Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswehreinsatz im Inneren

Der Feind steht innen

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts darf die Bundeswehr in Ausnahmefällen auch mit militärischen Mitteln Amtshilfe im Inneren leisten. Die Entscheidung folgt der Entwicklung der vergan­genen Jahre.

Wohl selten hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts für so viel Verwirrung gesorgt. »Verfassungsgericht erlaubt Waffeneinsatz im Inland«, titelte Spiegel Online, während die Nachrichtenagentur Reuters am selben Tag verkündete: »Hürden für Bundeswehreinsatz im Inland erhöht«. Auch die Einschätzung der Parteien fiel ungewöhnlich unterschiedlich aus, nachdem die Verfassungsrichter und -richterinnen kürzlich ihre Entscheidung zum Bundeswehreinsatz im Inneren bekanntgegeben hatten. Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, nannte den Urteilsspruch einen »Türöffner zur weiteren Militarisierung der Innenpolitik und damit zur Aushebelung demokratischer Rechte«. Die Piratenpartei wiederum, die sich eigentlich für die Stärkung der Bürgerrechte einsetzen möchte, lobte das Urteil. »Bundesverfassungsgericht setzt Einsatz der Bundeswehr im Inneren enge Grenzen«, lautet die Überschrift der Pressemitteilung, in der der Beschluss als »schallende Ohrfeige für die Bundesregierung« bezeichnet wird. Doch unter Anhängern der Partei stieß diese Reaktion auf Unverständnis: »Spinne ich? Unsere Rechtsabteilung könnte von der CSU sein«, schrieb ein User unter dem Namen Hoschi in einem Kommentar auf der Homepage der Partei. Nutzer Jacky Neiwel drückte es an gleicher Stelle noch prägnanter aus: »Das fickt jetzt schon ’n bissl meinen Kopf.«

Was da im Gehirn eines Anhängers der Piratenpartei rumort, ist die Tatsache, dass sich im Urteil der Karlsruher Richter verschiedene Ebenen überlagern. Zum einen wurde vom Gericht klargestellt, dass der Abschuss von Passagiermaschinen auch weiterhin nicht von der Verfassung gedeckt ist und daher kein legales Mittel der Terrorabwehr darstellt. Die rot-grüne Bundesregierung hatte auf Betreiben des damaligen Innenministers Otto Schily (SPD) diese Möglichkeit im Luftverkehrsgesetz festschreiben lassen. Dass es Sozialdemokraten und Grüne waren, die solche Inlandseinsätze der bundeswehr ermöglichen wollten, wird in der gegenwärtigen Diskussion gerne verdrängt. Das Bundesverfassungsgericht machte zudem eine Einschränkung: Nicht der Verteidigungsminister, wie im Luftverkehrsgesetz festgelegt, sondern einzig und allein die Bundesregierung kann über Einsätze der Bundeswehr im Inneren entscheiden.
Zum anderen jedoch – und das ist der entscheidende Punkt des Beschlusses – interpretiert das Gericht das Grundgesetz so, dass der Einsatz »spezifischer militärischer Waffen« im Falle eines Zwischenfalls »katastrophischen Ausmaßes« nicht ausgeschlossen sei. Das ist ein Novum, da das Militär nach bisheriger Auslegung den Ordnungsbehörden nur unterstützende Amtshilfe ohne Waffenanwendung leisten durfte. Zu Recht wird vielfach kritisiert, dass diese Interpretation des Gerichts einer Verfassungsänderung gleichkommt, die erst vor vier Jahren im Bundestag gescheitert war. Damals wollte die Große Koalition unter Federführung von Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) genau jenen Einsatz militärischer Mittel durch eine Änderung des Artikels 35 des Grund­gesetzes ermöglichen. Die Mehrheit der SPD-Fraktion lehnte den Vorschlag ab und beendete damit vorerst die Diskussion. Durch die neue Auslegung des Grundgesetzes bedarf es dieser Verfassungsänderung gar nicht mehr.
Im Urteil wird explizit darauf hingewiesen, dass »demonstrierende Menschenmengen« keinen schweren Unglücksfall darstellen und somit nicht den Einsatz der Bundeswehr rechtfertigen. Auch dann nicht, wenn »Gewalttätigkeiten oder Unruhen drohen sollten, die in ihren Folgen das Ausmaß besonders schwerer Unglücksfälle erreichen«, oder wenn von ihnen eine »Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes« ausgeht. Ebenso sei der Einsatz militärischer Mittel als »Droh- oder Einschüchterungspotential« nicht von der Verfassung gedeckt. Diese Einschränkungen stellen jedoch kaum eine Garantie dar, dass das Militär nicht doch zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt wird. Schließlich erlaubt das Grundgesetz seit den Notstandsgesetzen von 1968 in Artikel 87a, Absatz 4, den Einsatz der Streitkräfte zur »Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer«. Bis zum jüngsten Urteil aus Karlsruhe war ihnen dabei jedoch die Anwendung militärischer Mittel untersagt. Wie schnell ein kleiner Kreis sich politisch betätigender Menschen zu einer terroris­tischen Gefahr erklärt werden kann, hat die Bundesstaatsanwaltschaft in verschiedenen 129a-Verfahren gegen Linke bereits eindrücklich bewiesen.

