Soziale Konflikte in Südafrika

Schweigen ist Platin

Das Massaker an den streikenden Minen­arbeitern in Marikana lässt die Konflikte des neuen Südafrika offenbar werden.

Seit dem Ende der Apartheid feiert sich Südafrika als multikulturelle Rainbow Nation. Die seit 1994 regierende Allianz aus dem African National Congress (ANC), dem Gewerkschaftsverband Cosatu und der Kommunistischen Partei (SACP) genoss aufgrund ihrer Rolle im Befreiungskampf gegen das Apartheid-Regime lange das Vertrauen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit. Doch knapp 20 Jahre Demokratie haben wenig an der ethnischen Segregation geändert und erst kürzlich hat Südafrika Brasilien den Rang des Staates mit der weltweit größten sozialen Ungleichheit abgelaufen. Auch im Hinblick auf Mord-, Vergewaltigungs- und Aids-Raten ist Südafrika führend und etwa 40 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung sind arbeitslos. Abgesehen vom Aufstieg einer zahlenmäßig kleinen schwarzen Elite mit Verbindungen zur Führungsriege des ANC hat sich seit dem Ende der Apartheid wenig an den Eigentumsverhältnissen geändert – das Durchschnittseinkommen der Armen ist in den letzten 20 Jahren sogar gesunken. Vieles spricht dafür, dass das Massaker an den streikenden Minenarbeitern in Marikana vor zwei Wochen einen Wendepunkt im Verhältnis des ANC zu seiner sozialen Basis markiert.

Vielen Beobachterinnen und Beobachtern erschienen die Bilder der 34 streikenden Minenarbeiter, die mit Maschinenpistolen niedergemäht wurden, auf unheimliche Weise vertraut. Die Szenen im Nordwesten des Landes am Rande der Platinmine des britisch-südafrikanischen Bergbauunternehmens Lonmin erinnerten fatal an das Vorgehen des Apartheid-Regimes. Dieser Eindruck verstärkte sich angesichts der Reaktion von Staatspräsident Jacob Zuma, der zwar eine Woche Staatstrauer anordnete, zugleich aber das Vorgehen der Polizei verteidigte und vor einseitigen Schuldzuweisungen warnte. Die im Cosatu organisierte National Union of Mineworkers (NUM) beeilte sich, die Verantwortung für die Eskalation der militanten Splittergewerkschaft AMCU zuzuschieben, die die Minenarbeiter mit unrealistischen Lohnforderungen aufgehetzt habe. Ein Vertreter der SACP lobte gar das beherzte Vorgehen der Polizeikräfte. Während das offizielle Südafrika nun unter viel Händeringen je nach politischer Couleur über die besorgniserregende Radikalisierung der Arbeiter oder die mangelhafte Ausbildung der Polizeikräfte räsoniert, bleibt der eigentliche Skandal, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Minenarbeiter, außen vor.
Dabei ist die Geschichte des Bergbaus in Südafrika von Beginn an eine blutige gewesen, woran sich auch nach dem Ende der Apartheid wenig geändert hat. Zwar ist seit den neunziger Jahren die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle im Bergbau um zwei Drittel gesunken, trotzdem ließen 2010 immerhin noch 128 Arbeiter ihr Leben und eine kürzlich erschienene Studie der NGO Benchmarks Foundation hob die überdurchschnittliche Zahl von Todesfällen bei Lonmin hervor. Die wachsende Beliebtheit von Platinschmuck sowie die Verwendung von Platin in der Autoindustrie haben zu einer Verfünffachung der Preise in den letzten Jahrzehnten geführt, so dass das Edelmetall mittlerweile neben Gold das wirtschaftlich bedeutsamste Mineralexportgut Südafrikas ist.

