Die Entwicklung der Jüdischen Studien an deutschen Hochschulen

200 Jahre für einen kleinen Erfolg

Vor 1933 erschwerte der Antisemitismus in Deutschland die Bedingungen für die Wissenschaft des Judentums. Das NS-Regime zerschlug die Rabbinerausbildung und die jüdischen Studien. Nun könnte erstmals nach der Shoa jüdische Theologie an einer deutschen Universität gelehrt werden.

Die Universität Potsdam hat Großes vor: Ein »Meilenstein in der deutschen Wissenschaftsgeschichte« sei die Verwirklichung der Forderung, die jüdische Theologie an einer deutschen Universität einzurichten. Rabbiner Walter Homolka, Direktor des Abraham-Geiger-Kollegs (AGK), teilte dies in einer Presseinformation mit. Er streitet seit Jahren für die Einrichtung einer jüdischen Fakultät. Das AGK ist ein liberal ausgerichtetes Rabbinerseminar, das mit der Universität Potsdam als angegliedertes Institut verbunden ist. Vor einigen Wochen erklärte sich die Universität bereit, eine »Schule für jüdische Theologie« als Institut und ein interdisziplinäres Kolleg für religiöse Studien einzurichten. Schon nächstes Jahr könnte der Lehrbetrieb beginnen, vorher stehen noch Verhandlungen mit dem Brandenburgischen Wirtschaftministerium an.

Die Forderung nach einer Fakultät für die Wissenschaft des Judentums hat Geschichte: Sie wurde bereits 1836 von dem jüdischen Historiker und Orientalisten Abraham Geiger erhoben. Es sei »ein dringendes Bedürfnis unserer Zeit«, schrieb Geiger damals. Sein Ziel war es, das Monopol des Christentums bei der Ausbildung des Kultuspersonals aufzuheben. Es ging Geiger bei seinen Bemühungen nicht um die Theologie der traditionellen Talmudhochschulen. Die Fachrichtung sollte als aufgeklärte Geisteswissenschaft der Neubestimmung des jüdischen Selbstverständnisses in der Moderne dienen. Geiger, ein Vordenker des Reformjudentums, strebte die jüdische Emanzipation durch die Abkehr von religiösen Dogmen und die Integration in die deutsche Gesellschaft an.
Doch die Anstrengungen jüdischer Intellektueller kamen nie über einzelne Dozenturen oder außeruniversitäre Einrichtungen hinaus, der in Deutschland tief verwurzelte Antisemitismus führte dazu, dass nie eine jüdische Fakultät eröffnet wurde. 1942 zerschlug das NS-Regime die Rabbinerausbildung und die jüdischen Studien endgültig. Julius H. Schoeps, Direktor des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien (MMZ), spricht deshalb von einer »historischen Verpflichtung« der deutschen Gesellschaft, die jüdischen Ausbildungseinrichtungen zu ersetzen. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichtenagentur wies er auf den dringenden Bedarf der Gemeinden an qualifizierten Geistlichen hin, ohne die »das Gerede von der Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland reine Floskel« bleibe.
Eine eigene Fakultät wird in Potsdam zwar dennoch nicht entstehen. Doch voraussichtlich wird dort zum ersten Mal nach der Shoa jüdische Theologie an einer deutschen Universität angeboten. »Eine eigene Fakultät war von vornherein aufgrund der Größenordnungen schwer darstellbar«, begründete dies der Universitätspräsident Oliver Günther. Es gebe schlicht nicht genug Nachfrage der Gemeinden.

Auch der Wissenschaftsrat, das bedeutendste wissenschaftspolitische Beratungsgremium der Bundes- und Landesregierungen, hält eine Intensivierung der Lehre auf dem Gebiet der jüdischen Theologie nicht für erforderlich. In einem 2010 von ihm vorgelegten Bericht heißt es, die vorhandenen Ausbildungsstätten in Potsdam und an der privaten Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die sich in der Trägerschaft des Zentralrats der Juden in Deutschland befindet, stellten die Ausbildung des jüdischen Kultus- und Lehrpersonals »in ausreichendem Umfang sicher«. Die jüdischen Gemeinden befänden sich in dieser Hinsicht nach eigenen Angaben in einer »günstigen Situation«. Der Zentralrat der Juden gehe davon aus, dass die Kapazitäten der Hochschule für Jüdische Studien ausreichten, um den in Deutschland vorhandenen Bedarf an über die Rabbiner hinausgehendem religiösen Fachpersonal, wie etwa Kantoren und Jugendenleiter, abdecken zu können, so der Bericht.
Auf die ausdrückliche Empfehlung dieses Berichtes, regionale Studienzentren für religionsbezogene Wissenschaften einzurichten, beruft sich das Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (ZJS). Es wurde im Mai eröffnet und verbindet alle wissenschaftlichen Facheinrichtungen der Region, säkulare und theologische. In der Vergangenheit hatten die beteiligten Institute bereits über eine gemeinsame Fakultät diskutiert. Es kam aber nicht zur Gründung, da einige der Einrichtungen, die teilweise seit Jahrzehnten bestehen, den Verlust von Finanzmitteln befürchteten.
Als erster Schritt sollen nun im kommenden Semester Gastprofessuren an allen beteiligten Instituten eingerichtet werden, für Nachwuchswissenschaftler sollen in den nächsten Monaten Forschungsstellen in den Bereichen Geschichte der jüdischen Studien und der Juden in Berlin-Brandenburg, Trialog zwischen Judentum, Christentum und Islam sowie Erinnerungskulturen und zukünftige Vermittlung der Shoa entstehen.
Sicher ist die Einrichtung des Masterstudiengangs »Interdisziplinäre Antisemitismusforschung«, der ab Herbst 2013 am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin angeboten wird. Antisemitismus sei nicht nur ein Problem der Juden, sondern »im Kern ein Thema der Mehrheitsgesellschaft«, sagte Jörg Steinbach, der Präsident der am ZJS beteiligten TU, zur Eröffnung des Zentrums. Julius H. Schoeps vom MMZ, das ebenfalls an dem neuen Zentrums beteiligt ist, sieht ein Ziel darin, »durch Forschung und Lehre dem verzerrten Bild vom Judentum und von Israel noch besser entgegenzuwirken«.
Die Erwartungen an die Zukunft des Zentrums sind bei einigen Beteiligten hoch: Schoeps schwärmte im Rundfunk Berlin-Brandenburg bereits von der Region als dem zukünftigen »führenden Zentrum in den jüdischen Studien in Deutschland«, wenn nicht gar von internationalem Rang. Allerdings konnte man sich bisher nicht einmal auf das gemeinsame Vorlesungsverzeichnis einigen.

Derzeit sind über 500 Studierende in Potsdam und Berlin im Studiengang Judaistik oder in den jüdischen Studien eingeschrieben. Während der erste stärker an jüdischen Sprachen und Literaturen ausgerichtet ist, orientieren sich letztere eher an der Kultur- und Religionswissenschaft. Diese säkularen Studienfächer, für die sich ebenfalls der Oberbegriff »jüdische Studien« etabliert hat, sind zumeist auch den philosophischen oder geschichts- und kulturwissenschaftlichen Fakultäten unterstellt. Ihre Studierenden sind überwiegend nichtjüdisch. Ungefähr 20 der Potsdamer Studierenden streben nach dem Abschluss ein religiöses jüdisches Amt an.