Was wollen die Jihadisten in Nordmali?

Gewehre gegen Gebete

Der Jihad der Islamisten in Nordmali ist ein Kampf gegen den Glauben der Mehrheit. Die Bevölkerung soll eingeschüchtert werden, die Jihadisten wollen sich ein weiteres Operationsgebiet für ihre globalen Aktivitäten sichern.

Der Prophet Mohammed – wenn wir der islamischen Sichtweise folgen wollen, sogar Gott selbst – war unzufrieden mit dem Glaubenseifer der Nomaden. »Die Beduinen sind mehr dem Unglauben und der Heuchelei ergeben und eher geneigt, die Gebote, die Gott seinem Gesandten offenbart hat, zu übersehen«, wird im Koran beklagt. Tatsächlich können sich Nomaden schon deshalb selten für einen Gottesstaat begeistern, weil sie vom Staat an sich wenig halten. Ihre Stammesgesellschaften sind aristokratisch, akzeptieren jedoch nur ungern eine Zentralgewalt, die sie besteuert und ihnen Vorschriften für das alltägliche Leben macht.
Doch ein islamistischer Staat scheint nun im traditionell vom Nomadentum geprägten Nordmali zu entstehen, wo die Nationalbewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) Anfang April einen unabhängigen Staat ausgerufen hat. Die Tuareg-Guerilleros der MNLA wurden mittlerweile von den Jihadisten aus allen bedeutenden Städten der Region vertrieben. Dort herrschen nun Ansar Dine und andere Gruppen im Stil der Taliban. Es wird gesteinigt, ausgepeitscht und amputiert, außerdem zerstörten die Jihadisten in Timbuktu auch islamische Mausoleen, die sie zu Stätten der »Götzenverehrung« erklärten.
Der Abbruch der Mausoleen wurde oft mit der Zerstörung zweier Buddha-Statuen durch die Taliban verglichen (Jungle World 11/01). Doch während die Taliban den steinernen Beweis dafür, dass Afghanistan einst überwiegend buddhistisch war, nicht ertragen konnten, waren die Mausoleen keine Relikte einer längst vergangenen Epoche, sondern eifrig besuchte Versammlungs- und Gebetsorte. Überdies erinnerten sie an die große Vergangenheit Timbuktus, das im Spätmittelalter eine bedeutende Metropole des Handels und der Gelehrsamkeit war. Die Jihadisten Nordmalis wollen, und darin ähneln sie den Taliban, die Geschichte auslöschen, um Platz für ihre Version einer islamischen Gesellschaft zu schaffen. Das ist nicht nur banausisch und barbarisch, sondern auch riskant und ein auch für rechtsextreme Bewegungen ungewöhnliches Vorgehen.
Rechtsextremisten im Westen präsentieren sich meist als Vollstrecker des »wahren Volkswillens« und beziehen sich auf weitverbreitete Ressentiments. Islamisten lehnen die Volkssouveränität ab, da sie sich als Vorkämpfer einer ein für alle Mal von Gott festgelegten Ordnung verstehen, arbeiten aber in ähnlicher Weise. Auch sie greifen weitverbreitete Ressentiments auf – oft die gleichen wie ihre westlichen Kollegen, etwa Antisemitismus und den Abscheu vor der Emanzipation –, um sich als Repräsentanten des gemeinsamen Glaubens zu präsentieren.
Nun aber häufen sich in Nordafrika Angriffe salafistischer und jihadistischer Gruppen auf die Gebetsorte islamischer Bruderschaften. Sich gerade jetzt, in einer Zeit revolutionärer Umbrüche, die sich auch auf islamische Staaten südlich der Sahara auswirken, gezielt gegen den Glauben der Mehrheit zu wenden, ist jedoch offenbar eine strategische Entscheidung. Die Golfmonarchien bemühen sich um eine Konfessionalisierung der arabischen Revolten, eine Politik, die sich auch gegen missliebige Interpretationen des sunnitischen Islam richtet. In diesem Rahmen könnte es sich um eine vom saudischen Königshaus, dem wichtigsten Unterstützer und Geldgeber des Salafismus, initiierte Kampage handeln, die den Demokratisierungsprozess aufhalten soll, und sei es um den Preis eines allgemeinen Religionkriegs.

