Jochen Berking im Gespräch über die Lage der Angestellten in den Jobcentern

»Den Dialog suchen«

Als am Mittwoch voriger Woche die Nachricht die Runde machte, dass in einem Jobcenter im nordrhein-westfälischen Neuss ein »Kunde« eine Arbeitsvermittlerin niedergestochen und dabei tödlich verletzt hatte, war allerorten der Schock groß. Dabei sind gewalttätige Vorfälle in Jobcentern nicht eben eine Seltenheit – nur wird diesen für gewöhnlich genauso wenig Aufmerksamkeit geschenkt wie den Motiven der Täter oder den ökonomischen und politischen Hintergründen solcher Taten. Ein Thema, das bisher allerdings mindestens ebenso stark vernachlässigt wurde, ist die Situation der Angestellten der Jobcenter selbst. Die Jungle World sprach mit Jochen Berking, Bereichsleiter im Fachbereich Sozialversicherung bei der Gewerkschaft Verdi und zuständig für die Angestellten in den Jobcentern.

Was am vergangenen Mittwoch in Neuss geschah ist, ist schrecklich. Dass es aber früher oder später an einem solchen Ort, an dem es für viele um die bloße Existenz, ums nackte Überleben geht, zu einem solchen Vorfall kommen musste, war eigentlich vorherzusehen. Wieso konnte die Tat dennoch nicht verhindert werden?
Gegen kriminelle Machenschaften gibt es letztlich nie eine endgültige Sicherheit. Richtig ist aber, dass die Gesetzgebung nach wie vor unbefriedigend ist – einerseits für die Beschäftigten im Jobcenter, die oft selbst angesichts der aktuellen komplizierten Rechtslage an ihre Grenzen stoßen und so auch nicht adäquat beraten können, andererseits aber natürlich auch für die von den Hartz-Gesetzen Betroffenen, für die sie tagtäglich den Kampf um die nackte Existenz bedeuten.
Um solche Vorfälle in Zukunft möglichst zu verhindern, fordert Verdi jetzt aber vor allem bessere Sicherheitsvorkehrungen. Um was genau geht es dabei?
Es gibt ja ein Sicherheitskonzept, aber wir fordern, dass alle Bestandteile davon auf den Prüfstand gestellt werden. Dabei geht es zum einen um die Raumsituation. In Neuss war es ja so, dass die Betroffene in ihrem Büro quasi gefangen war und keinerlei Fluchtmöglichkeit hatte. Zum anderen denken wir, dass es wichtig ist, alle Mitarbeiter in Jobcentern regelmäßig in Gesprächsführung und Deeskalationsstrategien zu schulen, damit sie auch mit schwierigen Sachverhalten sachgerecht und sozial kompetent umgehen können. Schließlich fordern wir noch, dass bei den bestehenden Sicherheitssystemen wie Notknöpfen oder über die Computertastatur ausgelösten Alarmsystemen überprüft wird, ob sie jeder Situation angemessen sind.
Aber sind das nicht eher Forderungen, die nur bei den Symptomen ansetzen? Wäre die einzig effektive Vorbeugung nicht die Abschaffung von Hartz IV und die Einführung eines Systems, das Menschen und ihre Bedürfnisse tatsächlich ernst nimmt, statt rücksichtslos Kosten zu sparen?
Es ist richtig, dass die Arbeitsmarktgesetze viele Menschen in eine Notlage bringen können. Deshalb sagen wir als Verdi ja auch immer wieder, dass hier dringender Handlungsbedarf auf Seiten des Gesetzgebers besteht. In diesem Moment geht es für uns aber ganz konkret zuallererst darum, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern teilweise um Leib und Leben fürchten.
Viele Arbeitsvermittler sind auch selbst in einer prekären Situation. Ihre Verträge sind oft befristet und der Druck, immer noch mehr Geld einzusparen – sprich Kürzungen auszusprechen –, ist mancherorts enorm. Ist ein solcher Job einem Menschen eigentlich wirklich zuzumuten?
Es stimmt, gegenwärtig sind etwa 7 000 der insgesamt rund 65 000 Jobcenter-Angestellten befristet beschäftigt. Diese Form von Unsicherheit durch ein befristetes Beschäftigungsverhältnis halten wir ganz klar für unzumutbar. Deshalb fordern wir auch schon länger, dass solche Befristungen ganz abgeschafft werden. Und die Belastungen in den Jobcentern sind in der Tat sehr hoch, auch hier ist die Politik gefordert, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die die Arbeitsbelastungen merklich reduzieren.
Etwa die Hälfte der Bevölkerung hat Studien zufolge Vorurteile gegenüber Langzeitarbeitslosen. Ich selbst kann mich erinnern, in der U-Bahn schon mal das Schimpfwort »Hartz-IV-Schwein« gehört zu haben. Wie sollen Jobcenter-Mitarbeiter in einem solchen gesellschaftlichen Klima ihre »Kunden« mit dem Respekt behandeln, der angebracht wäre?
Ich glaube schon, dass die Jobcenter-Mitarbeiter durchaus die fachliche und soziale Kompetenz haben, auch mit den paar etwas schwierigeren »Kunden« umzugehen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass ein großer Teil derer, die zum Jobcenter gehen oder gehen müssen, ja arbeitende Menschen sind, die Niedriglöhne erhalten und nur über die Grundsicherung überhaupt leben können. Der Anteil dieser Menschen wächst rasant, da es keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt.
Welche Rolle kann bei alledem eine Gewerkschaft wie Verdi spielen, in der ja Jobcenter-Mitarbeiter genauso organisiert sind wie Arbeits­lose?
Aus unserer Sicht ist es wichtig, den Dialog zu suchen. Die Jobcenter-Beschäftigten auf der einen und die Arbeitsloseninitiativen auf der anderen Seite haben ja auch schon regelmäßig Kontakte und stimmen sich ab. Darauf sollte aufgebaut werden, damit die Menschen nicht aufeinander losgehen und auch die Hartz IV-Empfänger entsprechend würdevoll und menschlich behandelt werden. Genau das leisten in meinen Augen aber auch die über 65 000 Jobcenter-Angestellten in dieser Republik jeden Tag.
Wäre es nicht vielleicht auch an der Zeit, mal wieder an die gute, alte Solidarität zu appellieren?
Es ist schon so, dass jemand, der zum Jobcenter geht, in gewisser Weise mit einem Stigma behaftet wird. Dabei ist es die verfehlte Arbeitsmarktpolitik – befristete Jobs, Niedriglohnsektor –, die sehr viele Menschen, die in der Vergangenheit nie mit dem Sozialamt zu tun hatten, jetzt zwingt, da hinzugehen. Es wäre sicher gut, wieder so etwas wie Solidarität und Gemeinschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitslosen herzustellen. Die unterschiedlichen Menschen dürfen hier nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es sollte vielmehr geschaut werden, was für ein System dahintersteckt, um dann Einfluss zu nehmen, diese Systeme gemeinsam zu verändern, um ein menschenwürdiges Leben und Arbeitsleben hier in der Bundesrepublik zu ermöglichen.