Die Reform des Verfassungsschutzes

Eine Behörde mit Reizhusten

Die Reform des Verfassungsschutzes nach dem NSU-Skandal nimmt Formen an. Ein »Strategiepapier« der Innenminister lässt Schlimmes befürchten.

Man stelle sich vor: Ein notorischer Alkoholiker, der sich im Suff schon manche Delle ins Auto gefahren hat, wird mit etlichen Promille im Blut in einen Unfall mit mehreren Toten verwickelt, begeht Fahrerflucht und wird einige Tage darauf gefasst. Da das Gericht später die Schuldfrage nicht mehr eindeutig klären kann, landet er jedoch nicht im Gefängnis. Und anstatt ihm den Lappen abzunehmen, befindet die Richterin, dass ihm eigentlich sogar ein LKW-Führerschein zustehe.
Selbstverständlich ist dieser Fall frei erfunden. Allerdings bestehen Ähnlichkeiten zu den Karrieren von Bankmanagern, die nach dem Crash ihres Instituts einfach in »Expertenregierungen« maroder Staaten mitarbeiten dürfen. Und in Zeiten, in denen sich auch Behörden als selbsterklärte »Dienstleister« an den Gepflogenheiten der Wirtschaft orientieren, schwebt den Innenministern der Länder und auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) bei der Reform des Verfassungsschutzes offenbar Ähnliches vor. Zwar bestände nach allem, was nach der Aufdeckung der Zwickauer Terrorzelle bislang bereits über die Zustände in den verschiedenen Abteilungen des Inlandsgeheimdienstes aus den Untersuchungsausschüssen an die Öffentlichkeit gelangt ist – mit Fortsetzungen ist zu rechnen –, der naheliegende Schluss darin, die Behörde mit der Sehbehinderung auf dem rechten Auge schlichtweg abzuschaffen oder doch wenigstens ihre Befugnisse auf ein absolutes Minimum zurückzustutzen. Aber Innenpolitiker ticken nun mal anders.

Als erster meldete sich in der vergangenen Woche Bundesinnenminister Friedrich zu Wort: Kurz vor einem Treffen mit seinen Kollegen aus den Bundesländern legte der CSU-Politiker seinen Wunschzettel zur Reform der Behörde vor, auf dem zuvorderst die Stärkung des Bundesamts für Verfassungsschutz angeführt wird. Dem Bundesamt solle die Beobachtung »gewaltbereiter Gruppierungen« obliegen, während sich die Landesämter in erster Linie um legale Organisationen kümmern sollten.
Dieser Vorschlag kam bei den Innenministern der Länder erwartungsgemäß nicht besonders gut an. Denn wer lässt sich schon gerne Befugnisse wegnehmen? Während des gemeinsamen Arbeitsessens mit Friedrich sei es daher »hoch hergegangen«, vermeldete der Spiegel, und am Ende zog der Minister die von ihm angestrebte Gesetzesänderung wieder zurück. »Der Geheimdienst bekommt vorerst keine zusätzliche Macht«, jubilierte die Süddeutsche Zeitung.
Wer Verschwörungstheorien mag, könnte argwöhnen, das Kompetenzgerangel sei eigens inszeniert worden, um die Öffentlichkeit zu diesem Fehlschluss zu verleiten. Es ist schließlich allemal einfacher, über ein bisschen Zank zu berichten, als tatsächlich einen Blick in das »Strategiepapier zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes« zu werfen, das von den Innenministern letztlich beschlossen wurde. Eine vergnügungssteuerpflichtige Lektüre ist das »Strategiepapier« wirklich nicht.
Wer zum inhaltlichen Kern des Papiers vordringen will, muss sich zunächst durch ein Geschwurbel kämpfen, das sich liest, als sei es von einem frisch dem BWL-Studium entsprungenen Praktikanten auf gestrecktem Koks verfasst worden. »Der Verfassungsschutz muss fähig sein, sich in einer globalisierten Welt schnell auf politische, gesellschaftliche und technologische Veränderungen einstellen zu können«, heißt es dort etwa blumig – ein Blähsatz, der per Copy & Paste aus der Firmenmitteilung irgendeines Katzenfutterherstellers oder Klosteinproduzenten in das »Strategiepapier« gelangt sein könnte.

