Anonymous greift schwedische Netzaktivisten an

Spinner im Netz

Nach einem Angriff auf die Server der schwedischen Netzaktivisten von Tele­comix taucht ist ein Bekennerschreiben von Anonymous aufgetaucht. In der Netz-Community hält man das für glaubwürdig, obwohl sich die Gruppe bereits von der Attacke distanziert hat.

Anonymous sei vollkommen verrückt geworden, denn es greife jetzt Netzaktivisten an – so lauteten viele Kommentare im Netz, als in der vorigen Woche ein auf Pastebin.com veröffentlichtes Dokument auftauchte, in dem sich die Gruppe – angeblich – zum DDoS-Angriff auf die Websites des schwedischen Netzwerks Telecomix bekannte. Die unter dem Titel »Anonymous vs. League of Shadows« auf Englisch verfasste Erklärung liest sich wirr: »Schweden ist das Saudi-Arabien des Feminismus. Ich bin in ein Hornissennest des revolutionären Feminismus gefallen«, wird darin unter anderem der Gründer von Wikileaks, Julian Assange, zitiert. Dann wird die Attacke begründet. Über einen gewissen Zeitraum habe man Informationen über die wichtigsten Mitglieder von Telecomix gesammelt, heißt es, viele von ihnen würden vom Staat Schweden oder von Stiftungen der mächtigen schwedischen Industriellenfamilien Wallenberg bezahlt. »Alle sind sie Feministen (Typ Feminazi), auch die männlichen Mitglieder.« Den Netzaktivisten von Telecomix werden außerdem »politische Korrektheit und softe liberale Ansichten« vorgeworfen. Der Grund: »Hinter der politischen Korrektheit liegt eine Neocon-Agenda, die von Schweden finanziert wird.« Telecomix unterhalte enge Beziehungen zu der in verschwörungstheoretischen Kreisen Bilderberg-Konferenz, heißt es weiter, dies könne nicht akzeptiert werden.

»Die Intensität des Angriffs ist purer Wahnsinn, so wie der Text auch«, kommentiert Stephan Urbach, ein führendes Mitglieder von Telecomix, die Attacke und die Erklärung im Gespräch mit der Jungle World.
Telecomix hatte in der Vergangenheit mit der Bereitstellung von Infrastruktur den ägyptischen Aktivisten während des »Arabischen Frühlings« geholfen, trotz der teilweisen Abschaltung von Mobilfunknetzen und Internet miteinander in Kontakt zu bleiben und Berichte, Fotos und Videos im Web zu verbreiten. »Als Ägypten von Mubarak vom Netz genommen wurde, haben wir auf der ganzen Welt Modemeinwahlserver bereitgestellt, so dass die Ägypterinnen und Ägypter sich über die nicht gesperrten Telefonleitungen ins Internet einwählen konnten«, beschreibt Urbach die Arbeit der Gruppe. Derzeit arbeite man unter anderem »mit Menschen aus Syrien zusammen, um ihnen die technischen Möglichkeiten zu geben, an der Überwachung vorbei Bilder, Videos und Texte aus dem Land heraus ins Internet zu laden«. Obwohl die DDoS-Attacke die Netzaktivisten von Telecomix mundtot machen und einschüchtern soll, hat sich eine Institution, die sich dem Kampf für Transparenz, Menschenrechte und freie Meinungsäußerung verschrieben hat, bislang nicht geäußert. Auf eine Bitte der Jungle World um eine Stellungnahme zu den Angriffen auf Telecomix reagierte Wikileaks bislang nicht. Auch auf Twitter, wo der Account der Whistleblower-Plattform unermüdlich Kommentare zu aktuellen Geschehnissen veröffentlicht, wurde die Attacke mit keinem Wort erwähnt. Ist dieses Schweigen der ansonsten sehr mitteilungsfreudigen Plattform nicht eigentlich überraschend? »Ja, ein wenig schon«, sagt Urbach. »Telecomix und Wikileaks waren in der Vergangenheit immer freundschaftlich verbunden gewesen. Nun ja, die Zeiten ändern sich, Wiki­leaks hat sich verändert und Freundschaften bleiben leider nicht ewig bestehen.«
Als die Erklärung über die Gründe für den Angriff auf Telecomix bekannt wurde, vermuteten viele in der Netz-Community sofort, Anonymous stecke hinter dem Angriff. Dass es vor allem im deutschsprachigen Raum als möglich angesehen wurde, dass die anonymen Aktivisten ausgerechnet die Unterstützer zahlreicher Protestbewegungen attackieren könnten, hat sich die Gruppe selbst zuzuschreiben. Denn in den vergangenen Monaten waren unter ihrem Label immer wieder reaktionäre Erklärungen veröffentlicht worden.
Bereits im Juli war es zu erheblichen Verstimmungen zwischen Teilen der Piratenpartei und einer Anonymous-Gruppe aus dem Ruhrgebiet gekommen. Am 28. Juli sollte in Dortmund eine Demonstration gegen das EU-Projekt Indect stattfinden. Anonymous hatte dazu sowohl die rechts­populistische Partei der Vernunft (PdV) als auch die Piratenpartei als Veranstalter gewonnen. Der Bitte, sich von der PdV zu distanzieren, entsprach Anonymous nicht, in der Facebook-Gruppe betonten viele Mitglieder, man sei unpolitisch und werde niemanden ausschließen und keine Zensur ausüben.
Kurze Zeit später machte eine auf Facebook veröffentlichte angebliche Erklärung von Anonymous die Runde. Darin hieß es, man entziehe der Piratenpartei die Unterstützung. Der Grund: Der politische Geschäftsführer der Partei, Johannes Ponader hatte, um seinen Lebensunterhalt abzusichern, um Crowdfunding gebeten, also um Spenden, die ihm ermöglichen sollten, auf leistungsbezogenes ALG zu verzichten. »Wie kann man jemanden, der erfolgreich das Studium der Pädagogik und der Theaterwissenschaften abgeschlossen hat, aber aus purer Bequemlichkeit nicht gewillt ist, arbeiten zu gehen, als politischen Geschäftsführer (…) mit einer derart lächerlichen Aktion auch noch im Amt halten?«, hieß es in der Erklärung, die sich nicht wesentlich von dem unterschied, was an Stammtischen über angeblich arbeitsunwillige Leistungsbezieher schwadroniert wird. Anonymous distanzierte sich spät von dem Schreiben.

