Das Urteil gegen Anders Breivik

Breiviks Traum

Anders Breiviks politische Ideologie stammt aus der Gegenaufklärung. Die Gesellschaft, die er wünscht, ähnelt ­verblüffend dem islamistischen Iran.

Der Prozess gegen den norwegischen Terroristen Anders Breivik endete am Freitag vergangener Woche mit dem Urteil. Die verhängte Strafe war die höchstmögliche: 21 Jahre Haft mit der Möglichkeit einer anschließenden Sicherungsverwahrung, sollte er in 21 Jahren noch für gefährlich gehalten werden.
Die Höhe der Strafe war wenig überraschend angesichts dessen, was Breivik am 22. Juli vergangenen Jahres getan hatte. Der norwegische Terrorist hatte eine Autobombe im Osloer Regierungsviertel zur Explosion gebracht und in der Folge mehr als 60 Mitglieder der Jugendorganisation der Arbeiterpartei auf einem Sommercamp erschossen – weil diese Partei aus »Kulturmarxisten« bestehe, die für eine nahe bevorstehende muslimische Machtergreifung in Europa verantwortlich seien.
Doch das Urteil lässt viele wichtige Fragen offen. Wie konnte Breivik so weit kommen, ohne entdeckt zu werden? Wie weit verbreitet sind seine Ansichten in Norwegen und in ganz Europa? Was genau macht das Wesen seiner Ansichten aus? Seine Ideologie ist so extrem, dass ein gewichtiger Teil des norwegischen Gerichtsverfahrens sich um seine geistige Gesundheit drehte. War er klinisch krank, so dass er nicht in einem Justizverfahren verurteilt werden sollte, das die Schuldfähigkeit des Angeklagten voraussetzt? Oder sind seine Taten, so schrecklich sie auch sind, das folgerichtige Produkt einer politischen Ideologie, die extrem, aber nicht klinisch pathologisch ist? Zwei verschiedene Gruppen von Psychiatern legten dem Gericht Gutachten vor – mit gegensätzlichen Ergebnissen. Das Urteil geht von Breiviks geistiger Gesundheit aus, so dass er nun eine normale Haftstrafe zu erwarten hat.
Jedenfalls erscheint Breiviks 1 500 Seiten langes Internet-Manifest nicht als ein schizophrener Text. Teile davon wurden nach dem »Copy & paste«-Verfahren erstellt, andere anscheinend von Breivik selbst geschrieben – aber der Text weist, ebenso wie die komplizierte Logistik seiner Taten, einen hohen Grad an Kohärenz auf.
Es ist Breiviks Ansicht, dass Muslime in den Nahen Osten zurück gezwungen werden sollen, um dort ihr Kalifat zu errichten – gerade so, wie Islamisten es sich wünschen mögen. Seine wirklichen Feinde, die »Kulturmarxisten« des Westens, sollen exekutiert werden. Dekadenten Liberalen solle das Überleben gestattet werden, aber nur in abgetrennten, bewachten Ghettos der Innenstädte, wo sie davon abgehalten werden, das öffent­liche Leben zu beeinflussen. Der Staat, den er sich ausmalt, soll konservativen europäischen, christ­lichen Werten wieder Geltung verschaffen. Die zerstrittenen christlichen Sekten sollen sich unter einem kriegerischen Papst wiedervereinigen. Politischen Parteien soll ein geringer Einfluss eingeräumt werden, aber die über allem stehende Regierung soll von Kreuzfahrern wie ihm selbst geführt werden. Ein von ihm selbst erdachter Ritterorden, ein wiederbelebter Templerorden, soll den Kampf für eine Gesellschaft führen, die von einem Wächterrat kontrolliert wird.