Und was bitte soll man sich hierunter vorstellen: »Der Aspekt des offenen Demokratieschutzes in einer offenen Demokratie muss noch mehr in den Vordergrund der Arbeit der Verfassungsschutzbehörden treten«? Da staunt der Fachmann, und der Laie wundert sich, wie im Gegensatz zur »offenen Demokratie« eine geschlossene aussehen mag. Der Satz strapaziert die Phantasie beinahe ebenso sehr wie die Frage, wie sich wohl die Geheimdienstarbeit im Zeichen von »Transparenz und Offenheit« gestalten könnte. Gemessen daran klingt es geradezu substantiell, dass der Verfassungsschutz ein »demokratisches Selbstverständnis leben« soll. Das legt zum einen nahe, dass dies bisher nicht der Fall war. Zum anderen wünscht man sich doch, das möge nicht zu buchstäblich gemeint sein: Was dabei herauskäme, wenn künftig die Wähler zu entscheiden hätten, welche ungewaschenen Ex­tremisten die Gesinnungswächter besonders im Auge behalten sollen, möchte man sich lieber gar nicht ausmalen. Die Nazis wären es wohl nicht.
Wer die Styroporkügelchen aus der Verpackung entfernt hat, kommt tatsächlich irgendwann zum eigentlichen Inhalt des »Strategiepapiers«, der, wie man das auch von Amazon-Päckchen mit Elektronikzubehör kennt, nur einen Bruchteil des Volumens ausmacht. Die Innenminister folgen dabei offenbar dem Prinzip, das jeder Raucher kennt: Das wirkungsvollste Mittel gegen den chronischen Reizhusten ist die nächste Zigarette. Und das beste Rezept, den Verfassungsschutzskandal zu bewältigen, lautet für die Minister anscheinend: auf skandalöse Art weitermachen.
So heißt es etwa, wenn es um die Zusammenarbeit mit der Polizei geht: »Wir sehen das Trennungsgebot als unverzichtbar an.« Das ist löblich. Doch mit zwingender Logik folgt: »Die Innenminister und -senatoren der Länder wollen die Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Polizei weiter intensivieren und stärker institutionalisieren.« Auch das Datensammeln geht den Ministern noch nicht weit genug, weshalb sie fordern, die Recherchemöglichkeiten im »Nachrichtendienstlichen Informationssystem«, einer umfangreichen geheimdienstlichen Sammlung von Personendaten, auszuweiten und die Speicherfrist für personenbezogene Daten auf 15 Jahre zu verlängern. Und wie war das noch mit dem Triumph der Länder über den Bundesinnenminister im Streit um die Macht des Bundesamts, den die Süddeutsche Zeitung bejubelte? »Die Innenminister und -senatoren der Länder setzen sich für die Stärkung der im Grundgesetz verankerten Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz ein«, heißt es im »Strategiepapier«. Sie wollen bloß keine Kompetenzen abgeben. Und auch zum Thema V-Leute gibt es Ideen, nämlich die »Vereinheitlichung und Optimierung der Regelungen und für den Einsatz und die Führung von V-Leuten«. An der gewohnten Handhabe, sich zwielichtiger Quellen zu bedienen, dürfte sich also nichts ändern, im Kleingedruckten wird lediglich gefordert, ihnen doch ein wenig genauer auf die Finger zu gucken.

Aber man sollte vielleicht nicht nörgeln, zeigt doch ein kürzlich bekannt gewordener Fall aus Thüringen, wie nützlich V-Männer sein können: Da brauchte es doch tatsächlich Mitglieder des faschistischen »Thüringer Heimatschutzes«, die auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes standen, um das Amt darüber zu informieren, dass im Jahr 1999 mindestens ein Polizeibeamter aus Saalfeld Informationen an die Kameraden weitergegeben habe. Der Beamte wechselte bald darauf übrigens zum Verfassungsschutz.
Womit dann vielleicht auch die Frage geklärt wäre, was mit dem im »Strategiepapier« gepriesenen »Dialog zwischen dem Verfassungsschutz und den Bürgern« gemeint ist. Das hätte man sonst glatt unter den übrigen rhetorischen Flatulenzen verbucht.