Migration und Rassismus

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Die rassistische Gewalt in Griechenland nimmt seit Beginn der Krise zu. Sie ist aber kein neues Phänomen und nicht nur eine Folge des Aufstiegs der neofaschistischen Partei Chrysi Avgi.

An den Folgen der ökonomischen und sozialen Krise leiden viele Griechinnen und Griechen. Diejenigen, die nicht zur griechischen Nation gezählt werden, leiden jedoch unter zusätzlichen Belastungen und sind zudem besonderen Gefahren ausgesetzt. Zu den ökonomischen Problemen kommt für Migrantinnen und Migranten, Asylsuchende und Menschen ohne Papiere hinzu, dass sie jeden Tag Angst haben müssen, auf der Straße verhaftet und abgeschoben, angegriffen oder gar ermordet zu werden. Migration gilt der Regierung und fast allen Parteien als Problemthema, insbesondere Flüchtlinge werden für fast alle sozialen Probleme verantwortlich gemacht. Der ehemalige Minister für öffentliche Ordung, Michalis Chrysochoidis von der sozialdemokratischen Partei Pasok, nannte Flüchtlinge ohne Papiere im April vorigen Jahres eine »tickende Zeitbombe für die öffentliche Gesundheit«. Kriminalität und Gewalt werden stets im Zusammenhang mit ihnen genannt, vermeintliche Gewaltverbrechen von Migranten werden zum Vorwand für rassis­tische Pogrome genommen.
Griechische Behörden gingen im April 2012 davon aus, dass in Griechenland eine Million Menschen ohne Papiere leben. Die meisten von ihnen möchten aber gar nicht in Griechenland bleiben, sondern stecken wegen der Abschottungspolitik der EU dort fest. Um sich eine Bild von ihrer desolaten Lage zu machen, muss man in Athen nicht lange suchen. Abends begegnet man in fast allen Parks und Ecken der Stadt schlafenden Menschen, tagsüber sieht man viele, die in Mülltonnen nach recyclingfähigem Material suchen oder als fliegende Händler arbeiten. Nicht alle dieser Menschen sind Flüchtlinge ohne Papiere und nicht alle Flüchtlinge sind obdachlos, auf staatliche Unterstützung können sie aber vor allem in Zeiten der Krise am allerwenigsten hoffen und ihre fehlende rechtliche Absicherung macht sie extrem angreifbar.

