Auszug aus: »Sterben in Mexiko. Berichte aus dem Inneren«

Sterben in Mexiko

John Gibler erzählt davon, wie die Mitarbeiter einer Tageszeitung in der mexikanischen Stadt Ciudad ­Juárez gegen den Drogenkrieg in ihrem Land kämpfen.

John Gibler arbeitet als Korrespondent für den Radiosender KPFA in San Francisco und war für verschiedene Menschenrechtsorganisationen in Mexiko, Peru und Kalifornien tätig. Seit 2006 lebt er in Mexiko und berichtet von dort über die Drogenkartelle des Landes und deren Verbindungen mit dem mexikanischen Staat. In seinen 2011 unter dem Titel »To Die in Mexico« in Buchform veröffentlichten Artikeln erzählt er unter anderem von der schwierigen Arbeits- und Lebenssituation kritischer Journalisten in Mexiko. Ciudad Juárez, aus der die folgende Reportage stammt, ist eine Millionenstadt in der nord­mexikanischen Provinz Chihuahua.

El Diario de Juárez ist eine Tageszeitung in Trauer. Zwei Schreibtische der Nachrichtenredaktion dienen nun als Altäre zu Ehren zweier ermordeter Reporter. Jeden Morgen finden die Leser von El Diario auf der Vorderseite der Zeitung, direkt neben dem Titelkopf, eine schwarze Schleife. Der Text darunter lautet: »Präsident Calderon: Wir fordern Gerechtigkeit für Armando und Luis Carlos.« Zwei große bedruckte Transparente hängen an der Fassade des Zeitungsgebäudes und sind von der verkehrsreichen Avenue Paseo Triunfo de la República gut zu sehen. Das erste trägt ein Bild von Armando »El Choco« Rodríguez und sagt: WIR FORDERN GERECHTIGKEIT FÜR ARMANDO. ES GIBT KEINE DEMOKRATIE OHNE JOURNALISTEN. Das zweite zeigt Luis Carlos Santiago in dem Moment, da er mit seiner Kamera eine Aufnahme macht. Darunter steht: VON WEM KÖNNEN WIR GERECHTIGKEIT FORDERN? LUIS CARLOS SANTIAGO 1989 – 2010.
El Diarios Redakteure stellten diese Frage der ganzen Nation am Tag, nachdem ein Todeskommando Luis Carlos Santiago, Fotograf bei El Diario, getötet und einen Freund von ihm, der ein Praktikum bei der Zeitung machte, verwundet hatte. Es war der 16. September 2010, der Tag der 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Mexikos. Die beiden jungen Männer hatten ihre Mittagspause beendet und waren auf dem Rückweg zu ihrem Büro, als die Todesschwadron Luis Carlos auf dem Parkplatz des Einkaufzentrums Rio Grande niederschoss. Die Täter fuhren über eine der großen Avenues davon, wo sich Tausende von Polizisten und Soldaten aufhielten. Niemand verfolgte Luis’ Mörder.
Der zweite Jahrestag der Ermordung Armando Rodríguez’ näherte sich. Er wurde eines Morgens im November 2008 vor seinem Haus erschossen, während er sein Auto warmlaufen ließ; seine achtjährige Tochter saß auf dem Beifahrersitz und wurde Zeugin des Verbrechens. Niemand ist verhaftet oder vor Gericht gestellt worden. Nach der Ermordung von Luis Santiago und einem zwei Jahre langen Warten auf ein Ergebnis in Armando Rodríguez’ Fall veröffentlichte El Diario einen Leitartikel mit der Schlagzeile: »Von wem können wir Gerechtigkeit fordern?« Von keiner Seite gab es irgendeine Reaktion.
Eine Antwort auf diese verzweifelte Frage gibt es nicht. Das Büro des Generalstaatsanwalts des Bundesstaates Chihuahua hat weniger als drei Prozent der zwischen 2008 und 2010 regis­trierten 7 341 Mordfälle vor Gericht gebracht. Die meisten Personen, die bei Operationen der Armee und Bundespolizei festgenommen wurden, kamen später wieder frei. Ein Bundesanwalt hinterlegte sogar Kaution für den Hauptverdächtigen im Villas-de-Salvár­car-Massaker, bei dem Bewaffnete im Januar 2010 auf einer Hausparty 15 Menschen abschlachteten, die meisten junge Studenten, und zehn weitere schwer verwundeten. Der Staatsanwalt wurde später tot aufgefunden. Man kann sich vorstellen, warum El Diarios Redakteure in diesem Klima nicht einfach Gerechtigkeit verlangten, sondern die Frage stellten, an wen sie ihre Forderung überhaupt richten konnten.