Diese politische Ideologie ist offensichtlich nicht die persönliche Erfindung eines einzelnen, verrückten Individuums. Sie ist in der Tradition der europäischen extremen Rechten fest verankert, die den Nazismus, den Faschismus und den radikalen Konservatismus hervorgebracht hat. Es handelt sich um die Tradition der Gegenaufklärung, die sich im 18. Jahrhundert gegen die entstehende liberale Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit erhob und seither ihren festen Platz in der europäischen extremen Rechten hat. Breiviks Traum ist ein totalitärer – die Demokratie soll ernstlich eingeschränkt werden, politische Rechte sollen das Privileg einiger Bürger sein, die über andere herrschen, Theologie soll wieder eine Schlüsselrolle in der Politik spielen, die Modernität zurückgedrängt werden. Es ist kein Zufall, dass das Manifest voller Verweise auf die serbische Rechte der vergangenen zwei Jahrzehnte ist – eines der virulentesten politischen Phänomene der jüngsten europäischen Geschichte. Breiviks Helden sind radikal-nationalistische Serben wie Radovan Karadžić und Ratko Mladić, die derzeit in Den Haag wegen genozidaler Gewalt im Bosnien-Krieg vor Gericht stehen.
Aber die serbische Rechte ist nur ein besonders extremes Beispiel. In den vergangenen Jahren scheint die politische Kritik an der Modernität in Europa an Einfluss gewonnen zu haben. Wie bei so vielen Trends handelt es sich dabei allerdings um eine ziemlich facettenreiche Bewegung. Sie umfasst nationalpopulistische und nationalkonservative Parteien innerhalb des demokratischen Systems von Westeuropa (wie die Dänische Volkspartei, die Holländische Freiheitspartei PVV, die Schweizerische Volkspartei, die italienische Lega Nord und andere), das Wiederaufleben eines faschistoiden christlichen Nationalismus (wie in Serbien) und eine Anzahl von Trends, die mit der liberalen Demokratie komplett unvereinbar sind.
Zwar mag in Westeuropa eine unheimliche Verbindung zwischen der kulturellen Rechten und wichtigen Zentren der religiösen Macht nicht auf die gleiche Weise existieren wie in Serbien. Doch bei der extremen Rechten floriert eine Spielart derselben, auf Kultur beruhenden Ideologie, die manchmal als »Differentialismus« bezeichnet wird. Deren Grundannahme besteht darin, dass wesentliche und unüberbrückbare Unterschiede zwischen kulturellen und religiösen Gruppen bestehen – weshalb sie getrennt leben sollten, mit unterschiedlichen Gesetzen, Institutionen, Territorien. Der Differentialismus ist der Multikulturalismus der Rechten; in dieser Sichtweise ist der Krieg zwischen Christentum und Islam unvermeidlich – der von ausgedehnter Gewaltanwendung auf dem Balkan bis zu niedrigschwelligen ideologischen Bürgerkriegen in Westeuropa reiche. Einige halten diesen Krieg sogar für wünschenswert, denn der Kampf enthülle, dass Kultur und Religion ausschlaggebende Faktoren für die Existenz eines »Volks« seien. Dieses Denken gedeiht in vielerlei Variationen. Sie alle haben in Kultur und Religion eine gemeinsame Basis und können als »Kulturalismus« kategorisiert werden. Die europäischen nationalistischen Parteien der extremen Rechten sind die monokulturalis­tischen Vorkämpfer für diesen Typus der kulturellen Ideologie. Diese zusammenhängende politische Ideologie steht hinter Breiviks Gegnerschaft zum Multikulturalismus.
Sich dies zu vergegenwärtigen, erlaubt, einige Dinge klarer zu erkennen. Beispielsweise, wie der norwegische Historiker Øystein SØrensen argumentiert, dass unter den derzeit existierenden politischen Systemen der Welt gerade der islamistische Iran die größte Ähnlichkeit mit Breiviks Traum hat. Theokratische Politik, Verfolgung der Ungläubigen, strikte Kontrolle der inländischen Liberalen … bis hin zur obersten Führung durch die Eingeweihten eines Wächerrats. Dass der Breiviksche christliche Faschismus zur Rechten gehört, dies feszustellen erschien den meisten Beobachtern nicht schwierig. Aber die politischen Phantasien der Islamisten gehören exakt zum gleichen Bereich. Dass die beiden Gegner sind, sogar Todfeinde, hält viele davon ab, das zu erkennen. Aber es scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass Parteien der extremen Rechten partikularistisch sind und jeweils ihre eigene erwählte Gruppe fördern, weshalb sie typischerweise eher Feinde als Verbündete sind – man denke nur an den französischen und den deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. So ­ermöglicht es Breivik, etwas zu erkennen, das gerne vergessen wird: Alle theokratischen Totalitarismen haben eine Menge struktureller Ähnlichkeiten und gehören zur extremen Rechten.

