Erklärt, wie die Eulen wirklich nach Athen kamen

Die Weisheit der Eulen

Die Eulen wurden niemals nach Athen ­getragen. Sie waren schon immer da, als Symbol für Geld.

»Siehst du dort die Eule?« lautet die Frage des Euelpides und sein Freund Peithetairos antwortet: »Ich bitte, bringt man Eulen nach Athen?«
Der Dialog stammt aus der ersten Szene von Aristophanes’ Komödie »Die Vögel« und ist hier nach der gängigsten Übersetzung von Ludwig Seeger aus dem 19. Jahrhundert wiedergegeben. Die Stelle in Aristophanes’ Orginal gilt als der Ursprung des Spruchs »Eulen nach Athen tragen« und sie ist nicht der einzige Satz aus der Komödie, der sich, losgelöst von seinem Kontext, bis heute gehalten hat.
Wenn man die Komödie zum ersten Mal liest, geht es einem wie mit Goethes »Faust« in der Schule. Vieles – wie »des Pudels Kern« – hat man schon mal gehört, wusste bis dahin nur nicht, dass es von Goethe stammte. Aristophanes hat ähnliche Qualitäten. Er hat aber gegenüber Goethe den Vorteil, dass er in einer Zeit schrieb, in der das Geld noch nicht überall die Selbstverständlichkeit erlangt hatte, die ihm bei Goethe und heute natürlich erst recht eignet.
Das gibt dem Spruch von den Eulen, die nach Athen getragen werden, eine Doppeldeutigkeit, die in der geläufigen Bedeutung untergeht. Steht die Alltagsweisheit in der Regel für eine überflüssige Tat, wie es hundert andere Sprüche in der Nachfolge auch tun, wie etwa »Torf ins Moor tragen« oder »Kohlen nach Newcastle«, so stehen die »Eulen« bei Aristophanes und in der ganzen griechischen Antike auch für Geld.
Eine Eule zierte die Rückseite der Tetradrachme, der Vier-Drachmen-Münze, auf deren Vorderseite die behelmte Göttin der Weisheit, des Kampfes, der Kunst und anderer Dinge, Athene, abgebildet war. Athene war auch die Schutzgöttin und Namensgeberin Athens, sie ist im besten psychoanalytischen Sinn eine vieldeutige Gestalt wie die Eule auch. Es kann aber hilfreich sein, in solchen Fällen sozusagen ganz unten, auf der materiellen Basis anzufangen, also bei dem, was man wirklich sehen kann. Und sehen kann man nicht nur auf der Tetradrachme, sondern auch auf Vasenbildern, dass es sich um eine ganz bestimmte Eule handelt. Es ist der Steinkauz, wissenschaftlich Athene noctua. Eine kleine, kurzschwänzige Eule, mit niedriger Stirn und flachem Oberkopf. Die dämmerungs- und nachtaktive Eule jagt nach Mäusen, kleinen Vögeln und Reptilien. Sie mag keine Wälder, schätzt offene Flächen und Höhlen, in denen sie den Tag verbringen kann – Gegebenheiten, die die Eulen um den Parthenon-Tempel der Göttin Athene auf der Akropolis in Athen vorfanden. Entsprechend zahlreich sollen sie dort gewesen sein. Man wird sie also oft am Tempel in der Dämmerung gesehen haben, wenn sie zu ihren ruhigen Beuteflügen ansetzen. Eine der vielen Hypothesen über die Entstehung der Verbindung zwischen Athene und den Steinkäuzen sieht die Ursache denn auch in der schlichten Anwesenheit der Eule um den Tempel der Göttin. Zuerst sah man sie nur beide zusammen: die Göttin im Tempel verborgen und die Eulen im Flug um die Akropolis. Mit der Zeit verschmolzen sie miteinander und wurden synonym. Auf der Vier-Drachmen-Münze fanden sie endgültig zusammen. Eine Verbindung, die allerdings auch gut vorbereitet war. Im alten Griechenland waren Eulen allgemein zu einem totemistischen Zeichen geworden. Es gab einen tiefen Glauben, dass die Vögel Glück brächten. Wer vor einem Ereignis wie einer Schlacht oder auch nur einer Alltäglichkeit wie einem abzuschließenden Handel eine Eule gesehen hatte, ging mit den besten Vorzeichen in die Schlacht oder den Tag.

Ein Glaube, der sich dann auf die Münzen mit der Eule übertrug und in manchen Fällen lange anhielt. Der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt trug Zeit seines Lebens eine griechische Münze mit Eule als Glückbringer bei sich. Aristophanes meint über die Eule als Geld, dass sie das beste Ding überhaupt sei: Sie verlässt dich nie, zieht in dein Haus ein, brütet in deiner Tasche und vermehrt sich ohne große Änderungen, heißt es in »Die Vögel«. Die Eule auf dem Geld oder das Geld mit der Eule brachte aber nicht jedem das Glück, dass die Vögel, bevor sie auf der Münze landeten, bedeutet hatten. Auch davon handeln »Die Vögel«. Peithetairos und Euelpides sind klassische Auswanderer, Exilanten, die auch vor den Veränderungen fliehen, die das Geld in die griechische Gesellschaft getragen hat. Euelpides ist von beiden der weniger intellektuelle, der schlicht vor seinen Gläubigern die Flucht ergriffen hat, während Peithetairos den Zuständen in Athen ausweichen will. Im reichen Athen hat für ihn die Herrschaft des Geldes das Leben unerträglich werden lassen. Aristophanes’ Komödien handeln fast immer auch von den Verheerungen, die das Auftauchen und die Verbreitung des Geldes in der griechischen Gesellschaft angerichtet haben.

