Robert Pfaller im Gespräch über die Verlierermentalität der Postmoderne

»Die postmoderne Liebe zu den Schwachen sorgt dafür, dass die Schwachen auch schwach bleiben«

Widerstandslos geben wir historisch mühsam errungene soziale Standards preis, behauptet ROBERT PFALLER. Der Leiter des Lehrstuhls für Philosophie der Universität für angewandte Kunst in Wien erklärt, wie Rauchverbote, das Binnen-I und Bescheidenheit beim Sex den Neoliberalismus stützen.

Sie behaupten, dass die Linke in den letzten Jahrzehnten das Ressentiment und die Viktimisierung mit dem emanzipatorischen Kampf verwechselt habe, was unweigerlich zur Entpolitisierung führe. Was meinen Sie damit?
Alle Maßnahmen, mit denen die neoliberale Politik in den vergangenen Jahren soziale Standards zerstört hat, geschahen im Namen eines Phantoms: im Namen irgendwelcher angeblich unendlich Schwacher, die es unbedingt und sofort zu schützen gelte. Bei den zerstörerischen Universitätsreformen war dieses Phantom der sogenannte »bildungsferne Student«, der angeblich mit einer richtigen Universität überfordert sei; seinetwegen müsse man die Unis zu stupiden, repressiven Tretmühlen machen. Bei den Rauchverboten waren es die armen Passivraucher, insbesondere das Restaurantpersonal – anstatt dass man diesem eine Gefahrenzulage zuerkannt hätte, ähnlich wie Bergarbeitern. Bei den Einschränkungen der Sexualität sind das Phantom beispielsweise die Frauen, die angeblich von so viel Sex überfordert seien; eine Stilisierung, die zum Beispiel das viktorianische Bild der Frau des 19. Jahrhunderts an infamer Prüderie bei Weitem noch übertrifft.
Alle wirklich emanzipatorischen Politiken hingegen haben ihren Benachteiligten immer deren Stärke in Erinnerung gerufen: »Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will!« Nur auf diese Weise kann man Leute stärken. Die postmoderne Liebe zu den Schwachen dagegen sorgt dafür, dass die Schwachen auch schwach bleiben müssen, sonst sind sie nicht mehr liebenswert.
Was hat der Fetisch des Authentischen, das überall postulierte »Be Yourself!«, mit der Achtundsechziger-Generation zu tun, und warum lassen sich politische Positionen, die damals als Kampfansage an die herrschenden Verhältnisse formuliert wurden, heute so gut in die neoliberale Verwertungslogik integrieren?
Das Beharren auf dem Eigenen und die Furcht vor dem Fremden, vor Entfremdung und Heteronomie konnten so lange emanzipatorisch wirken, wie ihnen eine konservative hegemoniale Macht gegenüberstand. Diese Hegemonie der Rechten wurde in den siebziger Jahren von einer Hegemonie der Linken abgelöst. Die Antwort der Rechten seit der ersten Bush-Ära bestand nun nicht darin, wieder eine neue Hegemonie anzustreben, sondern Hegemonie als solche zu zerstören. In dieser Situation leben wir heute. Darum ist das Beharren auf dem Eigenen heute reaktionär – weil es einen Verzicht auf jeglichen Anspruch auf das Allgemeine darstellt.
Was meinen Sie, wenn Sie von der Herrschaft des »belästigten Subjektes« sprechen? Wer fühlt sich durch wen belästigt und warum? Was geht uns dadurch Ihrer Meinung nach verloren?
Das Recht, sich belästigt zu fühlen, ist, wie Slavoj Žižek treffend bemerkt hat, heute zum einzigen postmodernen Menschenrecht geworden. Allen, die erklären, sie seien belästigt, wird sofort geholfen. Wenn zum Beispiel jemanden Kunst stört, dann kommt eben die Kunst sofort weg, wie im Fall der Skulptur »Tilted Arc« von Richard Serra in New York 1989. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass niemand mehr vom öffentlichen Raum irgendeine positive Leistung erwarten darf, zum Beispiel soziale Sicherheit, Altersvorsorge, Bildung, Infrastruktur, geschweige denn Geselligkeit, Würde, Eleganz.
Sie haben den Begriff des »Beuteverzichts« geprägt. Was verstehen Sie darunter?
Wenn man einen Feind bekämpft und dieser Feind im Besitz von beispielsweise klassischer Bildung oder von guten Waffen ist, dann stellt sich immer die Frage: Wie verhalten wir uns gegenüber dem, was der Feind besitzt? Postmoderne Individuen tendieren dabei zu einer sehr einfachen Strategie. Sie suchen ständig nach dem Eigenen, nach dem Motto »Be Yourself!«, und darum ist ihnen alles, was der Feind hat, zuwider, und sie versuchen, es zu zerstören. Wenn die Weißen die hegemoniale Bildung haben, dann glauben die diversen Nichtweißen, besser ohne diese Bildung auszukommen. Wenn die Männer den Sex haben, dann glauben die Frauen und die übrigen Nichtmänner, ohne Sex frei zu sein, etc.