»Die Regierung ist gleichgültig gegenüber diesen Rufen nach Gerechtigkeit. Sie hören sie nicht. Sie reagieren auf solche Dinge nicht«, schrieb Pedro Torres Estrada, der verantwortliche Redakteur bei El Diario, und er sagte, nach dem Mord an Luis Santiago hätten sie überlegt: »Okay, wie können wir sie dazu bringen, zu reagieren?«
Am folgenden Sonntag, dem 19. September, veröffentlichte El Diario auf der Titelseite einen Leitartikel mit der Überschrift: »Was wollt ihr von uns?« Die Frage richtete sich nicht an die bundesstaatlichen, staatlichen und lokalen Beamten, die angeblich die Sicherheit auf den Straßen von Juárez gewährleisten sollten, sondern an die Mitglieder und Kommandeure der Todesschwadrone und Mordbanden – wer auch immer sie sein mochten –, die Ciudad Juárez in den vergangenen zwei Jahren zur mörderischsten Stadt der Welt gemacht hatten.
»Señores der verschiedenen Organisationen, die um die plaza von Ciudad Juárez streiten«, beginnt der Artikel in einem nüchternen, zurückhaltenden Ton, »der gewaltsame Tod zweier Reporter unserer Zeitung in weniger als zwei Jahren bedeutet für jeden, der hier arbeitet, und besonders für ihre Angehörigen, einen unersetz­lichen Verlust. Wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass wir Journalisten sind, keine Wahrsager. Daher möchten wir als Informationsarbeiter Sie darum bitten, uns zu erklären, was Sie von uns wollen, was wir Ihren Wünschen gemäß veröffentlichen oder nicht veröffentlichen sollen, so dass wir wissen, woran wir uns zu halten haben. Derzeit sind Sie de facto die Autoritäten in dieser Stadt aufgrund der Tatsache, dass die legalen Machthaber den gewaltsamen Tod unserer Kollegen nicht zu verhindern vermochten, obwohl wir sie wiederholt aufgefordert haben, für mehr Schutz zu sorgen. Angesichts dieser unbestreitbaren Realität wenden wir uns mit dieser Frage direkt an Sie, weil wir unbedingt verhindern wollen, dass ein weiterer unserer Kollegen Ihren Kugeln zum Opfer fällt.«
Nach diesem Appell an die »De-facto-Autoritäten« führt der Leitartikel über fast vier Seiten aus, dass die Botschaft »nicht Kapitulation« ist, sondern eine Art »Waffenstillstand«, ein Versuch zu verstehen, was die Regeln sind, denn »selbst in einem Krieg gibt es Regeln«. Heftig kritisiert werden die Regierungen in der Hauptstadt und den Bundesstaaten wegen ihrer blinden Militärstrategie und Unfähigkeit, auf die Rufe der Bürger nach Gerechtigkeit zu reagieren: »Der Staat als Beschützer der Rechte seiner Bürger – und nicht zuletzt der Journalisten – war in diesen Jahren der Feindseligkeiten einfach abwesend, selbst wenn er mit vielen letztlich gescheiterten (Militär und Polizei-)Operationen versucht hat, das Gegenteil zur Schau zu stellen.« Die Redakteure erinnern daran, dass Kleinunternehmer und Ärzte über mögliche Steuerverweigerungen und Arbeitsstreiks diskutierten, um auf diese drastische Weise die Regierung zu zwingen, ihre Rufe nach Gerechtigkeit ernst zu nehmen. Stattdessen »verlieren sich die für die Sicherheit der Bürger Verantwortlichen in folgenlosen Reden darüber, ob die Situation in Mexiko heute schlimmer ist als in Kolumbien vor 20 Jahren, wie es die Außenministerin der USA, Hillary Clinton, kürzlich getan hat und was von einer so seriösen Zeitung wie der Washington Post aufgegriffen wurde«. Am Ende des Artikels steht eine beißende Kritik an einem Mitglied der Bundesregierung: »Und als wären die Gräueltaten, Mordversuche und Einschüchterungen gegenüber den Medien noch nicht genug, streute gestern die Ministerin für Erziehung und Kultur, Guadalupe Chacón Monárrez, mehr Salz in die Wunde, indem sie erklärte, wir seien verantwortlich für den Psychoterror, mit dem die Menschen hier in der Stadt leben.«