Die griechischen Komödien sind im Fall des Geldes wesentlich konkreter als die als tiefsinnger geltenden Tragödien und deshalb zurzeit aktueller. Wenn man die Stelle mit der Eule nur ein wenig anders übersetzt, was der Orginaltext zulässt, kommt die speziellere Geldbedeutung zum Vorschein. »Wer trägt schon Eulen nach Athen?« bringt dann Peithetairos’ Abscheu vor den Münzen zum Ausdruck. Wer Geld nach Athen trägt, trägt nur Geld zu Geld, und was dabei herauskommt, ist nur: mehr Geld. Peithetairos will aber eine andere Gesellschaft, und deshalb zieht es ihn zu den Vögeln, mit denen er eine neue gründen will. Das tun sie dann nach anfänglichen Schwierigkeiten auch, und diese neue Gesellschaft nennen sie »Wolkenkuckucksheim«. Ein Name, der sich genauso wie der Spruch mit den Eulen verselbständigt hat. Seine schönste Neubearbeitung fand das Wolkenkuckucksheim in Karl Kraus’ gleichnamigem Stück, und es spricht für die Sprachkraft Aristophanes’, dass Kraus in seiner Version den Chor der Vögel aus dem Original beibehalten hat. Der Chor, von allen möglichen Vögeln vom Wiedehopf bis zum Schwan besetzt, hat ein unverkrampftes Verhältnis zur Gewalt und »züchtigt die Sünder« gern oder »reißt sie in Stücke«.
Und der Sünder kommen viele in die neugegründete Stadt. Da tritt ein Gesetzesverkäufer auf, ein Wahrsager, ein Poet und ein Stadtverwaltungsbeamter. Alle bieten sie ihre Dienste an und wollen dafür natürlich bezahlt werden. Und der erfrischendste Teil des Stückes ist dabei jener, in dem beschrieben wird, wie mit diesen geldgierigen Beamten und Verwaltern der athenischen Polis verfahren wird. Einer nach dem anderen wird, mit Ausnahme des Poeten, verprügelt und vertrieben. Es macht einfach Spaß, davon zu lesen, wie der attische Stadtverordnete verdroschen wird, nachdem er Geld dafür gefordert hatte, keine üblen Nachrichten über Wolkenkuckucksheim in die Welt zu setzen. In Wolkenkuckucksheim, so kann man das Stück zusammenfassen, lassen die Vögel die wirkliche Eule über das Symboltier auf dem Geld siegen. Athen geht im Stück unter und die Vögel triumphieren.

Dass die Geschichte außerhalb der Komödie anders verlaufen ist, kann man heute auch an den Steinkäuzen in der Stadt verfolgen. Sie sind äußerst selten geworden, so selten, dass ein befreundeter Ornithologe das Weiterleben der kleinen Eulen in Athen weder bestätigen noch verneinen wollte. Man könne das schlicht nicht mit Sicherheit sagen, meinte der Freund. Dafür hat die Eule bis zur Einführung des Euro auf giechischen Banknoten und Briefmarken überlebt. Auf dem griechischen Ein-Euro-Stück soll noch ein Rest der alten Athene-Drachme zu sehen sein.Aber eben nur ein von der Zeit angefressener Rest. Nicht viel besser erging es der Eule und Athene als Weisheitszeichen. In Griechenland gingen sie beide unter, und im siegreichen Rom wurde aus Athene Minerva. Überlebt haben Minerva und die Eule dann in einem der berühmtesten Zitate der Philosophie überhaupt, in Hegels Schlusssätzen in der Vorrede zu seinen Grund­linien der Philosophie des Rechts, in denen es heißt: »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«
Was heißt, dass die Philosophie immer zu spät kommt, dass, wenn die Philosophie ihre Arbeit beginnt, die Welt und das Leben schon wieder ganz woanders sind. Eine Aussicht, die im Unterschied zu Aristophanes’ prügelnden Vögeln tatsächlich nur trübe und depressiv ist. Woraus nichts anderes folgen kann, als dass die Eulen, die man heute nach Athen tragen sollte, zuerst von ihrem Symbolgehalt und den Metaphern getrennt werden müssten, um ihnen wieder jene Kraft des Lebens zu geben, die sie Mäuse fangen ließ und Athene den Ruf einbrachte, eine Kämpferin mit herausragenden strategischen Fähigkeiten zu sein.