Hat die drittgrößte Stadt Deutschlands besucht. Ein Bericht aus Gardelegen

Auf ein letztes Bier!

Kaum jemand kennt Deutschlands drittgrößte Stadt. Sie liegt neben einem Truppenübungsplatz in Sachsen-Anhalt und birgt viele traurige Geschichten.
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Fährt man über die A2 an Magdeburg vorbei, verpasst man sie leicht, die nach Berlin und Hamburg drittgrößte Stadt Deutschlands. Auf dem Schild an der Ausfahrt wird zwar auf das 45 Kilometer weiter entfernt liegende Salzwedel hin­gewiesen, nicht aber auf Gardelegen. Das ist sie, Deutschlands drittgrößte Stadt, natürlich nur flächenmäßig. Hinsichtlich der Einwohnerzahl ist Gardelegen dagegen ein größeres Dorf. Knapp 24 000 Einwohner bei stolzen 632 Quadratkilometern Fläche – das macht 38 Einwohner je Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Berlin-Kreuzberg sind es 14 000. Nicht einmal ein eigenes Autokennzeichen hat Gardelegen noch. Seit der Kreisgebietsreform 2007 teilt man sich mit anderen Städten die Buchstabenfolge »SAW«, für den Altmarkkreis Salzwedel. Die KFZ-Zulassungsstelle in Gardelegen ist aber ohnehin gerade »krankheitsbedingt« geschlossen, sie soll auch nicht wieder geöffnet werden. Lohnt sich nicht. Die Gardelegener sollen künftig nach Salzwedel fahren, um ihr Auto anzumelden. Oder umzumelden, denn einzelne Autos fahren noch mit dem alten Kennzeichen »GA« für Gardelegen herum. Eine Frau, die gerade aus einem älteren blauen Polo steigt, ­erklärt auf Nachfrage: »Wenn ich das ummelde, kostet das ja nur Geld.« Womöglich kann sie sich das tatsächlich sparen, denn die von den Verkehrsministerien geplante Wahlfreiheit bei den Kennzeichen könnte auch das gute alte »GA« wieder verfügbar werden lassen.
So oder so, ohne Auto ist man aufgeschmissen in Gardelegen. Der ICE braust hier selbstverständlich vorbei, obwohl der kleine Bahnhof der Stadt direkt an seiner Strecke zwischen Wolfsburg und Stendal liegt. Die Jugendlichen schließen sich zu Fahrgemeinschaften zusammen, um abends in Stendal auszugehen. Denn in Gardelegen ist »absolut gar nichts« los. »Beim Italiener ist bis ein Uhr offen. Da sitzen wir manchmal und trinken ein Bier«, erklärt die junge Bedienung im Rathaus-Café. Neben dem Auto für die wenigen Ausgehwilligen und Werktätigen ist hier aber eh der Rollator das wichtigste Verkehrsmittel. An einem normalen Arbeitstag kommt man sich in der Fußgängerzone vor wie in einem Altenheim.
Kirche und SED scheinen sich das Städtchen untereinander aufgeteilt zu haben. Johanniter und Volkssolidarität haben die Pflege der Einheimischen übernommen. Die einzige zentrale Straße durch den Stadtkern, heißt zur Hälfte Nicolai- und zur anderen Ernst-Thälmann-Straße. Jenseits des Wallgrabens, der den winzigen Stadtkern umgibt, heißen die Straßen nach Marx, Engels, Liebknecht, Luxemburg, Brecht, Weinert. Außerdem gibt es die Straße der Republik, die Straße der Opfer des Faschismus, die Straße der Befreiung, die Straße der Freundschaft. Ja doch, wir befinden uns im Jahr 2012 in Sachsen-Anhalt. Dem »Land der Frühaufsteher«. Hier steht man früh auf, um möglichst schnell abzuhauen.

Dabei ist Gardelegen wirklich sehr schön. Viele ansehnliche Fachwerkhäuser, einige reizvolle Kirchen, kleine Gassen, nirgends eine Plattenbausiedlung und dann dieser zum Park und See ausgebaute Wallgraben. Und zwei echte Sehenswürdigkeiten gibt es auch: das aus dem 16. Jahrhundert stammende Salzwedeler Tor, das Teil der alten Befestigungsanlage war, und am Rathaus, naja, nicht besonders originell, eine Rolandstatue, die wie in anderen Städten auch irgendwie als Symbol der Stadtrechte gilt. Weshalb auch immer, denn eigentlich geht es im Rolandslied in 4 002 kruden Versen um den Kampf gegen die Mauren in Spanien und darum, dass Roland schließlich von Basken umgebracht wird. Aber egal, das Stadtrecht ist für das Prestige so eines Kaffs wie Gardelegen wichtig – zumal, wenn man schon keine eigene KFZ-Zulassungsstelle mehr hat. Drum legt Gardelegen auch Wert darauf, Hansestadt genannt zu werden. Hansestadt Garde­legen, mit Roland. Das klingt doch gleich nach Hamburg, Bremen und großer weiter Welt.
