Über den Ärztestreik

Der Kassenarzt will Kasse machen

Im Streit um höhere Honorare machen niedergelassene Ärzte mit rhetorischen Entgleisungen auf sich aufmerksam und drohen sogar mit Praxisschließungen. Ihr ständisches Denken hat eine lange Geschichte.

Eigentlich sollte der Streit schon Anfang September beigelegt werden. Doch die Auseinandersetzung um die ärztlichen Vergütungen, die der Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen (GKV-Spitzenverband) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) als Vertreterin der niedergelassenen Ärzteschaft führen, dauert an.
Der sogenannte Bewertungssausschuss, der aus jeweils drei Vertretern der KBV und des GKV-Spitzenverbandes besteht, legt jährlich die Ärztehonorare fest. Kann man sich nicht einigen, wird das Gremium durch einen gemeinsam ernannten, unparteiischen Vorsitzenden ergänzt. Derzeit hat der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem den Posten inne. Sein Schlichterspruch und die Beschlüsse dieses erweiterten Bewertungsausschusses (eBW) sind bindend.

Die Ärztefunktionäre gingen mit der Forderung in die Verhandlungen, ihre Honorare für 2013 um 3,5 Milliarden Euro zu erhöhen. Der Schlichterspruch des eBW sah hingegen zunächst nur eine Erhöhung um 270 Millionen Euro vor. Die Delegierten der Ärzteverbände verließen die Sitzung, der GKV-Spitzenverband erhöhte sein Angebot auf 900 Millionen. Noch in dieser Woche soll erneut verhandelt werden.
Die Rhetorik am Rande der Verhandlungen wirkt befremdlich. Manche Mitglieder der organisierten Ärzteschaft wähnen sich in einem »Krieg der Kassen gegen uns Ärzte«, wie in der Ärztezeitung zu lesen war. Der Verband der niedergelassenen Ärzte erkennt einer Pressemitteilung zufolge im Schlichterspruch Wasems eine »Kriegserklärung«. Der Schlichter wurde nach seiner Entscheidung heftig angefeindet, ein Mediziner wollte ihn der Süddeutschen Zeitung zufolge dafür gar »vor den Volksgerichtshof« stellen. Dem Vorsitzenden der KV Baden-Württemberg geht es in dem Konflikt um nicht weniger als »die Machtfrage im Land«, um die Abwehr einer »Kassenräterepublik mit Spitzelmentalität«, wie er einem Bericht der Ärztezeitung zufolge während einer Versammlung von Ärztefunktionären unter »aufbrandenden ›Jawohl‹-Rufen« ­proklamierte.
Die Ärzte wissen, dass der Streik im Arbeitskampf das effektivste Mittel ist. Nach ersten Aktionen, bei denen sie beispielsweise Protestschreiben an die Kassen faxten (»Operation Shitstorm«), drohten sie schließlich mit Praxisschließungen. Die Bereitschaft zu dieser Maßnahme war innerhalb der berufspolitischen Verbände verschieden stark ausgeprägt. An einer Urabstimmung von 30 Berufsverbänden beteiligten sich 49 Prozent der Mitglieder. Davon stimmten 75 Prozent für Praxisschließungen, was etwa 38 000 von bundesweit insgesamt 124 000 niedergelassenen Ärzten entspricht. Die Zahl wäre zumindest ausreichend, um die Patientenversorgung empfindlich zu stören.

