten in Gebrauch, die sich mal horizontal, mal vertikal schwenken, hochklappen oder ganz zusammenfalten ließen – Metamorphosen mit dem Zweck, sowohl die für die Situation bestmögliche Liegeposition zu bieten als auch den verfügbaren Raum optimal auszunutzen. Die mit Hilfe von Stahlrohren hergestellten und bis heute gebräuchlichen Sofas, welche mit ein paar Handgriffen in ein Bett verwandelt werden können, sind späte Abkömmlinge dieser Entwicklung.
Die schon erwähnten Eisenbahnschlafwagen, für die sich die Frage optimaler Raumausnutzung besonders dringlich stellte, waren fruchtbares Experimentierfeld für innovative Liegeflächen-Verwandlungslösungen. Bei ihren Entwürfen griffen die Konstrukteure und Designer auf die Erfahrungen mit Schiffskabinen zurück. Hinsichtlich ihres Komforts waren besonders in der Frühzeit noch erhebliche Abstriche zu machen: Im obersten Bett eines Modells lag der Reisende so nahe an der Decke, dass er nicht aufrecht sitzen konnte, und im untersten so nahe dem Fußboden, dass man nicht anders konnte, als die Fußsohlen der Vorbeischleichenden vor der Nase zu haben. Der legendäre Erfinder George M. Pullman ließ sich einen Raucherschlafwagen für Herren und einen Nichtraucherschlafwagen für Damen patentieren. Anfänglich wurden Abteilbetten an Seilen von der Decke heruntergelassen – eine Lösung, die sich bald überholt hatte. Theodore T. Woodruff, Pullmans Konkurrent, konstruierte eine Sitzbank, deren Rückenlehne in die Horizontale überführt werden konnte. Auf diese Weise entstanden zwei Liegen. Ursprünglich in den USA entworfene Schlafwagen wurden später, um 1875, in den Heimatkontinent der Eisenbahn, nach Europa, exportiert, wo die sogenannten Boudoir-Züge zum Beispiel zwischen Wien und München verkehrten. Ein findiger Mensch entwarf einen tragbaren kleinen Kasten, der sich mit ein paar Handgriffen in eine Unterlage verwandeln ließ, die dem Kopf und Oberkörper eine angenehmere Schlafhaltung ermöglichte. Sie scheint sich jedoch nicht durchgesetzt zu haben.

Liegen und Wiegen

Dem Schaukeln, Schwingen und Wippen, von dem schon Kinder nicht genug bekommen können, muss irgendetwas eigen sein, was Glücks­gefühle auslöst. Einmal zur Welt gekommen, war die Wiege lange das erste Bett des Menschen. War ihre Beweglichkeit hergestellt – ob durch gebogene Kufen, eine halbrunde Form oder einen Hängemechanismus –, setzte sich in ihr einerseits eine ähnliche Bewegung fort, wie sie dem Kind schon aus dem Mutterleib vertraut war, andererseits suggerierte sie ihm, das sonst häufig nah am Körper der Mutter getragen wurde, deren Nähe. Einem alten Aberglauben folgend wurden diese Wiegen aus Birkenholz gefertigt, dem man eine besondere Eignung zusprach, böse Geister zu vertreiben. Auf manchen Wiegen finden sich Pentagramme oder das Christusmonogramm IHS als Schutzzeichen. Damit wollte man der hohen Säuglingssterblichkeit begegnen.
Glaubt man Tacitus’ Bericht, dann hoben die alten Germanen ihre Greise zuweilen in große »Wiegen«, die an Bäumen aufgehängt wurden – um sie ins Jenseits hinüberzuschaukeln. Wie diese genau aussahen, ist nicht überliefert; vielleicht kamen sie unseren Hängematten schon recht nahe. Wiegen für Erwachsene sind heute nicht bekannt, aber manche Menschen suchen und finden eine solche Bewegung, die sie an ihre Kindheit und womöglich sogar an die Zeit vor ihrer Geburt erinnert, im Schaukelstuhl oder in einer Hollywoodschaukel wieder.