Aber in Wirklichkeit ist hier eben nicht die große weite Welt. In Wirklichkeit hat an diesem Mittwochnachmittag im August nicht einmal das »Nagelstudio Nancy Krüger« im Stadtzentrum geöffnet und auch der Laden mit Jagdwaffen ist geschlossen. Nur bei der Eisdiele – es ist ein warmer Sommertag – herrscht etwas Betrieb, und beim ehemaligen Konsum, der jetzt »PUG-Kauf« heißt. »Preiswert und gut«. Den Rollator lässt man praktischerweise vor der Tür stehen. Keine Angst, hier kommt nix weg!
Immerhin: Eine bekannte Persönlichkeit hat die winzige Großstadt hervorgebracht: Otto Reutter. Kennen Sie nicht? Naja, er ist auch schon eine Weile tot, aber er stammt nicht aus dem Mittelalter wie der Rest des Inventars hier. Otto Reutter wurde 1870 in Gardelegen geboren und später als Sänger und Komiker bekannt. Ein paar seiner Couplets waren auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch populär: »Der Überzieher« etwa, »Herr Neureich« oder »In 50 Jahren ist alles vorbei«. Manche sind wirklich komisch, brillant, gesellschaftskritisch. Und doch folgen sie »immer dem jeweiligen Zeitgeschmack«, wie es auf Wikipedia ganz treffend heißt, »man lachte mit der Menge des Volkes«. Reutter starb 1931. In der Ernst-Thälmann-Straße steht eine Plastik, die ihn mit Zigarrenstummel im Mund zeigt. Manchmal tritt der »Otto-Reutter-Darsteller« Manfred Brandt auf und singt die alten Gassenhauer, er hat die Stadt in diesem Jahr auch beim Internationalen Hansetag in Lüneburg vertreten.

Das einzige, wofür Gardelegen noch bekannt ist, ist sein Bier. Ostdeutsche werden es vielleicht noch kennen: Das Garley war neben dem Hasse­röder die einzige Marke der Region. Dabei gab es das im Rest der Republik kaum zu kaufen – es war nicht haltbar. Das Garley ist heute noch der Stolz der ganzen Stadt, es gilt als »älteste Biermarke« und »ältester durchgehend bestehender Markenname der Welt«. Sogar das Stadtwappen zieren drei Hopfenranken. Am 16. Juli 1314 erhielt Gardelegen bereits das Braurecht. Der Biersteuerkrieg von 1488 traf auch Gardelegen schwer: Drei seiner Bürger wurden enthauptet. Im Jahr 1567 gab es 176 Brauereien in der Stadt.
Und heute? Eine einzige Brauerei, das »Garley-Traditionsbrauhaus«, existiert noch. Die Buchstaben an der Hauswand sind abgefallen, aber man kann noch die blassen Umrisse erkennen. Im Hof stehen Bierkästen, das Tor zum Sudhaus ist verschlossen. »Im Mittelalter war hier richtig was los, da hat jeder Haushalt gebraut«, schwärmt Reiner Finke. Er ist hier der Brauer. Theoretisch. Derzeit ist er nur Gabelstaplerfahrer und Mädchen für alles, klagt er, denn der Chef habe Ende vorigen Jahres eine »Braupause« verordnet. Braupause? Ja, anders gesagt: Es wird derzeit gar nicht gebraut in der Traditionsbrauerei. Tatsächlich: In Gardelegen, der Stadt, die seit 1314 nichts anderes getan hat, als Bier zu brauen, braut niemand mehr Bier. Dass es trotzdem noch Garley zu kaufen gibt, liegt daran, dass es nun in Penig hergestellt und abgefüllt wird, in Sachsen, in der Nähe von Chemnitz. »Wir sind hier nur Umschlagplatz«, sagt Finke. Von den 138 Mitarbeitern, die die Brauerei zu DDR-Zeiten hatte, als Finke in den Volkseigenen Betrieb kam, sind heute noch acht übrig, wenn man alle Teilzeitkräfte mitzählt. Nach der Wende habe man es versäumt, richtig weiterzumachen, meint der Brauer. Und heute sei halt der Preiskampf zu hart, alle kleinen Brauereien hätten Probleme. Dennoch ist Finke optimistisch: »Die Marke läuft super!« Und der Chef habe durchblicken lassen, dass er durchaus noch einmal investieren wolle, dass er am Standort festhalte. Finke ist sich sicher, dass er schon bald wieder am Kessel steht und nicht mehr Bierkästen durch den Hof karren muss. »Wir sind voller Hoffnung«, diesen Satz wiederholt er immer wieder.