Am nächsten Tag meldeten sich Medien aus der ganzen Welt bei Pedro Torres. Er erhielt Anrufe aus Japan, aus London und Amsterdam, aus Israel und Chile. Man rief ihn aus Kolumbien, den USA und natürlich Mexiko an. Seine drei Mobiltelefone und die beiden Leitungen in der Redaktion klingelten ununterbrochen. Seine Kollegen nah­men Anrufe für ihn entgegen und erschienen ständig mit einem Telefon in der Hand in seinem Büro. »Es war schrecklich. Ich meine … Sie können sich das nicht vorstellen«, erzählte mir Pedro Torres. »Dieser Tag war beängstigend, unglaublich. Die ersten Anrufe kamen schon um drei Uhr morgens, und das ging so bis Mitternacht; nach zwölf ging ich nicht mehr ran.«
Aber die, an die sich der Kommentar gerichtet hatte, meldeten sich nicht. Die »Señores«, die um die plaza kämpften, ließen nie etwas von sich hören. Die Bundesregierung kritisierte den Leitartikel in etlichen Pressemitteilungen und Pressekonferenzen in Mexiko-Stadt, aber kein einziger Regierungsbeamter rief bei der Redaktion an.
»Diejenigen, von den wir gehofft hatten, dass sie positiv reagieren würden, taten nichts. Wir erwarteten irgendeine Reaktion von der Regierung. Aber stattdessen verhielt sie sich abweisend«, sagte Torres. »Sie ließ verlauten, dass der Mord an Luis Carlos nichts mit seinem Beruf zu tun habe, sondern eine private Angelegenheit gewesen sei. Wir kennen nicht die Grundlage für ein solches Statement. Die Sache ist die: Konnten wir annehmen, dass es Ermittlungen gab? Nein. Es gab keine. Genauso wie in Armandos Fall.«
Während sich die Weltmedien für einen Moment El Diario zuwandten, um von der Redaktion zu erfahren, warum sie den Leitartikel geschrieben hatte und was sie zu erreichen hoffte, erwähnte die mexikanische Regierung den Text nur, um ihn vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit zu denunzieren.
»Wir waren darüber sehr erbost«, kommentierte Torres. »Die Politiker reagieren nicht auf die Realität und auf die Ereignisse. Sie reagieren auf den Druck der Medien. Das ist schlimm. Ich meine, wenn Bewaffnete hier in einem Monat tausend Menschen töten, ruft das bei der Regierung keine Reaktion hervor. Aber wenn die New York Times oder El País in Spanien einen Artikel darüber veröffentlichen, dann schreit man auf. Das ist für die Regierung der Moment, in dem etwas passiert, nicht wenn etwas tatsächlich geschieht, sondern wenn es veröffentlicht wird. Das ist ein sehr ernstes Problem. Alle Anstrengungen der Regierung sind auf die mediale Wahrnehmung, nicht auf die Realität gerichtet. Das heißt, sie unternehmen etwas gegen das, was publiziert wird, aber nicht gegen das, was geschieht. Das ist das Hauptproblem. Die Regierung interessiert nur, ob sie bei den Wählern Sympathien gewinnt oder verliert. Und diese Einstellung ist dafür mitverantwortlich, dass das Chaos fortbesteht.«
ulio César Aguilar hält den Rekord unter den Nota Roja-Fotografen in Ciudad Juárez; an einem einzigen achtstündigen Arbeitstag machte er Aufnahmen von 17 Leichen in einer Stadt von 1,5 Millionen Seelen. An dem ersten Tag Ende Oktober 2010, da ich ihn begleitete, waren bereits acht Menschen ermordet wurden, als er um 16 Uhr seine Schicht begann. Als er mich um 19 Uhr abholte, hatte er noch zwei Leichen fotografiert. In den folgenden zweieinhalb Stunden fuhren wir zu drei weiteren Toten, 13 insgesamt. Ein durchschnittlicher Tag. Nachdem er mich wieder abgesetzt und seine Schicht in den frühen Morgenstunden beendet hatte, eröffneten Bewaffnete das Feuer auf einen Bus, der Maquiladora-Arbeiter nach ihrer Schicht heimbrachte. Vier wurden getötet, 15 verwundet, ein früher Start eines nächsten trostlosen Tags des Mordens. (Der Oktober 2010 wurde Ciudad Juárez’ bis dahin gewalttätigster Monat mit 352 Exekutionen. In den Monaten zuvor wurden bereits 2 660 Morde allein in der Stadt begangen und mehr als 30 000 in ganz Mexiko, seit Felipe Calderón im Dezember 2006 zum ersten Mal die Armee auf die Straße geschickt hatte.)