Über dem Boden und gleichsam in der Luft schwebende Hängematten entdeckte Christoph Kolumbus bei seinem ersten Besuch auf den Inseln, die heute Bahamas heißen, in den Hütten der dort lebenden Indianer. Die Tatsache, dass sie so leicht zusammenzulegen und zu transportieren waren und Schutz vor Ratten und Schlangen boten, machte sie bald für spanische Matrosen und später auch für Soldaten unentbehrlich. Ihr Siegeszug in der ganzen Welt war damit vorprogrammiert. Das Liegen in ihnen ist jedoch bei weitem nicht so komfortabel wie in einem Liegestuhl, die Bewegung viel stärker eingeschränkt. Es ist nicht ganz einfach, beim Aufhängen die richtige Spannung für das Netz zu finden. Der in einer Hängematte Liegende findet sich allzu oft in quasi zusammengeschnürter Position wieder und riskiert zudem, bei dem Versuch, sich in Seitenlage zu begeben, aus den Schlingen zu fallen.
Die Position von Hängematten im Raum muss nicht zufällig sein, sondern kann eine Bedeutung haben. Der französische Kulturhistoriker Pascal Dibie hat gezeigt, wie sie bei einigen In­diovölkern im Amazonasgebiet mit den sozialen Beziehungen verknüpft ist. In den Gemeinschaftsräumen der Bari etwa, so Dibie, »sind die Hängematten in verschiedenen Höhen angebracht, die sowohl das Alter wie auch das Geschlecht, die Familienangehörigkeit und die symbolischen Beziehungen bezeichnen, welche ihre Besitzer untereinander und mit dem Haus-Universum verbinden«. Unverheiratete junge Männer liegen in beinahe zwei Metern Höhe, im »Himmel« des Hauses also, wohin sie mithilfe eines Seiles gelangen.
Das fortgeschrittene 19. Jahrhundert mit seinem Mechanisierungswahn hielt auch für die Hängematte neue Formen bereit. Zum Beispiel konnte das Netz mit Kreuzverstrebungen aus Holz versehen werden, um die Spannung zu verbessern. Und kreisrunde, um die Matte arrangierte Netze bewahrten die Liegenden vor zudringlichen Moskitos. Eine quer über der Matte eingezogene Jalousie vermochte die Nutzer sogar vor allzu intensiver Sonnenbestrahlung zu schützen.
Ein einfallsreicher Erfinder befestigte die Matte an einem großen umgedrehten Dreirad und versah seine Konstruktion mit einer zeltartigen, wasserdichten Umhüllung, die das für ein schaukelndes Liegen ausgelegte »Fahrzeug« – so die Patentschrift – sogar in ein vollgültiges Schlafzimmer verwandeln konnte. Nützliche Lösung oder womöglich doch nur Euphemismus für ein zweifelhaftes technisches Kuriosum?
Eine Zwischenform von Hängematte und Liegestuhl oder »eine vergessene Lösung für ein Bewegungsproblem« (Sigfried Giedion) war der an einem Baum aufzuhängende »self-adjusting hammock chair«. Hierbei wurde das in der Handhabung oft als kompliziert empfundene Netz durch ein in einen Rahmen eingespanntes Segeltuch ersetzt, »wodurch die Kleidung sich nicht mehr so eng um den Körper wickelt und man genauso kühl bleibt, während man dem Ärger mit festgehakten Knöpfen und eingeklemmten Haaren entgeht und einen doppelten Salto durch die Luft vermeidet«. Obwohl diese Innovation den Sprung in die Gegenwart nicht vollzogen hat, ist der Weg zu der mit blumig gemusterten Sitz- und Rückenpolstern versehenen Hollywoodschaukel gar nicht so weit. Auf dieser kann man – vorausgesetzt, die Sitzfläche ist entsprechend großzügig – auch liegen.

