Über den Roman »High Life« von Matthew Stokoe

Im Sumpf der Stadt

Matthew Stokoes Roman »High Life« ist ein Splatter-Noir-Krimi, in dem Los Angeles wie eine Müllkippe erscheint.

Noir goes Mainstream. Das lässt sich nun schon eine Weile beobachten. Erst wanderten die verstörenden Bilder von Jim Thompson, David Goodis & Co. in den Underground, wo sich William S. Burroughs und Hubert Selby bedienten, dann kamen ehrgeizige Designer wie Brett Easton Ellis und Chuck Palahniuk und machten daraus goutierbaren Horror für die verklemmte Kulturschickeria. Der völlig überschätzte Krakeeler Dennis Cooper hat diese Nische erkannt und gibt im Kleinverlag Akashic Books gleich eine ganze Reihe unter dem dämlichen Titel »Little House on the Bowery« heraus. Das ist so erschreckend wie Mi­chael Landon mit der Maske von Leatherface. Und so subversiv wie ein Konzert der Rolling Stones, wenn es Martin Scorsese abfilmt.
Einen ähnlichen Entwurf wie Noir-Mainstream ersann bereits die Splatter-Punk-Bewegung vor über 20 Jahren mit Autoren wie Clive Barker oder David J. Schow. All diesen Autoren ist zu eigen, dass sie den amerikanischen Traum als bösartiges Krebsgeschwür definieren und der Gesellschaftsvertrag weitgehend – wenn nicht ganz – aufgekündigt ist. Der klassische Noir-Held ist gefangen in einer Welt, die er nicht gemacht und so nie gewollt hat. Die Helden dieser Designer-Noir-Romane akzeptieren die Normen einer heruntergekommenen Lemming­gesellschaft, die Humanismus und Aufklärung aufgegeben hat und nur noch egoistische Vorteilsnahme als Wert ausgibt. Sie leben nur noch im Konkurrenzkampf, der die Seele längst zerfressen hat.
Matthew Stokoes bereits 2002 erstveröffentlichter Roman »High Life« ist ein neuer Höhepunkt dieser literarischen Richtung. Und wie die bereits genannten Ellis, Cooper und Palahniuk kann er schreiben. Er packt den Leser und saugt ihn hinein in seine literarische Müllkippe, die auch Jean Genet einigen Dung verdankt. »High Life« ist Stokoes zweiter Roman und der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Erschienen bei Arche und gut übersetzt von Joachim Körber, der auch Splatter-Punk-Anthologien herausgegeben hat.
Der Autor wurde 1965 in England geboren und studierte an der University of East London. Er lebte in Australien, Kalifornien und Neuseeland und hat neben einem Comic bisher drei Romane veröffentlicht. Sein Romandebüt »Cows« über randalierende und sprechende Kühe ist eine Art Underground-Kultbuch und sein erster Versuch, Richard von Krafft-Ebings »Psychopathia sexualis« auf den neuesten Stand zu bringen. Er nennt als Einflüsse auf sein Schreiben Raymond Chandler, Hubert Selby Jr. und Nelson Algren.
»High Life« hätte Stokoes Durchbruch werden sollen. In seinem Nachwort beklagt Heraus­geber Dennis Cooper deshalb: »Dass ›High Life‹ nicht in einem Atemzug mit klassischen, anstößigen Gesellschaftssatiren wie ›American Psycho‹ oder ›Fight Club‹ genannt wird, ist und bleibt ein Rätsel und eine Ungerechtigkeit.« Ob sich die genannten Romane als Klassiker behaupten werden, muss sich allerdings auch erst noch herausstellen. Als Satire empfand ich sie ebenso wenig wie »High Life«. Mit Sicherheit ist Stokoes Buch aber ebenfalls ein verstörender, schmutziger Großstadtroman.
Der Ich-Erzähler Jack ist nach L.A. gezogen, weil er in die Verdrängungsindustrie will. »Was ich wollte, sah ich im Fernsehen, und ich wusste, ich konnte es nicht haben. Alles andere war mir gleichgültig.«
Jack definiert den Sinn des Lebens durch die Berichterstattung über Stars und Buchhalter der Medienindustrie. Eine Art intellektueller Gegenentwurf zu all den armen Trotteln, die sich im Fernsehen durch die Castingshow-Fleischwölfe drehen lassen. »Ich war besser als sie, ich wusste mehr als sie, und ich sah gut aus. Aber sie waren diejenigen mit einem Leben.« Er ist ein Produkt unserer von den Medien besessenen Zeit, in der lediglich medial verbreitete Menschen einen Wert haben. Bekanntheit und Ruhm als Preis für Seelenlosigkeit.
