Wahlkampf in den USA

Klassenkampf und Kulturkrieg

Trotz der anhaltenden Wirtschaftskrise hat Barack Obama gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Die Republikaner haben ihm unfreiwillig so manchen Gefallen erwiesen.

Wenn die Wählerinnen und Wähler in den USA am 2. November ihre Entscheidung nach den gleichen Kriterien treffen wie in den vergangenen Jahrzehnten, wird Barack Obama das Weiße Haus räumen müssen. Es ist lange her, dass die US-Bevölkerung bei anhaltender Wirtschaftsflaute einen Präsidenten wiedergewählt hat, und ein Mittel gegen die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Regierung Obamas in dessen erster Amtszeit nicht gefunden.
Die Arbeitslosigkeit bleibt mit über acht Prozent hoch. Das Wirtschaftswachstum ist dürftig, im zweiten Quartal 2012 betrug es lediglich 1,5 Prozent. Der 2007 eingebrochene Immobilienmarkt erholt sich nur langsam, der soziale Abstieg weiter Teile der Mittelschicht setzte sich fort. Dies kann nicht ausschließlich der Regierung vorgeworfen werden, zumal die Republikaner und die Tea-Party-Bewegung alles taten, um Obama und die Demokraten zu blockieren. Doch in den Augen vieler Wähler haftet letztlich der Präsident.
»It’s the economy, stupid« – der oft zitierte Spruch eines Beraters des damaligen Präsidentschaftskandidaten Bill Clinton ist kein Klischee. Als die Rezession 1991 begann, hatte der amtierende Präsident George H. W. Bush wegen des Irak-Krieges die Zustimmung von deutlich über 80 Prozent der Bevölkerung. Bei der Wahl im November 1992 bekam Bush jedoch die Quittung für die schlechte Wirtschaftslage: Die Wähler warfen ihn aus dem Amt und entschieden sich für einen vorher kaum bekannten und zudem moralisch zweifelhaften Gouverneur. Bereits Präsident Jimmy Carter verlor 1980 die Wahl gegen Ronald Reagan vor allem wegen der damaligen Rezession.
Doch was als eine eiserne Regel galt, scheint gut zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl nicht mehr zu gelten. Obgleich Obama und sein republikanischer Konkurrent Mitt Romney in den Umfragen nahezu gleichauf liegen – derzeit genießen sie jeweils die Zustimmung von etwa 45 Prozent der Bevölkerung –, führt Obama in den Prognosen auf der Ebene der Wahlmännerzählung deutlich.

Präsident der USA wird nicht unbedingt der Kandidat, der landesweit die meisten Stimmen bekommen hat. Über den Sieg entscheidet die Mehrheit im Electoral College der Wahlmänner und -frauen, und für dieses Gremium sind die Mehrheiten in den jeweiligen Bundesstaaten entscheidend. Im Jahr 2000 gewann George W. Bush die Präsidentschaftswahl, obwohl Al Gore insgesamt mehr Stimmen erhielt. Auch deswegen können Analytiker wie Nate Silver von der New York Times berechnen, dass Obama eine 70prozentige Chance hat, wiedergewählt zu werden. Zwar geht Silver davon aus, dass Obama wahrscheinlich auch insgesamt mehr Stimmen gewinnen wird als Romney. Sollten jedoch viele von Obama enttäuschte Wählerinnen und Wähler in den urbanen Zentren der demokratisch dominierten Bundesstaaten nicht abstimmen, während die republikanische Basis in die Wahllokale strömt, könnte Obama auch auf eine weniger demokratische Art gewinnen.
Dass Romney es trotz der anhaltenden Wirtschaftsflaute so schwer hat, liegt an einer Vielzahl von Gründen, die mit der Wirtschaft nichts zu tun haben. Seit der konservativ-rechtslibertäre Flügel der Republikaner – die Tea Party – 2010 die Partei unter seine Kontrolle brachte und anschließend mit dem christlich-fundamentalischen Flügel Frieden schloss, steht die Partei mehr denn je für eine reaktionäre Politik im »culture war«, und das in einem Moment, da die Konservativen in vielen Fragen der »Werte« eine Minderheitsposition vertreten.
Dies gilt insbesondere für die Frauenrechte. Das Recht auf Abtreibung beispielsweise soll nach der Ansicht so gut wie aller führenden Republikaner grundsätzlich versagt werden. Selbst im Fall von Schwangerschaften, die aufgrund einer Vergewaltigung zustande gekommen sind, soll der Abbruch nach dem Willen der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus verboten werden. Auch das Recht auf Verhütungsmittel und andere frauenspezifische Gesundheitsleistungen versuchen viele prominente Republikaner einzuschränken. Die Frauenfeindlichkeit der Republikaner reicht so weit, dass sogar das Recht auf Lohngleichheit zwischen Frauen und Männer aus den Gesetzbüchern gestrichen werden soll. Kein Wunder, dass Obama in Umfragen einen Vorsprung von gut 15 Prozent bei den Wählerinnen des Landes hat.