Die nun attackierten Bruderschaften sind die mit Abstand stärksten islamischen Organisationen, in den meisten westafrikanischen Staaten gehören ihnen 80 bis 90 Prozent der Muslime an. Der »Volksislam« dieser Bruderschaften sollte nicht romantisiert werden. Nur in Ausnahmefällen sprechen wir von ekstatisch tanzenden Derwischen oder weltentrückten Mystikern. Organisationsformen und Lehren unterscheiden sich, doch sind die Geistlichen, nicht selten wohlhabende Geschäftsleute, konservative Stützen der herrschenden Ordnung. Das Patriarchat und die Homophobie sind Selbstverständlichkeiten, oft wird auch die Geltung der Sharia im Familienrecht befürwortet. Freudloser Puritanismus und jihadistischer Furor aber finden wenig Anklang bei ihren Anhängern, am wenigsten in Westafrika, wo die meisten Muslime eher eine dem Alltagskatholizismus vergleichbare Haltung zeigen: Da Barmherzigkeit die wichtigste Eigenschaft Gottes ist, wird er niemanden wegen ein paar Bierchen ins Höllenfeuer werfen.
Es gab allerdings eine Phase in der Geschichte Westafrikas, in der islamisch-fundamentalistische Bewegungen eine wichtige Rolle spielten. Als Reaktion auf die vom Sklavenhandel verursachte gesellschaftliche Zerrüttung entstanden im 18. und 19. Jahrhundert Jihad-Bewegungen. Doch ist dies kein Anknüpfungspunkt für den modernen Jihadismus. Er bezieht sich vielmehr auf den Wahhabismus, die saudische Staatsdoktrin, die ebenfalls aus einer vorkolonialen fundamentalistischen Bewegung hervorging. Dass ausgerechnet die extremste dieser Bewegungen sich mit Saudi-Arabien einen Staat verschaffen konnte, dessen Ölreichtum den Ideologieexport ermöglicht, hat nun erhebliche Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen islamischen Organisationen. Die Jihadisten in Nordmali kopieren das Vorgehen der Wahhabiten, zu deren ersten Maßnahmen Anfang des 19. Jahrhunderts die Zerstörung von Mausoleen gehörte.
Ungewollt könnte der salafistische Konfrontationskurs langfristig in vielen Ländern der Demokratisierung dienlich sein, denn er vertieft die Spaltung zwischen Reaktionären und Islamisten. Reaktionären Muslimen ist vieles an der Demokratie suspekt. Sie wollen den Präsidenten wählen, dass ihre Töchter ihre Ehepartner selbst wählen, wollen sie hingegen nicht. Werden ihre Gebetsorte von Fanatikern angegriffen, die sich als Vertreter des einzig wahren Glaubens präsentieren, dürfte dies viele dazu motivieren, die Demokratie dem »Gottesstaat« vorzuziehen. Das kann dazu beitragen, die großen islamistischen Organisationen in parlamentarische Systeme zu integrieren, in denen freilich noch lange um individuelle Freiheit und gesellschaftliche Emanzipation gekämpft werden müsste.
Die Voraussetzung dafür ist allerdings ein Mindestmaß an Stabilität staatlicher Institutionen. Denn wo die Feuerkraft einen Streit entscheidet, kann sich auch eine Minderheit durchsetzen. Es ist daher kein Zufall, dass Salafisten und Jihadisten insbesondere in failed states und peripheren Gebieten mit schwacher staatlicher Kontrolle wie der Sinai-Halbinsel erfolgreich sind. Sie bemühen sich um Destabilisierung, doch auf sich allein gestellt können sie einen Staat oder ein peripheres Gebiet nicht entinstitutionalisieren. In der Regel bereiten ihnen Misswirtschaft und Unterdrückung unter autokratischer Herrschaft den Boden, häufig genießen sie die taktische Unterstützung einer Fraktion der Oligarchie. Günstige Bedingungen finden sie auch vor, wenn eine Institutionalisierung noch gar nicht stattgefunden hat und der Staat nur in Gestalt von Militärpatrouillen in Erscheinung tritt.

