Ricardo Vargas im Gespräch über den Drogenkrieg in Lateinamerika

»Das Blatt ist überaus nährstoffreich«

Im »Krieg gegen die Drogen« sterben in Lateinamerika Tausende Menschen und die Polizei beschlagnahmt fast wöchentlich Tonnen von Kokain. Ist die internationale Drogenpolitik gescheitert? Die Jungle World sprach mit Ricardo Vargas über die Entwicklung der Kartelle und die Probleme der herrschenden Drogenbekämpfungsstrategie. Der Soziologe ist Drogenexperte des gemeinnützigen Netzwerks Acción Andina in Bogotá und des in Amsterdam ansässigen Think Tanks Transnational Institute. Er lebt in Bogotá.

Die Drogenkartelle rüsten beim Schmuggel technisch auf. Sogar U-Boote werden immer wieder eingesetzt, zuletzt beschlagnahmte die kolumbianische Marine Ende Juli eines. Hat die Polizei im Wettlauf mit den Kartellen überhaupt eine Chance?
Dass die Kartelle U-Boote bauen, ist nicht neu. Schon in den neunziger Jahren wurden erste U-Boote aufgespürt, und in den letzten Jahren hat es wieder mehrere Fälle gegeben. Es ist eine Möglichkeit, große Mengen Kokain zu transportieren. Das beschlagnahmte U-Boot hätte sechs Tonnen transportieren können und es wird weitere geben. Es stimmt, dass die Technik, die zum Einsatz kommt, immer besser wird.
Ist die Pazifikroute für den Schmuggel in letzter Zeit wichtiger geworden?
Die Kartelle haben alle Routen im Blick, ob über die Karibik, den Pazifik oder den Landweg über Mittelamerika oder Mexiko. Die Polizei beschlagnahmt eigenen Schätzungen zufolge kaum fünf Prozent der Produktion. Die Kartelle reagieren unglaublich schnell. Deren Strukturen sind nicht so hierarchisch wie in den achtziger und neunziger Jahren, sie haben eher Netzwerkcharakter, sind deutlich flexibler und sehr mobil. Die Zahl der Routen hat stark zugenommen und die Transportmethoden sind vielfältig.
Obwohl in den vergangenen zehn Jahren mit großem internationalen Aufwand versucht wurde, die Produktion von Kokain und Heroin einzuschränken, sind Angebot und Anbauflächen deutlich gewachsen. Wie kommt das?
Das Problem ist die Strategie, auf der das Konzept der Drogenbekämpfung basiert: Die Verknappung des Angebots durch das manuelle Ausreißen und das Besprühen der Koka- oder Mohnpflanzen mit Unkrautvernichtungsmitteln soll den Preis für Kokain und Heroin auf dem internationalen Markt merklich steigern. Das soll, so die Theorie, zu einer Senkung der Nachfrage führen. Auf dieser Logik basiert auch der »Plan Colombia«, der ab 2000 in Kolumbien zum Einsatz kam. Diese Gleichung ist aber nicht aufgegangen. Eine Strategie, die sich auf die Reduzierung des Angebots konzentriert, ist unzureichend, wenn man sich gleichzeitig keine Gedanken darüber macht, wie die Nachfrage zustande kommt. Die ist konstant geblieben und an der Verfügbarkeit von Kokain hat sich nichts geändert, wie die Fakten zeigen. Die Anbieter haben dynamisch auf die konstante Nachfrage reagiert und sich obendrein neue Konsumentenschichten in Lateinamerika erschlossen, sowohl in den Produktions- als auch den Transitländern. Diese Dynamik ist nicht nur in Kolumbien, El Salvador und Mexiko zu beobachten, sondern auch in Afghanistan, dem Iran, Indien, China und afrikanischen Ländern.
Gibt es denn Alternativen zur repressiven Drogenpolitik mit all ihren negativen Folgen?
Nein, denn an den USA vorbei lässt sich keine internationale Drogenpolitik gestalten, und die Strategie der USA orientiert sich am Verbot. Es gibt wenig Raum für alternative Projekte und für Prävention. Schadensminimierung aus gesundheitspolitischer Perspektive spielt in der US-Drogenpolitik nur eine nachrangige Rolle. Fast alles orientiert sich an der Bekämpfung von Produktion und Transport, aber die Gegebenheiten in den Produktions- und Transitländern haben sich verändert, denn der Konsum in diesen Ländern steigt stetig. Das ist eine ernsthafte Schwäche der internationalen Drogenpolitik, sie ist einseitig ausgerichtet. Interessant in diesem Kontext ist aber, dass es immer mehr Gemeinden gibt, die eigene Programme entwickeln, um dem Drogen­elend und der Perspektivlosigkeit zu begegnen.