Sechs Tage die Woche, von Dienstag bis Sonntag, fährt Julio César Aguilar – ein 32jähriger, der eine dicke Hornbrille und ein Button-down-Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln trägt, so dass man seine tätowierten Unterarme sieht – durch die mörderischste Stadt der Welt, wobei er sich von den Tipps seiner Kollegen und anonymer Anrufer leiten lässt. Den Polizeifunk höre er nicht mehr ab, erzählte er mir. Seit dem Massaker an sechs Bundespolizisten seien die Frequenzen geändert worden. Während wir durch die Stadt fahren, bekommt er einen Anruf. Wieder ist eine Leiche gefunden worden. Er schaltet die Warnblinkanlage ein, drückt aufs Gas und missachtet alle Verkehrsregeln. Bei einer anderen Gelegenheit war sich der Anrufer nicht über den kürzesten Weg zu dem Tatort sicher. Julio César griff nach einem zweiten Telefon, um einen Kollegen anzurufen und den günstigsten Weg zum Tatort zu erfragen. Er führte beide Gespräche gleichzeitig, und während er mit 50 Stundenkilometer durch die unbeleuchteten Nebenstraßen von Juarez fuhr, lenkte er das Steuer mit seinen Ellbogen.
In den wenigen Jahren des Drogenkriegs hat sich diese Arbeit zu einer Art urbanem Todesrennen entwickelt. Von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht fahren Julio César und seine Kollegen von der Presse kreuz und quer durch die Stadt, bekommen anonyme Anrufe und Mitteilungen von den verschiedenen Medien und rufen sich ständig gegenseitig an, um Fakten zu bestätigen und sich zu beraten. Oft genug kommen sie in die marginalisierten Stadtviertel und müssen mit Familien und Polizisten umgehen, die nicht immer Verständnis für das zeigen, was sie tun. Kaum an dem Ort einer Exekution angekommen, erhalten sie schon die Nachricht von einem weiteren Leichenfund. Unterwegs hören sie etwas von einer neuen narcopinta oder narcomanta (Narco-Graffiti). Kaum sind sie dort, kommt die nächste Todesmitteilung. Und so kreuzen und rasen sie durch die Stadt, bis ihre Schicht zu Ende ist.
Julio César ist seit sechs Jahren Fotojournalist und arbeitet seit vier in den Nachtstunden für El Diario. Er studierte an der Autonomen Universität von Chihuahua Journalistik, weil er nicht für den Rest seines Lebens hinter einem Schreibtisch sitzen wollte. Geboren im Bundesstaat Hidalgo in Zentralmexiko, kam Julio César mit seiner Mutter und sechs jüngeren Geschwistern 1988 nach Ciudad Juárez. Da war er zehn Jahre alt. Seine Mutter bekam Arbeit in den Maquiladoras und bildete sich an den Wochenenden weiter. Heute ist sie Krankenschwester. Der kleine Julio César brachte sich selbst das Gitarrespielen bei und sang für Trinkgeld in den Bussen der Stadt. In gewisser Weise ist er wieder zur Arbeit in der Öffentlichkeit zurückgekehrt, aber nun dient er sozusagen als das Auge einer Gesellschaft, die zugleich terrorisiert und besessen ist von den widersprüchlichen Bildern des Todes und der Straffreiheit bei Mord: die Leichen, die mit Klebeband umwickelt sind, die von Brücken hängen, verstümmelt und enthauptet wurden oder auf Parkbänken liegen und in eben den Straßen abgeladen werden, wo Tausende schwerbewaffneter, maskierter Bundespolizisten ständig in Konvois mit drei bis fünf Fahrzeugen patrouillieren.