Zum Glück hört Finke nicht, wie andere im Ort die Lage einschätzen. Die Kellnerin am Rathaus-Café etwa. »Garley? Haben wir, aber ehrlich gesagt, das würde ich nicht empfehlen gerade.« Wieso? »Die lassen stark nach. Das wird auch gar nicht mehr in Gardelegen gebraut, sondern irgendwo in Timbuktu«, weiß die junge Frau mit den vielen Ohrsteckern. »Das sieht auch schon ganz komisch aus, wenn es aus dem Fass kommt. Die Kunden da drüben haben sich bereits beschwert. Wir schaffen das bald ab. Das Fass machen wir noch alle, dann haben wir noch eines, das lassen wir zurückgehen.« Tatsächlich sieht das Bier merkwürdig trübe aus und schmeckt zumindest zweifelhaft. Aber alle Biergläser schmückt natürlich noch das Garley-Logo und der Slogan »Gold der Altmark«. Der Goldpreis stürzt offenbar gerade ab.

Das finden Sie eine traurige Geschichte? Die allertraurigste, nein, die bestialischste spielt selbstverständlich zur NS-Zeit. Zwar könnte man die Erzählung genau hier am Rathausplatz beginnen, wo gerade die Bedienung »auf eigene Verantwortung« das Garley ausgeschenkt hat, aber vielleicht doch der Reihe nach.
Nachdem im April 1945 die US-Luftwaffe Bahngleise in der Gegend bombardiert hatte, waren zwei Züge mit Häftlingen aus geräumten Außenlagern der KZ Neuengamme und Mittelbau-Dora gestoppt worden. Man trieb die Häftlinge zu Fuß nach Gardelegen, jene, die dabei entwischten, wurden von SS-Leuten sowie Land- und Bauernwehr und Hitlerjugend regelrecht gejagt, über 370 von ihnen erschossen. Am Abend des 13. April 1945, die US-Panzer rückten vor und waren nur noch wenige Kilometer entfernt, trieb man noch schnell über 1 000 Häftlinge etwas außerhalb Gardelegens in eine große gemauerte Scheune. Das Stroh darin war benzingetränkt, die Tore wurden verrammelt und der Schuppen wurde angezündet. Den Eingesperrten gelang es mehrfach, das Feuer zu löschen, deshalb wurden noch Handgranaten in die Scheune geworfen und die rund 120 SS-, Volkssturm- und Wehrmacht-Angehörigen, die drum herum standen, feuerten mit Flammenwerfern und Panzerfäusten auf die Scheune. Schließlich starben 1 016 Menschen im Feuer und im Kugelhagel. Nur einzelne überlebten, etwa weil sie unter einem Berg von Leichen lagen und sich tot stellten. Als die Amerikaner am folgenden Tag Gardelegen einnahmen, entdeckten sie auch das Massaker in der Isenschnibber Feldscheune. Sie ließen wenige Tage später sämtliche erwachsenen männlichen Einwohner Gardelegens auf dem Rathausplatz, genau dort, wo sich heute das Café befindet, mit weißen Kreuzen antreten und kommandierten sie ab, mit eigenen Händen die Leichen aus der Feldscheune zu bestatten.
Neben dem großen Friedhof gibt es auch eine Mahn- und Gedenkstätte. Zu DDR-Zeiten wurden hier Pioniere vereidigt. Die Opfer wurden allesamt als »antifaschistische Widerstandskämpfer« bezeichnet, andere Opfergruppen nicht einmal erwähnt, auch nicht die zahlreichen Juden, die in der Isenschnibber Scheune starben. Noch heute dominiert diese Geschichtsschreibung die Gedenkstätte, nur ein paar ergänzende Tafeln kritisieren dies. Groß prangt an der Mauer der Scheune: »Sollte euch jemals im Kampf gegen Faschismus und imperialistische Kriegsgefahr Gleichgültigkeit und Schwäche überkommen, so holt euch neue Kraft bei unseren unvergesslichen Toten.« Es ist dennoch eine beeindruckende Gedenkstätte. Man ist dort meist allein. Selten verirren sich Besucher hierher. Und Pioniere gibt’s nicht mehr.