Dass rassistische Gewalt in Griechenland seit 2010 mit Beginn der Austeritätsmaßnahmen zugenommen hat, bestätigen fast alle Organisationen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Einer am Dienstag vergangener Woche veröffentlichte Umfrage unter Griechinnen und Griechen ergab, dass inzwischen 22 Prozent der Befragten ihre Stimme der offen neonazistischen Partei Chrysi Avgi geben würden. In nur vier Monaten stieg die Zustimmung zur Politik der Faschisten somit um zehn Prozentpunkte an, sie ist nun fast doppelt so hoch wie im Mai. Stets ist die Rede davon, dass diese Entwicklung auf die Unsicherheit der Menschen in der Krise zurückzuführen sei. Darüber, wie schnell die Faschisten aufsteigen, sind viele überrascht, allein Chrysi Avgi für die Zunahme rassistischer Übergriffe verantwortlich zu machen, greift aber zu kurz.
Die Enttäuschung über die beiden bisherigen Regierungsparteien Nea Dimokratia und Pasok mag das sogenannte Protestwählen gefördert haben. Die Unterstützung einer Partei, von der 80 Prozent der Abgeordneten bereits in rassistische Gewaltverbrechen verwickelt waren und die offen Gewalt gegen Nichtgriechinnen und -griechen propagiert – unter anderem schlug Chrysi Avgi im März dieses Jahres die Verlegung von Anti-Personen-Landminen in der Grenzregion Evros vor – lässt sich aber nicht allein aus Zukunftssorgen erklären. Rassismus ist kein neues Phänomen in der griechischen Gesellschaft, hinzu kommt eine desaströse Migrations- und Asylpolitik auf nationaler und europäischer Ebene.
Die heutige Situation erinnere ihn an diejenige in den neunziger Jahren, als die rassistische Gewalt einen ersten Höhepunkt erreichte, sagt Nikodemus Maina Kinyua. Er kam als Kind mit seinen Eltern aus Kenia nach Griechenland, 1997 gründete er zusammen mit Freunden eine Menschenrechtsorganisation, die sich zunächst mit Problemen des legalen Aufenthalts und der Staatsbürgerschaft in Griechenland beschäftigte und 2008 offiziell als NGO Asante registriert wurde. Die Organisation, in der Migranten und Nichtmigranten zusammenarbeiten, hat ihren Sitz im linken Viertel Exarchia und gibt auch ein Magazin zu afrikanischer Kultur heraus.
Nach dem Zusammenbruch realsozialistischer Regime kamen in den neunziger Jahren viele Albanerinnen und Albaner, aber auch Menschen aus anderen Balkanländern ohne Papiere nach Griechenland. Der Anteil von Migrantinnen und Migranten an der Gesamtbevölkerung verdreifachte sich in dieser Dekade auf 7,3 Prozent. Albanerinnen und Albaner wurden als billige Arbeitskräfte ausgenutzt, stets diskriminiert, als Kriminelle beschimpft und in einigen Gemeinden wurden sogar nächtliche Ausgangssperren gegen sie verhängt. Zwischen 1991 und 1997 gab es mehrere Pogrome, vornehmlich gegen Albanerinnen und Albaner, und einige Migranten wurden ermordet. Die Angriffe wurden aber nie als rassistische Straftaten erfasst, eher galten sie als Akte legitimer Selbstverteidigung, zur Verantwortung gezogen wurde kaum jemand.
Wie heute auch wurde diese Rechtlosigkeit von der griechischen Gesellschaft weitgehend akzeptiert, meint Kinyua. In den vergangenen 30 Jahren habe es keine kontinuierliche rechtliche Linie in der Migrationspolitik gegeben. Die soziale Mobilität von Migrantinnen und Migranten sei gering, vom Arbeitsmarkt seien sie weitgehend ausgeschlossen und selbst Gewerkschaften hätten sie stets ignoriert, ergänzt Andreas Bloom, ebenfalls Mitglied von Asante. Das alles habe zu einer starken gesellschaftlichen Polarisierung und zur heutigen Situation geführt. Sogar Neonazis seien bereits in den neunziger Jahren rund um den berüchtigten Athener Platz Omonia aktiv gewesen.

Die letzten größeren Pogrome gegen Albanerinnen und Albaner gab es 2004 während der Fußball-Europameisterschaft, lange vor der Wirtschaftskrise. Katarina*, Albanerin und Mitglied der aus Migranten und Nichtmigranten bestehenden Antifa-Gruppe Casa del Campo, erinnert sich, dass ihre Mutter ihr damals ein T-Shirt mit einer griechischen Flagge darauf brachte, weil sie Angst um ihre Tochter hatte, doch sie weigerte sich, es anzuziehen. Griechinnen und Griechen werden nie die gleichen Probleme haben wie Migranten, bestätigt Julian*, ebenfalls ein Mitglied der Gruppe, der früher auch in einer albanischen antirassistischen Organisation aktiv war.
Albanerinnen und Albaner sind immer noch die größte Migrantengruppe ohne Papiere, wegen der Krise habe sich in den vergangenen drei, vier Jahren aber einiges geändert, einige gingen sogar zurück, sagt Nassim Lomani von Diktio, einer antirassistischen Organisation, die auch ein soziales Zentrum für Migrantengruppen in Exarchia betreibt. Diktio gibt es bereits seit 25 Jahren, zunächst ging es vor allem um Unterstützung für Albanerinnen und Albaner. Seit Anfang des Jahrtausends kamen viele Flüchtlinge aus Asien und Afrika, die über Griechenland in die EU einreisen wollten, beschreibt Lomani den Wandel. Die Griechinnen und Griechen seien immer noch rassistisch und machten für ihre eigenen Probleme die Flüchtlinge verantwortlich, würden dabei aber immer gewalttätiger. Inzwischen sei Griechenland das schlimmste Land für Flüchtlinge, meint er.
Der europäischen Grenzüberwachungsagentur Frontex zufolge kamen im vorigen Jahr 57 024 Menschen illegal über die östliche Mittelmeerroute nach Griechenland. Das sind 90 Prozent aller illegal in die EU Einreisenden, die meisten kamen aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesh. Wegen der stärkeren Kontrolle der Evros-Region an der Grenze zur Türkei seit Februar dieses Jahres wurden in letzter Zeit gefährlichere Einreiserouten gewählt. Flüchtlinge kommen vermehrt wieder über die »ägäische Pforte«. Kleine Boote landen auf überwiegend unbewohnten Inseln wie Samos, Agathonisi, Simi und Farmakonisi. Letztere, auf der nur einige Dutzend Soldaten stationiert sind, gehört zum Verwaltungsbereich der Insel Leros. Dort gebe es keine Unterbringungsmöglichkeiten und keine Versorgung für die Flüchtlinge, berichtet Spiros Daniil aus Leros. Zusammen mit einigen anderen Freiwilligen versucht er, die Flüchtlinge rechtlich und materi­ell so gut es geht zu unterstützen. Die Flüchtlinge müssten zunächst auf den Felsen der unbewohnten Inseln im Freien campieren und würden nach einigen Tagen von der Polizei in viel zu enge Zellen auf Leros gebracht, dort müssten auch Babys und Kinder auf dem Boden schlafen, erzählt er. Viele ertrinken auf dem Weg, aufgrund des Krieges in Syrien werde aber mit noch mehr Flüchtlingen ­gerechnet. Das schlimmste sei, dass sie auf diesen Inseln keine Möglichkeit hätten, politisches Asyl zu beantragen, meint Daniil.