Eine andere, noch wichtigere Einsicht besteht darin, dass Breiviks unheimliche Ideologie es ermöglicht, seinen Angriff auf den Multikulturalismus klar von der aufklärerischen Kritik des undemokratischen Multikulturalismus zu unterscheiden. Beide Kritiken des Multikulturalismus stammen aus einander komplett entgegengesetzten Denkrichtungen. Breivik greift das »Multi« des Multikulturalismus an, die Aufklärung attackiert seinen »Kulturalismus«. Breivik setzt Monokulturalismus gegen Multikulturalismus. Er will in einem gewaltsamen Kreuzzug christliche Werte gegen muslimische Werte ausspielen. Die aufklärerische Kritik des Multikulturalismus hingegen erkennt, dass sowohl der Multikulturalismus wie auch Breiviks Monokulturalismus lediglich Spielarten des Kulturalismus sind. Sie glauben beide, dass Individuen von ihrer Kultur bestimmt seien – dass sie keinen freien Willen haben, mit dem sie ihre Wahlmöglichkeiten und ihren Lebenslauf beeinflussen können. Der universelle Humanismus wird keiner Kultur oder Religion besondere Rechte einräumen, sei es Breiviks Monokulturalismus, sei es dem Multikulturalismus der knallbunten Priester. Stattdessen wird er geltend machen, dass Kulturen und Religionen überhaupt keine Rechte haben sollten – diese sollten vielmehr Individuen zustehen. Er wird geltend machen, dass der Raum für alle Religionen von den grundlegenden Prinzipien der Menschenrechte begrenzt werden muss – ganz egal, welche Götter jene Religionen jeweils bevorzugen. Die aufklärerische Kritik des Multikulturalismus behauptet, dass keine Kultur oder Religion besondere Gruppenprivilegien verdient, die die Menschenrechte verletzen. Breivik hingegen schert sich nicht im Geringsten um die Menschenrechte – sie gehören zu dem, was er ausrotten will.
In diesem Sinn hat Breivik es sonnenklar gemacht, dass die Grenzen des Multikulturalismus von den Menschenrechten der Aufklärung gesetzt werden sollten – nicht von den Phantasmen und religiösen Ideen der Gegenaufklärung.
Das Urteil gegen Breivik hat klar dargelegt, dass er vorsätzlich ein Verbrechen in einem politischen Kontext begangen hat, dass es sich nicht um die Tat eines verwirrten Unzurechnungs­fähigen handelte. Diese vernünftige rechtliche Würdigung bringt Transparenz in seine apokalyptischen Taten und in die kulturalistischen Herausforderungen für die Demokratie und die Menschenrechte.

Jens-Martin Eriksen und Frederik Stjernfelt sind die Autoren des 2008 auf Dänisch erschienenen Buchs »Adskillelsens politik«, das in einer überarbeiteten Fassung 2012 auf Englisch unter dem Titel »The Democratic Contradictions of Multiculturalism« und auf Französisch, übersetzt von Peter Bundgaard, unter dem Titel »Les pièges de la culture; les con­tradictions démocratiques du multiculturalisme« erschienen ist.