In der ersten Nacht, die ich mit Julio César mitfuhr, fotografierte er drei Tatorte. Einer war einen halben Straßenblock von einer Grundschule entfernt, ein anderer war ein Autowrack. In der zweiten Nacht durchquerten wir Juárez dreimal, um eine narcopinta, die Spuren eines Polizeiangriffs auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums und drei tote Körper zu fotografieren. Wir kamen durch Viertel am Stadtrand, die trostlos aussahen, aber nicht vollkommen menschenleer waren. Ein paar Familien saßen auf der Veranda ihrer Häuser, ein paar Jungen spielten Fußball auf einem Platz oder liefen mit einer Handvoll Freunde die Straße entlang. Nicht weit davon entfernt erleuchteten die roten und blauen Blinklichter der Streifenwagen den Fundort einer Leiche.
Einmal trafen wir offensichtlich nur Minuten nach der Ermordung eines sehr jungen Mannes am Tatort ein. Zwei Männer und eine Frau waren dort. Einer der Männer gestikulierte wild. Mitten auf dem Asphalt einer Ausfahrt lag zusammengekrümmt die Leiche des jungen Mannes, eine Blutlache breitete sich um seinen Kopf aus. Zwei Fotografen begleiteten uns, und als wir näherkamen, stürzte der wild gestikulierende Mann auf uns zu und schrie, wir sollten keine Aufnahmen machen. Niemand hob seine Kamera. Dann tauchten Bundespolizisten in Kampfhaltung auf, mit Sturmgewehren im Anschlag. Julio César, gewöhnt an solche Szenarien, ging zur anderen Seite des Polizeilastwagens, der an der Straße parkte, und machte von dort einige Fotos von der Leiche. Der Polizeikommandant näherte sich und zog ein Notizbuch und einen Kuli aus seiner kugelsicheren Weste. Er fragte nach unseren Namen und den Medien, für die wir arbeiteten. Julio César fragte ihn, warum er diese Informationen haben wollte. Der Kommandant antwortete darauf mit der Frage: »Wie sind Sie so schnell hierhergekommen? Wer hat Sie benachrichtigt?«
Julio César, der den Hinweis von einem Freund bekam, der die Schüsse zufällig gehört hatte, wollte von dem Polizeibeamten wissen, warum er solche Fragen stellte, wo die Polizei das doch sonst nie interessiert. Der Offizier blieb ruhig und stellte mit einem leichten Lächeln fest, dies sei der Ort eines Verbrechens und wir gehörten offensichtlich dazu. »Dies ist ein Tatort«, sagte er, und deutete dabei auf uns.
»Sicher«, erwiderte Julio César unbeeindruckt, »was ich merkwürdig finde, ist, dass die Polizei uns sonst nicht solche Fragen stellt.«
»Nun«, sagte der Mann, »vielleicht sind Sie noch nie einem Kommandanten wie mir begegnet«, und er zeigte auf seine Brust.
Julio César lachte: »Mag sein, dass Sie der erste sind, der seinen Job tut«, sagte er und wies sich aus: »Julio Aguilar von El Diario.«
Der Kommandant schrieb auch die Namen der beiden anderen Fotografen auf. Da ich nicht erpicht darauf war, dass er meinen Namen notierte, zog ich mein Handy raus, trat ein paar Schritte zur Seite und tat so, als ob ich einen Anruf entgegennehmen würde.
Der verzweifelte Mann und seine beiden Begleiter beobachteten uns mit offener Feindseligkeit, die Art von Blick, die in Ciudad Juárez unmittelbar einem Kugelhagel vorausgehen konnte. Die Fotografen schossen schnell ein paar Bilder, dann verschwanden wir. Wir fotografierten in dem weit östlich gelegenen Teil der Stadt eine narcopinta gegen El Chapo, die Carrillo Fuentes’ Juárez-Kartell, vor Ort als La Línea bekannt, hinterlassen hatte, und fuhren danach an den westlichen Stadtrand, um einen Ermordeten zu fotografieren, der auf einer Parkbank deponiert war. In der Nähe spähten Kinder aus einem Türeingang; einige kleinere Gruppen wagten sich hinaus und liefen mitten auf der Straße. Julio César erhielt einen weiteren Anruf: eine Leiche an einem Straßenrand. Während der Fahrt dorthin erzählte er mir davon, wie er einmal an den Ort einer angeblichen Hinrichtung kam und begann, Aufnahmen von einem Körper zu machen, der ausgestreckt auf der Straße lag, als der Mann seine Hand hob. Julio César bekam einen gehörigen Schreck. Dann wurde ihm klar, dass der Mann nicht von einem Kugelhagel niedergestreckt worden war, sondern vom Alkohol. In Ciudad Juárez sind Begegnungen mit an der Straße abgelegten Leichen alltäglicher geworden als der Anblick komatöser Betrunkener.