Falls sie die Einreise überhaupt überleben, erwarten die Flüchtlinge in Griechenland oft nur weitere Gefahren und Probleme. Wer ohne Visum einreist, bekommt eine schriftliche Aufforderung, das Land binnen 30 Tagen »freiwillig« zu verlassen. Wer danach aufgegriffen wird, kommt in einen der berüchtigten Abschiebeknäste. Davor kann manchmal nur ein Asylantrag schützen, Griechenland ist dafür aber eine denkbar schlechte Wahl. In Athen, wo die meisten Flüchtlinge leben, stehen jeden Freitagabend Hunderte Menschen Schlange vor der Ausländerbehörde und warten die ganze Nacht, um ihren Antrag zu stellen. Die Behörde öffnet nur am Samstagmorgen und akzeptiert jedes Mal lediglich 20 Anträge. Die Anerkennungsquote lag 2009 unter 0,4 Prozent und ist die niedrigste in ganz Europa. Von Januar bis Mai dieses Jahres haben 3 552 Menschen Asyl beantragt, 117 wurden anerkannt.
Nach Angaben von Panos Christodoulou vom Greek Council for Refugees (GCR), einer NGO, die Flüchtlinge juristisch und sozial unterstützt, sehen viele Menschen, die den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention genügen, aber ohne Papiere eingereist sind, lieber von einer Antragsstellung ab. Vor dem Büro des GCR, das sich ebenfalls in Exarchia befindet, stehen Frauen mit Kopftüchern und müde Männer, die auf ihren Beratungstermin warten. Sie gehören zu den wenigen Flüchtlingen, die bereits einen Asylantrag gestellt haben. Ein paar Meter weiter schieben einige, die vermutlich keine Papiere haben, ihre mit Altpapier gefüllten Einkaufswagen durch die Straßen.
Griechenland ist als Außengrenze der EU für die meisten Flüchtlinge nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg in ein anderes Land der EU. Mit Inkrafttreten des Dublin-II-Abkommens dürfen Asylsuchende nur noch in einem Land der EU Asyl beantragen. Falls sie dies in Griechenland tun, sitzen sie für die Dauer ihres Asylprozesses, der im Durchschnitt zwei Jahre dauert, fest. Eine Ablehnung und Abschiebung sind sehr wahrscheinlich. Zwar hätten sie durch eine Antragsstellung Anspruch auf staatliche Unterstützung und eine minimale rechtliche Absicherung, ausreichende Unterkünfte und sonstige Versorgung gibt es aber ohnehin nicht. Dies und die miserable ökonomische Gesamtsituation hielten viele daher von einer Antragstellung ab, hinzu komme eine wachsende Angst vor rassistischen Übergriffen, und vielen gelte die Polizei als noch größere Gefahr, sagt Christodoulou.