Vor diesem Hintergrund war es dann auch nicht weiter verwunderlich, dass das Bekennerschreiben zum Angriff auf Telecomix zunächst für echt gehalten wurde. Erst nach und nach distanzierten sich einzelne Anonymous-Gruppen von dem Text. Anonymous Hamburg sagte der Jungle World: »Wir distanzieren uns nicht nur, wir verurteilen die Angriffe auf Telecomix.« Telecomix engagiere sich stark »für die Freiheit des Internet und hat schon oft durch couragierte Aktionen gezeigt, dass sie ihren Worten auch Taten folgen lassen. Insbesondere mit der Ausrichtung ›Aktivismus für das Internet‹ verfolgt Telecomix in großen Teilen die gleichen Ziele wie wir.« Gerade während des »Arabischen Frühlings« habe die Gruppe »online deutlich mehr geleistet als andere Aktivistengruppen. Sie anzugreifen, wäre somit ein Verrat an unseren eigenen Zielen.« Diese Aktion und das dazugehörige Pastebin ergäben keinen Sinn, betont die Gruppe weiter und stellt fest: »Vor allem widersprechen wir dem verschwörungsideologischen und strukturell antisemitischen Gedankengut des auf Pastebin veröffentlichten Bekennerschreibens.« Man beteilige sich überdies bereits aktiv an der Aufklärung des Vorfalls.
Einiges am Vorgehen der Gruppe, die Telecomix attackiert, passt in der Tat nicht zu Anonymous. Dass der Autor des Textes weder dazu aufruft, sich an der Attacke auf Telecomix zu beteiligen, noch einen eigenen IRC-Channel angegeben hat, ist beispielsweise sehr verdächtig. Offenkundig ist gar keine Beteiligung an den Angriffen erwünscht, was klar vom üblichen Vorgehen von Anonymous abweicht.
Gerüchteweise wird die Attacke mit einer erstaunlichen Intensität geführt – und das rund um die Uhr. Darüber, wer hinter dem DDoS-Angriff stecken mag, gibt es viele Vermutungen, die meisten gehen davon aus, dass Einzelpersonen oder eine kleine Gruppe weder die Kapazität noch das Geld für einen derart heftigen, langen Angriff haben dürften, und vermuten die Urheber im arabischen Raum. Stephan Urbach will sich an dem großen Rätselraten über die Urheber nicht beteiligen, ihm ist ein anderer Punkt sehr wichtig, nämlich die Notwendigkeit, sich als anonymes Kollektiv von menschenverachtenden Ideologien abzugrenzen.
»Bei Telecomix haben wir gemeinsame Werte und Ideen, die ganz klar sagen, wer bei Telecomix sein kann und wer nicht. Auch wenn wir eine offene, lose Gruppe sind, achten wir sehr darauf, dass die Menschen, die diese Werte nicht teilen, nicht bei uns mitmachen können. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus haben bei uns keinen Platz, um nur ein paar Dinge zu nennen. Genauso hat bei uns niemand Platz, der sich den gängigen Verschwörungstheorien hingibt«, beschreibt Urbach einen großen Unterschied zwischen den beiden Aktivistengruppen. Nach der »Operation Chanology«, mit der Anonymous 2008 gegen die Machenschaften von Scientology vorging und die den Aktivisten viel Aufmerksamkeit bescherte, habe das anonyme Netzwerk es bedauerlicherweise »verpasst, sich ein politisches Profil zu geben, in dem sie sich ganz klar gegen rechts positionieren«, stellt Urbach fest. Die Folgen seien klar: »Nun ist das Label in einem Zustand, in dem sich jeder ›Anonymus‹ nennen kann, solange er oder sie für einen diffusen Freiheitsbegriff kämpft, der aber leider nie genau definiert wurde.« Und er warnt: »Das ist bester Nährboden für rechtes Gedankengut. Natürlich gibt es auch Teile des Kollektivs, die ganz klar sagen, dass Nazis keinen Platz bei ihnen haben – in der öffentlichen Wahrnehmung findet das aber nicht statt.«