Träume und Albträume vom Liegen

Im 19. Jahrhundert war etwas in Bewegung gekommen, das der amerikanische Kulturhistoriker Peter Gay einmal als »die skrupulöse Erforschung des Ich« bezeichnete. Und die Liege wurde deren Komplize. Sie ist das prominente Arbeitsmöbel der Psychoanalyse, der Operationstisch der Seele. Auf der Couch des Seelendoktors liegend und in einen tranceartigen Zustand versetzt, gewährt der Patient dem Therapeuten Zugang zu seinem Innersten. Das Liegen erleichtert die Introspektion, die Neigung zur spielerischen Assoziation, die Lenkung des inneren Blicks in alle Winkel, auch in Tiefen und Untiefen, wo dieser normalerweise nicht hingelangt. Wünsche, die einem unter den Bedingungen des Alltags nicht bewusst werden oder die man vielleicht auch nur nicht auszusprechen wagt, werden dem Psychoanalytiker gegenüber artikuliert und dann in dessen – wie wir heute wissen – durchaus umstrittene Deutungsmuster gefügt. Freuds Couch war nicht einfach irgendein Möbelstück, sie wurde nach London verfrachtet, als die Familie 1938 vor den Nazis fliehen musste.
Der in der Horizontalen der Freud’schen Über-Liege gelagerte Patient befindet sich zum sitzenden Analytiker nicht in gleichberechtigter Position. Und setzt man Sympathie oder sogar eine wie auch immer gelagerte, vielleicht erotische Anziehung zwischen Arzt und Patient voraus, braucht es nicht allzu viel Phantasie, daraus leicht eine sexuell aufgeladene Situation zu imaginieren. Anfänglich soll Sigmund Freud neben der Couch und den Patienten gesessen haben, so dass es Blickkontakt zwischen beiden gab. Als Reaktion auf die Annäherungsversuche einer Patientin hat er diese Möglichkeit dann aber unterbunden, indem er fortan hinter der Couch Position bezog. Das hatte den Vorteil, dass sich der Patient weniger unter Kontrolle fühlte und ihm die freie Gedankenassoziation nun leichter fiel.
Die Popularität der Psychoanalyse verlieh der Couch eine zusätzliche Bedeutung – in mehreren Sprachen ist das Möbel quasi zu ihrem Pseudonym geworden. Es war eine schöne Idee des New Yorker Designers Todd Bracher, die elegante und luxuriöse Couch, die er im Auftrag einer italienischen Designfirma konzipierte, schlicht »Freud« zu nennen.
Es blieb nicht aus, dass die Couch des Psychoanalytikers auch für andere Intimitäten als die verbale Offenbarung genutzt wurde. Der ungarische Freud-Schüler Sándor Ferenczi hatte deswegen ein schlechtes Gewissen und sorgte sich in einem Brief an Freud, dass ein Patient mit besonders feiner Nase den Geruch oder sogar sichtbare Spuren von Sperma auf der Liege vernehmen bzw. entdecken könne. Der Wissenschaftshistoriker Andreas Mayer beschreibt, wie die Couch des Psychoanalytikers von ihrer pornographischen Vergangenheit eingeholt wird. Tatsächlich hatte es diverse freizügige Schriften gegeben, die zum Teil schon in ihrem Titel auf das Möbel Bezug nahmen, etwa »Le Canapé Couleur de Feu« (1741), vermutlich von Louis Charles Fougeret de Monbron verfasst, das sich auf die sexuellen Ausschweifungen geistlicher Würdenträger in einem Pariser Bordell (und auf einem Sofa) kapriziert und sittenkritische und voyeuristische Impulse vermengt. Dieser Text bewegt sich, so Mayer, »zwischen der Anprangerung der Scheinheiligkeit des Klerus sowie der religiösen Erziehung und eben der Anpreisung seiner heimlichen Schlagerituale als Geheimrezept für in die Jahre gekommene Ehemänner«.