Als wir am nächsten Tatort eintrafen – eine Leiche vor einem Wohnhaus in einem augenscheinlich bescheidenen Mittelklasseviertel –, sah uns eine Gruppe von Frauen und schimpfte offen: »Ach, ihr seid auch schon da? Der da ist schon seit mehr als einer Stunde tot.« Ich machte mir ein paar Notizen und ging dann zu den Frauen, um zu sehen, ob ich mit ihnen ins Gespräch kommen würde. Keine leichte Sache unter den gegebenen Umständen. Als ich mich näherte, fragte eine der Frauen spöttisch: »Ist es nicht ein bisschen spät?« Als ich erwiderte, dass wir gerade von einem anderen Mord im Westen der Stadt kämen, änderte sich der Ton der Frauen. Sie sagten, wir sollten vorsichtig sein. Ich fragte, ob dies die erste Leiche in dieser Gegend sei. Sie lachten. »Nein«, sagte eine Frau, »nur einen halben Block von hier entfernt haben sie gerade einen ermordet.« Sie erzählten mir, dass sie einen Wortwechsel gehört hätten, Schüsse und dann die Schritte der Mörder, die die Straße hinuntergingen – nicht rannten –, wo ein Auto auf sie wartete.

An einem Sonntagmittag ging ich zu den Büroräumen von El Diario. Der Parkplatz vor dem Gebäude war leer, niemand war am Empfang, die Tür war geschlossen. Eine Reporterin sah mich und öffnete mir, und während wir zwischen den leeren Schreibtischen und Arbeitsnischen im Erdgeschoss zur Treppe gingen, zeigte sie mir die Plätze, wo die Leute Deckung gesucht hatten, als kürzlich draußen vor der Redaktion eine Schießerei ausbrach.
Ich hatte eine Verabredung mit einer Lokalreporterin, die auch für die Kriminalfälle verantwortlich ist, eine Frau, die die meisten ihrer Artikel nicht unter ihrem Namen veröffentlicht. Zu Ehren einer anderen mexikanischen Autorin, die sich weigerte zu schweigen, werde ich sie Rosario nennen. Zehn von El Diarios 15 Reportern sind Frauen, und sie arbeiten für die schwierigsten Ressorts: die Polizei- und Kriminalnachrichtenseiten, la nota roja, und die Kommunal- und Bundespolitik.
Ganze Regionen Mexikos sind von einer Mauer des Schweigens eingeschlossen. Es gibt Nachrichtenredaktionen, wo Narcos das Sagen haben, entweder mittels Bestechung oder mit Waffengewalt.
Es gibt Städte und Bundesstaaten, wo die Veröffentlichung des Namens eines größeren Drogenhändlers zu einem außergerichtlichen Todesurteil führt. Ciudad Juá­rez ist – entgegen allen Erwartungen – nicht so ein Ort. Hier ein Reporter zu sein, ist ein hochriskanter Beruf, und niemand weiß das besser als die Reporter und Redakteure von El Diario, aber dennoch haben sie sich dem Schweigen nicht gebeugt. Rosario sprach im Flüsterton, schnell und präzise.