Der Rechtsstaat und die demokratischen Rechte sind aber nicht erst seit dem neuen Urteil in Gefahr, wie manche Kommentare nun Glauben machen wollen. Schließlich werden Bürgerrechte seit Jahren stetig abgebaut, die Überwachungs- und Repressionsmöglichkeiten der Polizei werden immer umfangreicher. Das Auftreten vermummter paramilitärischer Polizeieinheiten und die vielfältigen Schikanen bei Protesten haben das Demonstrationsrecht längst beschnitten. Die Polizeibehörden sind mehr als ausreichend ausgerüstet und vorbereitet, um jeglichen Protest zu unterbinden, sei er noch so groß oder gar militant. Dafür wird auch in Zukunft die Bundeswehr nicht nötig sein. Dies ändert nichts an dem Skandal, den das Urteil aus rechtsstaatlicher Sicht bedeutet. »Zwar wird die Bundeswehr nicht morgen auf die eigene Bevölkerung losgehen, aber die verfassungsrechtliche Grenze, die dies bislang eindeutig verhindert hat, ist durchbrochen worden«, schreibt das Komitee für Grundrechte und Demokratie in einer Pressemitteilung.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist Ausdruck einer Entwicklung, die im Zeichen einer fortschreitenden autoritären Formierung von Staat und Gesellschaft steht. Heribert Prantl, die Moralkeule der Süddeutschen Zeitung, skandalisiert in einem Kommentar die »Katastrophenentscheidung« und schreibt, dass das Gericht mit der republikanischen Tradition »Kein Bundeswehreinsatz im Inneren« gebrochen habe. Doch diese Aufregung geht an der bundesdeutschen Realität vorbei. Seit Jahren werden Soldaten und Soldatinnen im Rahmen der sogenannten Amtshilfe auf vielfältige Weise im Inland eingesetzt. Während es 1999 noch eine Amtshilfemaßnahme gab, waren es 2008 bereits 30. Bekanntlich wurden auch während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm Spähpanzer, Tornado-Kampfflugzeuge sowie 2 450 Soldaten der Bundeswehr eingesetzt. Selbst dieser – auch nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes – offensichtliche Verstoß gegen das Grundgesetz hatte keinerlei Konsequenzen.
Auch in anderer Hinsicht macht sich die Bundeswehr immer mehr im öffentlichen Leben breit: Allein 2008 wurden ihre Dienste 78 Mal im Rahmen von »Unterstützungsleistungen für Dritte« in Anspruch genommen, im gleichen Jahr wurde ihr für eigene Veranstaltungen in 900 Fällen das Hausrecht in zivilen oder gar öffentlichen Einrichtungen übertragen. Dazu kommen Werbeveranstaltungen der Armee in Schulen, Auftritte von Militärkapellen, Studiengänge der Bundeswehr und Imagekampagnen. Auf vielfältige Weise wird versucht, das Auftreten der Armee im öffentlichen Leben zur Normalität werden zu lassen. Wegen der Aussetzung der Wehrpflicht muss sich die Bundeswehr nun darum kümmern, Nachwuchs zu finden, der sich freiwillig in Uniformen stecken und drangsalieren lässt. Sie ist somit noch stärker als früher auf die Akzeptanz in der Bevölkerung angewiesen.

Angesichts dieser Entwicklung ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verheerend. Die treffendste Kritik an ihm wurde im Anhang gleich mitgeliefert. »Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen«, schreibt der Verfassungsrichter Reinhard Gaier in der Begründung, warum er als Einziger gegen das Urteil gestimmt hat. Das Grundgesetz sei »eine Absage an den deutschen Militarismus« gewesen, der »Ursache für die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei Weltkriegen war«. Da der Bundeswehreinsatz im Inneren »mit besonderen Gefahren für Demokratie und Freiheit« verbunden sei, müsse sichergestellt werden, dass Streitkräfte »niemals als innenpolitisches Machtinst­rument eingesetzt werden«. Diesbezüglich habe das Plenum versagt und stattdessen »für einen kaum messbaren Nutzen fundamentale Grundsätze aufgegeben«, befand Gaier. Diese Stelle haben die begeisterten Piraten offenbar nicht gelesen.