Ortswechsel. Gardelegen hat auch ein Gewerbe­gebiet, hier spielt eine weitere traurige Geschichte. Hier im VEB Möbelfabrik Gardelegen hatte seit 1982 Ikea seine Billy-Regale produzieren lassen. Billige Billys wegen billiger Löhne in der DDR. Kaufen konnte man die Pressspan-Möbel dort nicht. Nach der Wende übernahm Ikea selbst bzw. die hundertprozentige Tochterfirma Swedwood das Unternehmen. Das Firmenschild steht noch an der Straße hinter einem Stacheldrahtzaun. Nach der Wende zahlte Ikea auch durchaus anständige Gehälter, durchschnittlich 1 800 Euro brutto, für die Gegend hier nicht schlecht. In drei Schichten wurde gearbeitet, viele Millionen Regale wurden produziert, in Pappkartons verpackt, Schrauben und die Aufbauanleitung dazugelegt. Bis zu 6 500 Billys täglich. Doch 2009 machte Ikea den Standort dicht, die Produktion wurde in die Slowakei verlegt. Exakt zweieinhalb Minuten soll die Versammlung gedauert haben, bei der die Geschäftsleitung den Beschäftigten die Schließung mitteilte. 178 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter landeten auf der Straße. Sie protestierten vor Ikea-Filialen mit Transparenten wie »Hier stehen die verlorenen Kinder der Ikea-Familie« und »Ikea lässt seine gesunde Tochter sterben«. In Gardelegen war man geschockt und stinksauer. Es half nichts.
Für Ikea ist das Kapitel Gardelegen dennoch nicht ganz abgeschlossen. Allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Musste sich der schwedische Konzern 2009 dafür rechtfertigen, den Standort zu schließen, wird er jetzt dafür kritisiert, ihn überhaupt jemals eröffnet zu haben. Ikea wird nämlich seit einigen Monaten die Ausnutzung von Zwangsarbeit vorgeworfen. In mehreren Produktionsstätten in der DDR seien Gefängnisinsassen, darunter auch politische Gefangene, eingesetzt worden. Ob auch Gardelegen betroffen ist, weiß man bei Ikea nicht, es wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet und eine Hotline. »Die Untersuchungen laufen noch«, sagt Ikea-Sprecherin Sabine Nolde. Sie weiß nicht, an wie vielen Standorten Ikea in der DDR überhaupt produzieren ließ. Die Akten habe man nicht mehr und außerdem sei der Vertragspartner die Außenhandelsorganisation der DDR gewesen. Die habe die Aufträge dann verteilt, erklärt die Konzernsprecherin.
An der Aufklärung der Geschichte will Ikea mitwirken, Konsequenzen daraus ziehen offenbar nicht. Auch heute lasse Ikea Möbel von Häftlingen produzieren, sagt Nolde. Weltweit und auch in Deutschland. Das lohnt sich! Immerhin erhalten Knackis für einen ganzen Arbeitstag weniger Lohn als andere Arbeiter pro Stunde. Definitiv ausgeschlossen seien aber Zwangsarbeit und der Einsatz politischer Häftlinge, betont die Sprecherin. Dass in deutschen Gefängnissen Arbeitspflicht besteht, stört Ikea indes nicht. Es gebe ja keine Sanktionen, wenn jemand die Arbeit verweigere, meint Nolde. Doch Disziplinarmaßnahmen sind in einem solchen Fall die Regel. Ikea versteht Häftlingsarbeit aber eher als soziales Engagement des Unternehmens. »Die Gefängnisse brauchen händeringend sinnvolle Arbeit, die sie den Häftlingen anbieten können«, sagt Nolde. Und klar: Was kann sinnvoller sein, als für vielleicht elf Euro pro Tag Billy-Regale zu verpacken?
Zurück nach Gardelegen, ins Gewerbegebiet Ost. Dort, wo das Swedwood-Werk stand, sind heute alle Tore verrammelt. Nur der Wachschutz hat sich auf dem Firmengelände niedergelassen. Nach der Swedwood-Schließung wollte hier ein Unternehmer aus Hamburg ein großes Brettsperrholz-Werk hochziehen. Ganz modern, 44 Millionen Euro wollte er investieren, 60 Arbeitsplätze schaffen. Der Bürgermeister umschwänzelte ihn, das Wirtschaftsministerium ließ großzügig Subventionen in Millionenhöhe fließen. Jetzt sitzt der Unternehmer im Knast. Vier Jahre und neun Monate gab’s für Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung. Aus seinen großen Plänen ist nichts geworden. Vielleicht verpackt er gerade ein Billy-Regal.
So sind sie, die Geschichten aus Gardelegen 2012, aus der drittgrößten Stadt Deutschlands. Fahren Sie trotzdem hin! Im Freibad gibt’s Pommes in Eiswaffeln und sehr leckere Hotdogs!