In Nordmali profitierten die Jihadisten vom militaristischen Abenteurertum der MNLA. Verstärkt durch ehemalige Söldner, die nach dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi zurückkehrten und große Mengen an Waffen mitbrachten, drängten die Tuareg-Guerilleros die Armee zurück. Auch die Jihadisten beteiligten sich an der Offensive. Für einige Wochen gab es in den großen Städten eine Doppelherrschaft, man verhandelte über einen gemeinsamen »islamischen Staat«, schließlich aber wurde die MNLA vertrieben. Sie betont nun, ihr Staat solle »ein Rechtsstaat mit strikter Trennung von Religion und Staat« sein, und distanziert sich von den »narko-islamisch-terroristischen Gruppen«.
Dies ist insofern glaubhaft, als die international isolierte MNLA nur mit einer solchen Distanzierung eine Chance hat, bei politischen Verhandlungen berücksichtigt zu werden. Vor allem aber muss sie auf ihr eigenes Versagen reagieren, wenn sie ihre politische Basis nicht verlieren will. Auch überzeugte Anhänger eines unabhängigen Azawad dürften erbost darüber sein, dass die strategische Kurzsichtigkeit der MNLA ihnen eine jihadistische Terrorherrschaft eingebrockt hat.
Auch die Position der Jihadisten ist unsicher. Die Gegenwehr war zwar bislang nur sporadisch, doch über ihre Popularität dürften sich die neuen Herrscher bei allem Fanatismus keine Illusionen machen. Die Zerstörung der Mausoleen war daher auch, vielleicht sogar vor allem, eine Maßnahme zur Einschüchterung der Bevölkerung. Man kann an den Behauptungen der MNLA, in der Region weiterhin militärisch präsent zu sein, zweifeln, doch dürfte es den Jihadisten schwerfallen, wirkliche Kontrolle über ein unwegsames Gebiet von der Größe Frankreichs zu gewinnen.
Über die soziale Basis der Jihadisten ist noch wenig bekannt. Auch in Nordmali dürfte der Islamismus eine konformistische Rebellion der jungen Männer gegen die Väter sein. Die traditionellen Stammesstrukturen sind weitgehend zerfallen, vermutlich schließen sich der Bewegung eher Arbeitslose aus den Städten als Bauern aus dem Nigerbogen und Nomaden an. Profitinteressen scheinen eine größere Rolle zu spielen als in anderen Regionen, gekämpft wird auch um die Kontrolle über die Schmuggelrouten. Doch Geschäftssinn und religiöser Fanatismus schließen einander nicht aus, die Bewegung muss auch ideologisch ernst genommen werden.
Wie in Afghanistan und Somalia kooperiert eine regionale Organisation, Ansar Dine, mit al-Qaida angeschlossenen Gruppen. Das Ziel ist offenbar die Schaffung eines jihadistischen Korridors zwischen Mauretanien und Nigeria, der auch als Operationsgebiet für den globalen Jihad dienen soll. Die Anwesenheit von Kämpfern der nordnigerianischen Gruppe Boko Haram ist belegt, doch erhalten die Jihadisten offenbar auch Verstärkung aus anderen Staaten der Region. Spätestens nach den ersten von Nordmali aus organisierten Anschlägen wird es zu einer Militärintervention kommen.

Eine Anzeige wegen der Verletzung religiöser Gefühle, obwohl sie in Nordmali ausnahmsweise angemessen wäre, dürfte die Jihadisten nicht beeindrucken. Ohne Gewaltanwendung werden sie sich nicht vertreiben lassen. Derzeit spricht jedoch alles dafür, dass eine Intervention ebenso desaströse Folgen haben wird wie die Einsätze in Afghanistan und Somalia.
Die militärisch schlecht ausgerüsteten und überschuldeten westafrikanischen Staaten können sich nur eine Interventionstruppe leisten, die vermutlich zu schwach sein wird, um eine militärische Entscheidung zu erzwingen. Überdies ist es bestenfalls naiv zu glauben, regionale Interventionsmächte seien weniger interessengeleitet als westliche Staaten. Während die meisten Politiker im Westen – Frankreich stellt hier eine Ausnahme dar – vor kurzem noch Probleme gehabt hätten, Mali auf der Landkarte zu finden, und sich damit zufrieden geben, im Rahmen der »Entwicklungshilfe« Aufträge für die heimische Industrie einzuwerben, haben nigerianische Oligarchen und andere einflussreiche regionale Akteure konkretere und weiter reichende Interessen.
Die meisten Menschen in Nordmali würden wohl gern dabei helfen, die Jihadisten in die Wüste zu schicken. Die Vertreibung der Jihadisten als Befreiungskampf zu organisieren, würde allerdings erfordern, sich den Problemen der Region zu widmen. Nicht durch die Anerkennung Azawads als unabhängigen Staat, der vermutlich von der Mehrheit der Bevölkerung in Nordmali gar nicht gewünscht wird, sondern durch Autonomie und Maßnahmen gegen die Diskriminierung der Tuareg im gesamten Land.
Dass in der derzeitigen Hungerkrise durch den jihadistischen Terror die Hilfe erschwert wird, ist ein besonderes Unglück für die Region. Doch auch in »normalen« Zeiten reicht die Nahrung für viele nicht aus, und die Dürreperioden folgen immer schneller aufeinander. Auch deshalb ist der Narko-Jihadismus so bedeutend geworden, und ohne eine Diversifizierung der Wirtschaft, die den Menschen ermöglicht, ihren Lebensunterhalt ohne Kalaschnikow zu verdienen, wird es nicht gelingen, die Region zu stabilisieren.
Davon aber ist nicht die Rede, vielmehr droht Mali eine reaktionäre Offensive. Die Regierungsbeteiligung von Geistlichen und die Schaffung eines Religionsministeriums zeigen, dass auch andere Kräfte in Mali der Gesellschaft die »Islamisierung«, wenngleich in weniger rabiater Form als im Norden, aufzwingen wollen. Auch hier dürften die Golfmonarchien eine Rolle spielen, und einmal mehr dürfte der Westen diese reaktionäre Politik unterstützen.