Ein mieser Job und die in Drogen verliebte Nutte Karen garantieren ihm das Überleben in dieser Stadt, die selten ekeliger beschrieben wurde. Ein Leben, das im Konjunktiv zu zerschmettern droht.
Irgendwann verlässt Karen den selbstverliebten Möchtegernstar und wird einige Zeit später als Leiche aufgefunden. Jack erregt den Verdacht eines Bullen, der zu Karens Freiern gehörte und nun seine perversen Spiele mit ihm treibt. Ryan, der Cop, gehört sicherlich zu den ekelhaftesten Cops der Literatur. Höchstens vergleichbar mit dem Protagonisten aus Irvin Welshs weitaus gelungenerem Cop-Roman »Drecksau«.
Aber auch für Jack erfüllt sich der große amerikanische Traum: vom Donut-Teigkneter zum Stricher.
»Ich sah mit an, wie die Freier für eine halbe Stunde ihr behütetes Leben verließen und in diese Welt der Fleischbeschau eintauchten.« Jacks dunkle Drogeneuphorie erleuchtet seine erbärmliche Existenz bei seiner Suche nach einem Platz in dieser Stadt. Er treibt sich herum, hängt seinen Plänen nach und widmet sich allen Perversionen, die L.A. zu bieten hat.
Der eigentliche Star des Romans ist die große Müllkippe, die mal Los Angeles war. Ein Ort, für den ein Atombombenabwurf zivilisatorischer Fortschritt bedeuten würde. Hier kann man sich schon mal angucken, wie die westliche Welt aussieht, wenn die Banken mit ihr durch sind. »Geld ist Bestandteil der Architektur der Stadt.« Im Vergleich zu Stokoes L.A. ist das von Charles Bukowski ein idyllisches Örtchen aus der guten, alten Zeit.
Schließlich geht Stokoe auf, dass er ja die Konventionen eines Kriminalromans bedienen will. Also begibt sich Jack, der zwischen Straßenstrich und Escort seinen Platz im Leben gefunden hat (ohne seine Starträume aufzugeben), auf die Suche nach Karens Mörder. Die Spur geht in Richtung Organhandel. Nicht als Privatdetektiv, sondern als sexueller Einzelhändler klopft er an die Türen zur Erkenntnis.
Je tiefer er in den Sumpf eintaucht, umso erfolgreicher kann er seine Träume verwirklichen. Es gilt die alte Weisheit, dass man sich richtig schmutzig machen muss, um im System aufzusteigen. Und als er die Femme Fatale Bella kennenlernt, nimmt seine Recherche richtig Fahrt auf. Mit dem Ferrari durch die Jauchegrube. »Zack. Aus dem Nichts mitten rein ins Zuviel.«
Sonderlich spannend ist der überkandidelte Roman nicht. Es sind die Erzählerstimme und Stokoes manchmal brillant formulierter Blick auf die Endzeitgesellschaft, die Freude am Lesen machen. Man erkennt leicht, wenn der Autor vom wirklich Beobachteten abweicht, um noch ein paar Schaufeln Perversionen draufzulegen. Da fehlt auch die obligatorische Snuff-Szene nicht, die zwar schockiert, aber auch künstlich und kalkuliert rüberkommt. Stokoe türmt – manchmal unglaubwürdig – Abartigkeiten auf Teufel komm raus übereinander, um ordentlich Provokationsmaterial für die Kulturspießer zu liefern. Trotz all der detailliert geschilderten Schreckensszenarien geht sein Grauen nie so tief unter die Haut wie zum Beispiel Jack Ketchums »Evil«. Wie schon bei de Sade, löst die schiere Aneinanderreihung von Perversionen keine Lust aus, sondern Verblüffung, Verwirrung, Bestürzung und Unruhe.
Bei aller Kritik könnte dieser Roman dennoch Bestand haben als genaue Momentaufnahme ­einer Gesellschaft, die dabei ist, in einer gleichgeschalteten virtuellen Realität zu versinken, und ihre Werte nicht mehr aus der physischen und spirituellen Natur destilliert. Alles ist gleich in seiner Bedeutungslosigkeit. »High Life« wirkt wie ein Zombie-Roman mit sprechenden Untoten. Damit setzt sich Stokoe zwischen alle Stühle: Intellektuelle Bluffer werfen ihm Flachheit vor, ohne diese als adäquates Stilelement zu erkennen (das auch noch von großer Eleganz ist). Für die Krimi-Connaisseure, die immer ­alles besser wissen, aber kein Gefühl für Sprache haben, ist er nicht gut genug, da er nicht James Ellroy ist. Bleiben nur die dumpfen Erregungsleser, die sich an seiner Ekel-Pornographie delektieren mögen. Bei allen Schwächen – das Buch bleibt kleben, besudelt einen und kann Narben im Gehirn hinterlassen.

Matthew Stokoe: High Life. Arche-Verlag, Hamburg 2012, 380 Seiten, 19,95 Euro