Gibt es denn ausreichend politischen Willen, Gemeinden, die eine eigene Perspektive aufbauen wollen, mehr Autonomie und mehr Mittel zu gewähren?
Nein, ich kenne keine Abgeordneten der Regierungspartei oder Mitarbeiter in Ministerien, die sich von der offiziellen Leitlinie entfernt haben. US-Organisationen sind bereit, mit den Leuten auf lokaler und regionaler Ebene zu sprechen und deren Vorschläge zur Kenntnis zu nehmen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, am großen Rahmen ändert das allerdings nichts.
Stimmt es, dass es längst neues Saatgut und höhere Erträge als früher gibt?
Die Kartelle sind meist nicht direkt im Anbau vertreten. Die Bauern sind es, die die widerstandsfähigsten Pflanzen mit den ertragreichsten kreuzen. Das ist auch bei anderen Kulturpflanzen der Fall. Es sind Pflanzen, die auf die lokalen Wetterbedingungen abgestimmt sind, und viele Beobachter sind sich einig, dass die Erträge höher sind als geschätzt. Aber es gibt keine wissenschaftlichen Studien, sie fehlen, weil es nicht den politischen Willen gibt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Es deutet wenig darauf hin, dass sich das ändern könnte.
Die Besprühung der Anbauflächen aus der Luft mit Chemikalien wurde oft kritisiert. Welche Bedeutung hat sie für Kolumbien?
Hier wird in großem Umfang besprüht und allein die Tatsache, dass in den USA derartige Chemikalien nicht zum Einsatz kommen, obwohl es ja auch eine beachtliche Marihuana-Produktion in Kalifornien gibt, spricht Bände. Wir wissen nicht, wie Roundup, ein Glyphosat, sich langfristig im Boden auswirkt. Die Bauern klagen über Kopfschmerzen, Hauterkrankungen und andere Beschwerden nach dem Sprühen, aber es gibt keine Studien darüber, welche Schäden das Pestizid des US-Unternehmens Monsanto hervorruft.
Bolivien hat die internationale Kampagne für die Entkriminalisierung des Kokablatts, »Koka ist nicht Kokain«, ins Leben gerufen. Wie denken Sie darüber?
In Bolivien hat der traditionelle Kokakonsum eine große Bedeutung, aber in Kolumbien werden Schätzungen zufolge nur 0,5 Prozent der Kokablätter in alternativen Produkten verarbeitet oder traditionell konsumiert. Allerdings sollte es keine Denk- und Forschungsverbote geben, denn bisher ist Koka in all seinen Einsatzmöglichkeiten noch gar nicht erforscht. Es fehlt sicherlich Grundlagenarbeit und da ist die Forderung Boliviens nur legitim.
Hat eine alternative Nutzung denn grundsätzlich Chancen?
Natürlich, das Blatt ist schließlich überaus nährstoffreich und es gibt Hinweise auf vielfältige Einsatz- und Wirkungsmöglichkeiten. Aber dazu bedarf es wissenschaftlicher Studien.
Der Drogenkrieg ist eine immense Bürde für Kolumbien. Inwieweit bedroht er das politische System?
Das zentrale Problem Kolumbiens ist nicht der Drogenkrieg, sondern die Unterwanderung des politischen Systems durch illegale Strukturen – durch den Paramilitarismus. Die Grundlagen der Verfassung von 1991 sind gefährdet und damit einher geht eine Zunahme der Korruption auf allen Ebenen. Der parapolitische Sektor ist extrem einflussreich, verfügt über unglaubliche ökonomische Ressourcen und versucht, mit seinem Einfluss die Auslieferung von paramilitärischen Drogenbaronen in die USA zu verhindern. Auch die Konzentration des Grundbesitzes und die Vertreibung von indigenen und afrokolumbianischen Menschen von ihrem Land gehören zu den Folgen.