Auch Afroamerikaner und Latinos geben ihm den Vorzug. Etwa 90 Prozent der afroamerikanische Wähler und Wählerinnen haben seit der erstmaligen Anwendung der rassistischen »southern strategy« seitens der Republikaner unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Civil Rights Act von 1964 für die Demokraten gestimmt. Romney kann nur die Unterstützung von weniger als zwei Prozent dieser Bevölkerungsgruppe erwarten. Es ist unwahrscheinlich, dass er die Stimmen von mehr als 30 Prozent der Latinos erhalten wird, deren Anteil an der Bevölkerung deutlich wächst. Mit Ausnahme der traditionell republikanisch wählenden kubanischen Exilbevölkerung lehnen die meisten Latinos die Republikaner wegen ihrer einwandererfeindlichen Politik ab.
Insbesondere seit Obama sich für die Aufnahme offen lebender Homosexueller in die Streitkräfte und für die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare ausgesprochen hat, wird außerdem erwartet, dass er die meisten Stimmen homosexueller Wähler – und auch viele der heterosexuellen Befürworter der Gleichberechtigung – gewinnen wird. So könnte sich die reaktionäre Politik der Republikaner rächen. Problematisch für Obama ist allein die Schicht weißer Wähler ohne höheren Bildungs­abschluss. Hier findet Obama deutlich weniger als 40 Prozent Zustimmung, Tendenz sinkend.
Da die Demokraten seit ihrer Metamorphose zur Bürgerrechtspartei im Jahr 1964 nie mehr als 48 Prozent der Stimmen der weißen Bevölkerung bei einer Präsidentschaftswahl errungen haben, versucht Romney vor allem, das Potential bei dieser Wählerschicht auszuschöpfen. So stilisiert er sich als erfolgreicher Geschäftsmann, der weiß, wie man die Wirtschaft ankurbeln, das Land und den Staatshaushalt sanieren kann. Romney habe sich als »Retter« der von Korruptionsskandalen geplagten Olympischen Spiele 2000 in Salt Lake City erwiesen, so könne er nun als Retter der US-Wirtschaft dienen. Der jüngst von ihm zum Vizepräsidentschaftskandidaten erkorene Paul Ryan pflegt ein ähnliches Image.
Es geht vor allem um das Image, denn die Pläne zur Sanierung der Wirtschaft und des Staatshaushaltes sowohl Romneys als auch Ryans können als ideologische Traumtänzerei angesehen werden. Der Ökonom und Kolumnist der New York Times, Paul Krugman, bezeichnet diese Pläne schlicht als »Betrug«. Robert Reich, Ökonom und Arbeitsminister unter Clinton, sieht sie als ein »Desaster für Amerika«. Die vagen Pläne sehen eine beispielslose Austeritätspolitik zu Lasten vor allem der ärmeren und älteren Bevölkerung bei gleichzeitigen Steuerbegünstigungen für die Oberschicht vor. So sollen Gesundheitsleistungen, die Gelder für Essensmarken und für die Sozialhilfe zusammengestrichen, die staatliche Krankenversicherung Medicare für Senioren soll pri­vatisiert und die staatliche Rentenversicherung Social Security erheblich eingeschränkt werden. Dagegen soll die Kapitalertragssteuer von 35 auf deutlich weniger als 15 Prozent herabgesetzt werden.

Da diese Pläne offensichtlich unsozial und überdies im Hinblick auf Haushaltskonsolidierung und Konjunktur unsolide sind, sahen Obamas Wahlkämpfer vor etwa sechs Wochen eine Chance, das Schwinden der Zustimmung bei den Weißen ohne höheren Bildungsabschluss zumindest aufzuhalten. Mit einer für die Demokraten ungewöhnlichen Intensität begannen sie gezielt, Romney als Vertreter und Fürsprecher der Schwerreichen zu attackieren. Zunächst wurde Romneys Vergangenheit als Spezialist für fremdkapitalfinanzierte Firmenübernahmen thematisiert, als jemand, der Hunderte Millionen Dollar am Aufkauf und Ausschlachten von mittelständischen Unternehmen verdiente, als ein »Pionier des Outsourcens« von Arbeitsplätzen nach Asien. Gleichzeitig wurde betont, dass Romney kaum einen Einblick in seine persönlichen Finanzen ­gewährt.
Dass Romney bislang – gegen die von seinem Vater George Romney, Gouverneur von Michigan und 1968 erfolgloser Bewerber für die republikanische Präsidentschaftskandidatur, etablierte Tradition der Veröffentlichungen der eigenen Steuerunterlagen – lediglich Unterlagen für das Steuerjahr 2010 freigegeben hat, wird zum Anlass genommen, provokativ zu fragen, ob er in den Jahren davor überhaupt Steuern bezahlt habe. Denn in dem Steuerjahr, für das Romney Unter­lagen herausgab, hat er nur 13 Prozent Steuern gezahlt – weit weniger, als die durchschnittlichen Mittelschichtswähler zahlen – und darüber hinaus mit zahlreichen Bankkonten in Steueroasen wie den Kaiman-Inseln und der Schweiz hantiert. Demgegenüber tritt Obama mit einem Wirtschaftsplan hervor, der zwar insgesamt kaum keynesianischer ist als der Plan der Republikaner, jedoch die Steuerlast der Reichsten deutlich erhöhen will.
Es ist vielleicht Pech für die Republikaner, dass sich ausgerechnet in dem Moment, da die Wall Street bei der US-Bevölkerung noch unpopulärer als es die Politiker ist, Romney bei den Vorwahlen der Partei als Kandidat durchsetzte. Republikanische Granden wie Karl Rove, der für George W. Bush die Kampagnen führte, haben vor Jahren davor gewarnt. Die »Occupy«-Bewegung scheint mit ihrem Anspruch, eine dauerhafte »Bewegung der 99 Prozent« zu bilden, gescheitert zu sein, da ihr die Massenbasis längst verloren gegangen ist, sie sich mit lokalen Auseinandersetzungen beschäftigt und kontroverse Fragen wie der Nahost-Konflikt und der Skandal um Julian Assange für Streit sorgen. Dennoch hat sie im vergangenen Jahr maßgeblich dazu beigetragen, dass die Bedingungen für eine klassenpolitische Wahlkampfstrategie geschaffen wurden. Ob sich die »Occupy«-Bewegung für den Sieg der Tea Party bei den Zwischenwahlen 2010 revanchieren kann, wird sich aber erst am Wahlabend zeigen.