Die mechanisierten Liegemöbel des 19. Jahrhunderts, die sich der Biomechanik des Körpers so kongenial anpassten, erweiterten nicht nur die bewegungstechnischen Möglichkeiten, sondern steuerten auch die sexuellen Phantasien in bis dahin unerforschte Regionen. Die abrupten Bewegungen, mit denen die Behandelten in die Horizontale gekippt werden konnten, hatten ihr augenfälliges Pendant in den Bewegungen und Positionswechseln beim Geschlechtsverkehr. In dem Roman »The Amatory Experiences of a Surgeon« (1881) von James Campbell Reddie nutzt der junge Protagonist unter dem Vorwand, sie zu untersuchen, alle erdenklichen Gelegenheiten zur Lustgewinnung an seinen zur Passivität verurteilten Patientinnen aus. Eine speziell angefertigte Couch wird zum wahren »Schlachtfeld der Venus«: » (… ) diese Couch war sehr breit, ohne Rückenlehne und mit einem verstellbaren Kopfteil an einem Ende, während das Fußende die Form eines Halbmondes hatte.« Somit war er in die Lage versetzt, sein »natürliches Klistier« einzuführen, und zwar »entweder im Stehen oder auf einem Fußkissen kniend«. Campbell beschrieb die Sonderanfertigung weiter: »Diese Couch, die mit einem besonderen Gefühl für luxuriöse Wirkungen konstruiert war, vollführte unter einem hitzigen Liebespaar die schönsten federnden Bewegungen und sie hatte an jedem Ende und im Zentrum Schrauben, so dass ich Kopf, Hintern oder Körper meiner Patientinnen heben konnte, um sie den Dingen anzupassen, die ich mit ihnen anstellen wollte.«
Plötzlich waren die vielfach verstellbaren Liegemöbel überall – für das Operieren, Frisieren, Gebären oder für mehr oder minder ernsthafte Untersuchungen. Es überrascht daher nicht, dass sie bald auch ihren Weg in das Bewusstsein der Künstler fanden. Das Liegen verband sich um die Jahrhundertwende einerseits mit bohèmeartigem Genießen und andererseits mit den Abgründen des Unbewussten. Wie veränderten sich die horizontalen Traumwelten, nachdem die Technik in die Lebenswelt der Menschen eingebrochen war und diese erstmals vollständig zu bestimmen drohte?
Die Surrealisten waren bei ihrer Suche nach einer Gegenästhetik zum Rationalismus in besonderer Weise dafür bekannt, Schlaf, Traum und Rausch in ästhetische und politische Dimensionen zu transportieren. Max Ernst verarbei­tete in seinen Arbeiten gerne Material der Konsumwelt zu surrealen, verstörenden Collagen. Für seine Arbeit »Die Leimbereitung aus Knochen«, die er 1921 schuf, verwendete er die ­Illustration einer Wärmekur aus einer medizinischen Schrift und ergänzte sie um einige mechanische Elemente. Das Ergebnis ist eine Liegende, welche die Kontrolle über die Welt um sich herum abgegeben zu haben scheint, vielleicht weil sie in den Dienst einer abwesenden Macht gestellt wurde. Dünne Schläuche leiten Flüssigkeit von ihrem Körper ab oder führen ihm welche zu. Eine Horrorvision. Ist dieser horizontal gelagerte Mensch überhaupt noch bei Bewusstsein oder wird ihm von der Maschine nur noch ein Scheinleben eingehaucht? Ein bizarres Fundstück, das für die Verwendung in einer Dada-Zeitschrift gedacht war. Ernst wusste, dass sich Leben und Liegen nicht nach dem Vorbild der Maschine gestalten lassen und die Verbindung von Mensch und Maschine zwangsläufig zum Albtraum geraten muss.
Er bewies mit seinem Werk einen Weitblick, den man manchen Technikeuphorikern von heute wünschen würde.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Bernd Brunner: Die Kunst des Liegens. Handbuch der horizontalen Lebensform. Galiani-Verlag, Berlin 2012, 160 Seiten, 16,99 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.