Diese Haltung führt aber immer zu sehr bescheidenen Zielen: Wenn solche Kämpfe siegen, dann haben alle am Ende nicht alles, sondern nichts. Die Standards der bisher Unterdrückten werden dann zum allgemeinen Standard. Wenn man aber die Beute nicht haben will, dann braucht man ja gar nicht zu kämpfen. Das Ressentiment – der Hass auf die Beute – ist darum eine Verlierermentalität und keine emanzipatorische Kraft. Genau darin besteht meines Erachtens der Wert der postmodernen Ideologie für die neoliberalen Privatisierungen: Auf diese Weise hat man erreicht, dass die Individuen von sich aus auf das, was allen zusteht, auf die gesellschaftliche Allmende, verzichten. Individuen der Moderne hatten da eine ganz andere Haltung: Die Partisanenarmeen im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel waren sich dessen bewusst, dass ihr einziger Waffenlieferant oft der Feind war.
Sie sprechen von einer »Pseudopolitik«, die heutzutage staatlicherseits betrieben würde. Ist diese »Pseudopolitik« nicht einfach nur die andere Seite einer neuen Biopolitik, die dann doch sehr reale Auswirkungen auf unser Leben hat?
Da haben Sie völlig recht. Wenn die Pseudopolitik keine realen Auswirkungen hätte, müsste man sie ja auch nicht bekämpfen. Biopolitik ist ein Teil von Pseudopolitik, aber nicht alles. Die Rauchverbote zum Beispiel sind nicht nur gesundheitspolitische Maßnahmen; sie zielen auch darauf ab, den Anspruch der Individuen auf Gesellschaft zu ersetzen durch den sehr viel bescheideneren Anspruch der Individuen auf Schutz vor Belästigung durch Gesellschaft. Und wir haben auch um Binnen-Is gestritten, während das Kapital mit den Milliarden unbemerkt durch die Hintertür verschwand.
Beschäftigt sich die radikale Linke zu sehr mit sich selbst, anstatt die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft zu suchen?
Eine Folge postmoderner Zersplitterung besteht darin, dass fast alle nur noch mit Gleichgesinnten und Gleichorientierten verkehren möchten und dass es keine allgemeine Sprache zur Verständigung gibt. So entstehen lauter nestwarme »Communities«. Auch darin aber liegt Beuteverzicht, der Verzicht auf den Anspruch auf Gesellschaft. Ohne die anonyme, diskrete Rolle, die Individuen dort spielen müssen, ohne das Recht auf Nichtdeklarieren der eigenen Person sozusagen, sind sie, wie Richard Sennett gezeigt hat, weder zu Glück noch zu Freiheit fähig.
Sie kritisieren in Ihrem Buch »Wofür es sich zu leben lohnt – Elemente materialistischer Philosophie« den Umbau der Hochschulen in »repressive Obermittelschulen, die nur noch auf den Prinzipien des Zwangs und der Kontrolle beruhen«. Welche Erfahrungen machen Sie an der Universität für angewandte Kunst in Wien?
Die Kunstuniversitäten sind glücklicherweise von den Zerstörungen weniger stark betroffen. Da es, wie man auch in der Geschichte der Arbeiterbewegung sehen kann, immer die am wenigsten Unterdrückten sind, die sich am meisten wehren können, sind die großen europaweiten Studierendenstreiks im Herbst 2009 darum auch von einer Wiener Kunstuniversität ausgegangen. Die Ziele des antineoliberalen Kampfes sind an allen Universitäten dieselben: Verhindern, dass Zwang und Kontrolle die Macht übernehmen, und an die Stelle der völlig ineffizienten Effizienz der Transformationsfunktionäre und Reformgewinnler die gute, alte effiziente Ineffizienz der Universitäten setzen. Ineffiziente Effizienz besteht zum Beispiel darin, dass man völlig verschulte Studiengänge voller Prüfungen hat, die dann erst recht zu keinem Job führen. Effiziente Ineffizienz hingegen zeigt sich an dem Umstand, dass viele, die in den Unis der siebziger und achtziger Jahre ohne Curricula und oft sogar auch ohne Abschlüsse studierten, in diesem freien Flottieren zu Kompetenzen gelangten, die ihnen die besten Jobs ihrer Jahrgänge einbrachten: Viele meiner damaligen Kolleginnen und Kollegen sind heute gutbezahlte Museumsdirektorinnen, Finanzfachleute, Sommeliers, Journalistinnen, Dramaturgen, Verlagsleiterinnen etc.