Die Feindschaft gegenüber unerwünschten Migrantinnen und Migranten und anderen marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen wird von fast allen Parteien und Regierungen geschürt. Erst im August wurden mit der Operation »Xenios Zeus« tagelang großangelegte Razzien gegen Menschen ohne Papiere in Athen und anderen Orten Griechenlands durchgeführt. Migrantisch aussehende Personen wurden kontrolliert, 16 000 wurden vorübergehend festgenommen und 2 000 landeten in Abschiebeknästen. Teilweise wurden sie von Polizisten verprügelt oder unter unzumutbaren Bedingungen festgehalten.
Was von außen kommt, gilt Parteien von links bis rechts als verdächtig. »Nationale Unabhängigkeit« sei sogar einer der Leitsprüche der linken Partei Syriza, gibt Marco* von Casa del Campo zu bedenken. Das sei nicht nur gegen europäische Sparauflagen gerichtet. Da Migration stets als Problem thematisiert wird, können faschistische Banden und rassistische Bürgermobs meist ungestört agieren, wenn sie das vermeintliche Problem bekämpfen. Der Staat helfe den Faschisten durch seine gegen Migrantinnen und Migranten gerichtete Politik und Rhetorik, meint Marco.
Lomani von Diktio vermutet sogar etwas wie einen »tiefen Staat« dahinter, die Regierung benutze paramilitärische Gruppen, um linke Politik zu unterdrücken. Gleichzeitig ist er der Meinung, dass die großen Parteien die Faschisten einfach nicht mehr kontrollieren könnten. Vielleicht lassen sie die Banden auch nur die Drecksarbeit machen, die nach den Razzien noch liegengeblieben ist.
Bei rassistischen Straftaten werden nur selten Täter ermittelt und noch seltener werden sie verurteilt, obwohl die griechische Regierung im Rahmen der EU-Gesetzgebung zu einer intensiveren Verfolgung von hate crimes verpflichtet ist. Die Polizei weigert sich oft, Anzeigen wegen rassistischer Übergriffe aufzunehmen, oder droht Menschen ohne Papiere mit Abschiebung. In einigen Fällen sind die Polizisten, im Dienst oder privat, sogar selbst die Täter. Die Straflosigkeit legitimiere die Angriffe, meint Lomani.

Wie viele hate crimes es genau gibt, ist nicht einmal klar. Gegenüber Human Rights Watch soll der leitende Ermittler in Athen neun in dieser Kategorie untersuchte Fälle für 2011 angegeben haben. Nikitas Kanakis, der Leiter der griechischen Sektion der Hilfsorganisation Medécins du Monde (MdM), die oft Opfer rassistischer Angriffe behandelt, sprach Human Rights Watch gegenüber von 300 behandelten Opfern in der ersten Vorjahreshälfte. Ein Netzwerk verschiedener Menschenrechtsgruppen und sozialer Organisationen, zu dem auch MdM gehört, rief vor ein paar Monaten ein Projekt ins Leben, das diese Verbrechen genauer untersuchen soll. Die Opfer werden anhand spezieller Fragebögen interviewt, erzählt Nancy Retinioti, die Projektleiterin des MdM. Der Studie zufolge hätten Angriffe durch organisierte Gruppen zugenommen, die die gleiche schwarze Kleidung und Helme oder eine andere Art der Vermummung trugen und oft Waffen benutzten. Einige dieser Schlägertrupps dürften Chrysi Avgi nahestehen.
Ein großes Problem sei, dass sich viele Menschen bereits an die Gewalt gegen Migranten gewöhnt hätten und Angriffe durch Mitglieder von Chrysi Avgi toleriert würden, sagt Christodoulou vom GCR. Die Regierung folgt derweil einem Ex­tremismusansatz, der »Gewalt von beiden Seiten« verurteilt und gleichsetzt, um sich selbst als Bewahrerin des Friedens darzustellen. Die neue Regierung möchte sich von den Faschisten nicht das Gewaltmonopol streitig machen lassen, hat es einigen Beobachtern zufolge aber schon längst verloren. Viele sähen Parallelen zu der Entwicklung in der Weimarer Republik, sagt Lomani von Diktio. Linke Bewegungen und Parteien, die derzeit großen Zuspruch haben, täten zu wenig gegen die Faschisten und hätten es in all den Jahren nicht geschafft, gemeinsam mit migrantischen Organisationen gegen Rassismus vorzugehen.
Dazu müssten viele sich zunächst wohl mit ­ihrem eigenen Nationalismus und Rassismus aus­einandersetzen. Die konservative Regierung überlegt derweil, die Bedingungen für die Einbürgerung zu verschärfen, unter anderem soll die Antragsgebühr von 100 auf 900 Euro erhöht werden. Die »griechische Nation« will eben nur unter sich leiden. Alle anderen sollten sich besser von ihr fern halten, doch wird dies von der europäischen Abschottungspolitik fast unmöglich gemacht.

* Name von der Redaktion geändert