»Wir hier haben die Namen all der Narcos auf beiden Seiten des Konflikts veröffentlicht«, erzählte Rosario gleich zu Beginn. »Die Leute sollen wissen, dass wir nicht stillhalten, dass hier nicht geschwiegen wird, dass dies nicht (der Bundesstaat) Tamaulipas ist.«
Über den Schreibtisch in ihrer Büronische gebeugt, zeigte mir Rosario eine Computerdatei mit ihren härtesten Geschichten. »Nicht alle haben meinen Namen«, sagte sie, »aber sie wurden alle veröffentlicht. Sehen Sie, dies ist ein Artikel über die Aztecas. Viele der Quellen sind anonym, aber hier ist die Geschichte dieser Gang.«
Rosario besorgte sich Abschriften von einer Gerichtsverhandlung in El Paso und ging dann ins Gefängnis in Juárez, um den Anführer der Aztecas zu interviewen. Die Aztecas sind eine Gang aus Juárez, die ihre Leute auf beiden Seiten der Grenze hat, auch in den Gefängnissen. Es gilt als sicher, dass die Aztecas Drogen über die Grenze bringen und Auftragsmorde und andere Dinge für das Juárez-Kartell erledigen. Die US-Regierung vermutet, dass Mitglieder der Aztecas drei Personen töteten, die in Verbindung zum US-Konsulat in Juárez standen, und allein im Jahr 2009 für mehr als tausend Morde in Juárez verantwortlich waren.
Als Rosario zu dem Interview im Gefängnis eintraf, hatte der Anführer 14 Wachen um sich; alle, erzählte sie, beobachteten sie genau. Sie sagte: »Ich bin Reporterin. Ich werde niemandem von Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten bereiten. Ich möchte vor allem wissen, wie es nach zwei Jahren Krieg um Ihre Organisation steht.« Der Anführer sagte: »Die Regierung hat uns den Krieg erklärt, und viele unserer Mitglieder sind seitdem verschwunden, und wir wissen, dass Soldaten sie umgebracht haben. Sie decken die andere Gang; sie beschützen sie.« Dann machte er einen unerwarteten Vorschlag: »Lasst doch die USA hierherkommen. Sie würden uns vielleicht festnehmen und einlochen. Aber hier schnappen sie uns und machen uns kalt. Das ist es, was hier geschieht, es ist ein Vernichtungskampf.«
Rosario scrollte zum nächsten Artikel auf ihrem Computer und zeigte auf einen Abschnitt mit all den Namen von mittleren und hochrangigen Drogenhändlern in Juárez. »Das sind diejenigen, die die Kontrolle ausüben.« Aus Dateien und Pressetexten der Regierung suchte sie die verschiedenen Namen heraus, und dabei fiel ihr auf, dass sie alle irgendwann einmal von den Sicherheitskräften angehalten oder sogar festgenommen worden waren. »Später dann ließen sie sie wieder frei«, bemerkte sie. »Warum? Wer weiß?« Sie deutete auf einen der Namen und sagte: »Der zum Beispiel ist gefährlich. Sehr gefährlich.« Und dann las sie mir aus dem Artikel vor: »Ein weiterer mutmaßlicher Anführer des Sinaloa-Kartells, der in Gewahrsam war, dann wieder entlassen wurde und nun weiter mordet, ist …«, hier unterbrach sie sich und rief aus: »Oh Gott! Wie konnte ich das schreiben? ›weiter mordet‹ … Hab ich das wirklich geschrieben?« Sie fuhr fort: »Soldaten der mexikanischen Armee verhafteten Ga­bino Salas Valenciano alias ›Der Ingenieur‹, einen 32jährigen aus Durango, mit Drogen und Waffen im Februar 2008; im August kam er auf gerichtliche Anordnung wieder frei.«
»Wir haben uns bemüht, die Strukturen der Drogenkartelle zu verstehen«, fuhr sie fort, »wer sie sind und wie sie operieren. Und eine Menge erklärt die Komplizenschaft des Staates. Tatsächlich spürt man förmlich die Spannung von Seiten der Armee.« Sie erzählte von einer unangenehmen Erfahrung, die sie auf einer Pressekonferenz der Armee machte. Sie hatte das Foto eines Zivilisten mitgebracht, der ganz in Schwarz gekleidet war, eine schwarze Maske und Kapuze trug und an einer Militär­operation in der Stadt teilnahm. Sie fragte den General, der die Pressekonferenz leitete, wer der Mann in Schwarz sei und wer sonst die Soldaten während ihrer Operationen begleite. Der General erwiderte: »Niemand. Die Armee handelt allein.«
»Ich stellte mir vor«, sagte sie, »dass die Armee Paramilitärs benutzt, um Personen zu identifizieren und sie zu exekutieren. Die Armee brauchte einfach Leute aus den Reihen des Gegners; das war meine Auffassung.« Und so stellte sie später während eines Interviews mit mehreren Offizieren und anderen Journalisten die Frage erneut, und der General sagte vor allen Anwesenden: »Wissen Sie was? Sie kommen mir allmählich ein wenig verdächtig vor.«
»Du Hurensohn«, dachte sie damals. »Seine Bemerkung machte mich so wütend, dass ich in dem Moment nichts zu ihm sagen konnte, aber danach ging ich zu ihm, packte ihn am Arm und sagte: ›Wissen Sie was, General? Ich denke, was Sie da vorhin gesagt haben, ist völlig ungerechtfertigt, denn Sie wissen, dass ich nur eine Frage stelle, und Fragenstellen ist mein Job‹.« Der General sah sie an und sagte dann: »Hm. Kann schon sein.« Dann ging er.