Südafrika hat die weltweit größten Platinvorkommen und Lonmin ist eine der wichtigsten Fördergesellschaften. 2011 konnte das Unternehmen seine Einkünfte um 25,7 Prozent auf 1,9 Milliarden Dollar steigern, doch davon kommt bei den Beschäftigten fast nichts an. Die meisten Minenarbeiter sind Arbeitsmigranten, die zum Teil aus afrikanischen Nachbarländern wie Lesotho und Swaziland, aber auch aus dem Eastern Cape kommen, einer der ärmsten Regionen Südafrikas, die vom Bergbau vergangener Jahrhunderte nachhaltig zerstört wurde. Wie schon zu Zeiten der Apartheid sind die Arbeiter in von den Minengesellschaften betriebenen, miserabel ausgestatteten Wohnheimen untergebracht, so dass sie von der lokalen Bevölkerung weitgehend isoliert leben. In den vergangenen Jahren zahlten manche Minengesellschaften jedoch einen Mietzuschuss, so dass ein Teil der Arbeiter Hütten in informellen Siedlungen mieten und ihre Familien nachholen konnte. Dort sind die Lebensbedingungen allerdings auch nicht besser: In Marikana laufen Abwässer direkt in den mit Bilharziose-Erregern verseuchten Fluss, von Lonmin als Zeichen sozialen Engagements gebaute Schulen sind mit Asbest belastet und in letzter Zeit gab es zum Teil monatelang keine Elektrizität.
Proteste gegen diese Zustände sind in den vergangenen Jahren von der NUM eher gedeckelt als unterstützt worden. Wie die meisten offiziellen Gewerkschaften hat sie den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf Angestellte in der Verwaltung der industriellen Betriebe oder im Staatsapparat verlagert, so dass ihre Mitgliederzahl seit Jahren sinkt. Davon profitieren neu gegründete Gewerkschaften wie die AMCU, deren Mitglieder sich bereits im Arbeitskampf in den Minen des ebenfalls Platin fördernden Unternehmens Impala Platinum zu Beginn des Jahres dadurch hervorgetan haben, dass sie den korporatistischen Konsens in Frage stellten.

Der große Legitimationsverlust, unter dem die regierende Allianz aus ANC, Cosatu und SACP leidet, wurde während des Gedenkgottesdiensts in Marikana offenbar, als eine wütende Menschenmenge mehrere anwesende Minister in die Flucht schlug. Mit einem sicheren Gespür für den rich­tigen Moment konnte sich dort der vor einigen Monaten aus der Partei ausgeschlossene frühere Vorsitzende der Jugendorganisation des ANC, Julius Malema, als Stimme des berechtigten Zorns der Minenarbeiter und ihrer Angehörigen in Szene setzen. Er gehört zwar zur aufstrebenden schwarzen Elite, die von Verbindungen zum ANC und seinem »Black Economic Empowerment«-Programm profitiert hat, vermag es aber, mit populistischer Rhetorik immer mehr arme Südaf­rikanerinnen und Südafrikaner hinter sich zu versammeln. Sein Lob für die Politik des zimbabwischen Autokraten Robert Mugabe hat ihn zum Schrecken der weißen Mittelschicht gemacht, die Enteignungen wie in Zimbabwe fürchtet; gleichzeitig gehört Malema zu den schärfsten Kritikern der ANC-Führungsspitze um Zuma, was ihn schließlich auch sein Amt kostete. Auch die Tatsache, dass Malema als Bauunternehmer mit öffentlichen Aufträgen, die auf fragwürdigem Wege zustande gekommen sind, Gewinne in Millionenhöhe gemacht hat, tut seinem Nimbus als Fürsprecher der Armen nur wenig Abbruch.
Zu den wenigen Kritikern Malemas, denen es nicht vor allem um Besitzstandswahrung geht, gehören die selbstorganisierten sozialen Bewegungen der Armen, etwa Abahlali baseMjondolo. Sie haben Erfahrung mit Repression durch den Staatsapparat wie auch durch Malemas ANC-Jugend gemacht und argumentieren, dass Malemas Forderung nach Verstaatlichung der Minen den eigentlichen Zweck habe, die Verluste seiner ökonomisch weniger erfolgreichen, über Nacht zu Minenbesitzern gewordenen Freunde zu vergesellschaften, darunter Mandelas Enkel und Zumas Neffe. Es bleibt zu hoffen, dass ihre Stimmen in den kommenden Monaten und Jahren mehr Gehör finden, denn Malemas zweiter Aufstieg scheint vorgezeichnet.