Praxisschließungen sind selbstverständlich kein Streik im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr Leistungsverweigerungen von Kleinunternehmern, die sich durch ihre Mitgliedschaft in der KBV bestimmte unternehmerische Vorteile wie die Selbstverwaltung, Kollektivverträge und die Mitsprache bei Zulassungsbestimmungen gesichert, aber auch Pflichten wie den Sicherstellungsauftrag und den Verzicht auf ein Streikrecht auferlegt bekommen haben.
Dass die derzeitige Bereitschaft zur Praxisschließung eher ständischem Egoismus als solidarischen Motiven entspringt, zeigt ein Blick auf die Geschichte der niedergelassenen Ärzteschaft in der Bundesrepublik. Ärzte behandelten im 19. Jahrhundert ihre Patienten, wenn diese bar bezahlten oder bei einer der aufkommenden Kassen versichert waren, mit der der Arzt zuvor einen Vertrag geschlossen hatte. Die Höhe des Honorars musste individuell ausgehandelt werden. Mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung seit 1883 nahm der Anteil der versicherten Personen stark zu, von etwa 10 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1885 auf über 35 Prozent 1913, was die kassenärztliche Tätigkeit lukrativer machte.
Seit der Jahrhundertwende kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Kassen, die in den Jahren 1923/24 in einem »Generalstreik« der Ärzte gipfelten. 1931 erstritten die Ärzte die Einrichtung einer Reichsärztekammer. Im Zuge der Machtübergabe an die Nationalsozialisten zeigten die deutschen Ärzte einen bemerkenswerten vorauseilenden Gehorsam, sie wirkten aktiv am Ausschluss jüdischer und politisch andersdenkender Kollegen mit, bereits im Jahr 1934 waren mehr als 30 Prozent von ihnen Mitglied der NSDAP. Wegen der Verflechtungen der ärztlichen Standesorganisationen mit dem NS-Staat schafften die Alliierten die Reichsärztekammer nach 1945 ab, im Jahr 1955 wurde jedoch die Kassenärztliche Bundesvereinigung als Nachfolgeorganisation gegründet.
Die wirtschaftliche Lage der Ärzte ist ambivalent: Ihre kassenärztliche Tätigkeit zwingt sie zu Zugeständnissen, die mit ihrem Selbstverständnis als freie Unternehmer in einem »freien Beruf« nicht zu vereinbaren sind. Andererseits minimiert das Vertragsverhältnis mit den Kassen aber ihr unternehmerisches Risiko.
Angesichts dieser Ambivalenz wird der Ruf nach Beistand von Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) ebenso laut wie die Forderung nach der Aufkündigung des Sicherstellungsauftrages, der die Kassenärztlichen Vereinigungen dazu verpflichtet, die medizinische Versorgung der Bevölkerung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewährleisten. Und auch Verschwörungstheorien werden bemüht. So sagte der Vorsitzende der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, im ZDF: »Wir haben es längst mit einem verantwortungslosen Machtkartell zu tun, das monopolartig versucht, uns unter seine Knute zu zwingen.« Der KBV-Vorsitzende Andreas Köhler sagte dem Sender, die Ärzte seien einer »Hetzkampagne durch die Kassen« ausgesetzt, und mahnte: »Ärzte sind nicht die Prügelknaben der Nation«.

Solche Aussagen wirken zynisch. Große Teile der Bevölkerung haben in den vergangenen Jahren schmerzhafte Reallohnverluste und den Abstieg in unsichere Arbeitsverhältnisse erfahren müssen. Bei ihnen dürfte sich das Verständnis für die Geldsorgen der Ärzte in Grenzen halten. Deren jährliches Durchschnittseinkommen liegt brutto und nach Abzug der Praxiskosten zwischen 100 000 Euro, wie die KBV angibt, und 165 000 Euro, wie der GKV-Spitzenverband berechnet hat. Jedoch sind die Einkommensunterschiede zwischen dem hausärztlichen Bereich und eher technisch orientierten Disziplinen wie der Orthopädie oder Nephrologie beträchtlich, was vorrangig ein Problem der Verteilung durch die KBV ist.
Über die alarmistische Rhetorik der Ärzteschaft mag man lachen – auflösen lässt sich der ökonomische Interessenskonflikt zwischen den gesetzlichen Kassen und den niedergelassenen Ärzten nicht. Die Situation der niedergelassenen Ärzteschaft ist ein 130 Jahre altes, dauerhaftes Problem. Eine wichtige Frage wird in der Auseinandersetzung ohnehin nicht diskutiert: Wie könnte der Anachronismus, die medizinische Versorgung durch ein Netz ärztlicher Kleinunternehmer aufrechtzuerhalten, überwunden werden?