»Das ist die Logik des Militärs – wenn du nicht für uns bist, dann bist du gegen uns«, erklärte Rosario. »Das ist gefährlich, und genauso denkt auch die Regierung.«
Sie zeigte mir einen weiteren Artikel über das Missverhältnis bei den Festnahmen: Fast alle Verhafteten waren Mitglieder des Juárez-Kartells. Zuerst war es nur ein Ver­dacht, sagte sie. Jedes Mal wenn sie zu einer Pressekonferenz ging, auf der die Bundespolizei eine Festnahme bekanntgab, wurden die Verhafteten der Zugehörigkeit zu La Línea beschuldigt. Schließlich fragte sie einen Polizeikommandanten während einer Pressekonferenz: »Es ist auffällig, dass in den letzten Monaten die Bundespolizei nur Leute von La Línea präsentiert hat. Wie viele haben Sie von der anderen Gruppe in Haft genommen? Es gibt schließlich zwei Gruppen.« Keine Antwort. Eine andere Reporterin von der in Mexiko-Stadt ansässigen Tageszeitung La Jornada wiederholte die Frage. Der Bundespolizist sagte: »Nein, nein, ich versichere Ihnen, wir bekämpfen … « Rosario unterbrach ihn: »Wie viele? Zahlen.« Er sagte: »Morgen gebe ich Ihnen die genauen Zahlen.«
»Er rückte natürlich nicht damit heraus«, sagte Rosario. »Also mussten wir uns selber darum kümmern.«
Sie addierte alle Festnahmen in Juárez und gab das Ergebnis weiter an Reporter vom National Public Radio. NPR führte dann landesweit seine eigene Zählung durch, wobei sie alle Pressemitteilungen des Generalbundesanwalts benutzten. Beide Untersuchungen zeigten, dass fast 90 Prozent der Verhafteten beschuldigt wurden, zu anderen, mit dem Sinaloa-Kartell konkurrierenden Drogenhandelsorganisationen zu gehören. (Der frühere Generalstaatsanwalt von Chihuahua entließ nach und nach etwa 90 Prozent der Festgenommenen.)
Ich wollte von Rosario wissen, wie sie sich all die Morde erklärte. Waren sie wirklich das Resultat eines Krieges zwischen zwei Familien aus Sinaloa? Führt die Bundesregierung einen Vernichtungskrieg zugunsten von El Chapo? Oder ist das Ganze nur ein mörderisches Chaos ohne Grund?
»Es findet so etwas wie eine wahllose Vernichtung statt«, sagte sie. »Es ist auch ein wirklicher Krieg zwischen zwei Gruppen, und viele Morde lassen sich auf die herrschende Straflosigkeit zurückführen, die es jedem erlaubt, einfach zur Waffe zu greifen. Teil der Logik dieses Krieges ist, dass Leute, die irgendetwas von anderen wollen, einfach sagen: Ich habe ein Gewehr, und du gefällst mir nicht.«

Glossar:
La Línea: die mexikanisch-amerikanische Grenze bei ­Tijuana
Maquiladora: Montagefabriken im Norden Mexikos, in denen viele Migranten zu Niedriglöhnen arbeiten
Narcos: Händler der Drogenkartelle
Narcomanta / Narcopinta: Graffiti-Botschaften, die in der mexikanischen Unterwelt als Kommunikationsmittel verwendet werden

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: John Gibler: Sterben in Mexiko. Berichte aus dem Inneren des Drogenkriegs. Edition Tiamat, Berlin 2012, 198 Seiten, 16 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.