Anklage gegen einen ehemaligen Staatssekretär wegen Verbrechen unter der Militärdiktatur in Argentinien

Wieder einmal von nichts gewusst

In Argentinien wurde gegen einen ehemaligen zivilen Staatssekretär der Militärdiktatur Anklage wegen der Nichtanzeige von Verbrechen erhoben.

»Wir stehen für die Freiheit ein«, sagte der Herausgeber der Wochenzeitung Argentinisches Tageblatt, Roberto Alemann, in einem Beitrag der Deutschen Welle vom Mai dieses Jahres. Im gleichen Monat wurde der einzigen deutschsprachigen Zeitung Argentiniens der Medienpreis »Dialog für Deutschland« verliehen. Christoph Lanz von der Deutschen Welle betonte in seiner Laudatio, das Blatt habe sich »seit seiner Gründung 1887 auch in stürmischer und gefährlicher Zeit stets den Grundsätzen der Freiheit und der Demokratie verpflichtet«. Tatsächlich war die Zeitung zwischen 1933 und 1945 mit ihrer liberalen und antifaschistischen Haltung ein Referenzpunkt für viele deutschsprachige Flüchtlinge in Argentinien, nicht zuletzt für Jüdinnen und Juden. Dieses Image wird bis heute gepflegt. »Es ist schon beeindruckend, wie sie die ganzen Diktaturen überlebt haben«, meinte eine deutsche Praktikantin in dem Beitrag der Deutschen Welle. Betrachtet man aber den Zeitraum nach 1945, bekommt diese Aussage eine andere Konnotation.

Am 10. August wurde gegen den zweiten Herausgeber und Bruder von Roberto Alemann, Juan Alemann, Anklage wegen der Nichtanzeige von Menschenrechtsverletzungen erhoben. Er war während der letzten Militärdiktatur zwischen 1976 und 1981 Finanzstaatssekretär unter dem Wirtschaftsminister José Alfredo Martínez de Hoz, bevor dieser von Roberto Alemann abgelöst wurde. Laut Zeugenaussagen soll Juan Alemann 1980 dem berüchtigten geheimen Folterzentrum der Marine »Escuela de Mecánica de la Armada« (ESMA) einen Besuch abgestattet haben, um dort Orlando Ruiz, ein Mitglied der linksperonistischen Guerilla »Montoneros«, zu befragen. Ruiz wurde vorgeworfen, 1979 an einem Attentat auf Juan Alemann beteiligt gewesen zu sein. Ruiz und seine damals schwangere Frau gehören zu den vielen bis heute »Verschwundenen« aus der Zeit der Militärdiktatur. Der Fall ist auch deshalb brisant, weil Juan Alemann kein Militärangehöriger war. Viele der mit dem damaligen Regime verbundenen Vertreterinnen und Vertreter des Wirtschaftsliberalismus, deren Programm damals in vielen Ländern Lateinamerikas mit brachialer Gewalt durchgesetzt wurde, behaupten heute, sie hätten von den Verbrechen des Militärs nichts gewusst. Durch den Fall Alemann könnte nun exemplarisch das Gegenteil belegt werden. Kurz vor dem Putsch schrieb das Argentinische Tageblatt, dass es wünschenswert wäre, die Anführer der Guerilla verschwinden zu lassen, »wenn möglich bei Nacht und Nebel, ohne es an die große Glocke zu hängen«. Genau dies wurde kurz danach in die Tat umgesetzt. In der Sonderausgabe von 2009 zum 120jährigen Bestehen der Zeitung, in der ihre Geschichte und die der Besitzerfamilie ausführlich aufbereitet wird, wird der Zeitraum der Militärdiktatur ausgespart.

In der Ausgabe vom 17. August 2012 wird die Anklageerhebung als »bizarr« bezeichnet. Juan Alemann wird dort mit den Worten zitiert: »Ja, ich war damals in der ESMA. Man hat mich eingeladen, die benutzten Waffen zu besichtigen und mir den Hergang des Attentats erklärt.« Von den Misshandlungen will er hingegen nichts mitbekommen haben. Dem widersprechen die Zeugenaussagen der beiden Überlebenden Carlos Lord­kipanidse und Víctor Basterra. Lordkipanidse hat ausgesagt, dass er gesehen habe, wie Alemann einen Raum betrat, in den kurze Zeit später Ruiz an Armen und Beinen gefesselt und mit einer Kapuze über dem Kopf gebracht wurde. Es habe sich um einen Folterraum gehandelt, der mit Eierkartons ausgekleidet worden war, damit die Schreie der Misshandelten nicht zu hören seien. Der Richter hat auf der Grundlage der Zeugenaussagen Anklage gegen Alemann erhoben. Dieser sei als Beamter verpflichtet gewesen, die Menschenrechtsverletzungen in der ESMA anzuzeigen. Auf Kritik stößt diese Anklagebegründung jedoch bei vielen argentinischen Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten. Sie fordern, dass Alemann nicht nur wegen unterlassener Hilfeleistung, sondern wegen Beteiligung an der Folter zur Verantwortung gezogen wird.