Simon Reynolds spricht über die »Retromania« in der Popkultur

»Es geht heute nur noch um das Wochenende«

Band-Reunions, Wiederveröffentlichungen, Remakes, Samplings und Nostalgie-Shows: Die Musikindustrie hat die Vergangenheit als Ressource entdeckt. Längst verstellt das wuchernde Archiv dem Pop die Zukunft, warnt der britische Kulturtheoretiker SIMON REYNOLDS in seinem Buch »Retromania« und beklagt, dass der Popkultur das Versprechen von Originalität, Innovation und Subversion abhanden gekommen sei.

Die These Ihres Buches »Retromania« lautet, Pop sei in der Retro-Falle gefangen. Sie ­schrei­ben, dass Retro beinahe von Anfang an ein Moment von Pop gewesen sei. In den letzten Jahren habe die Ausschlachtung der Vergangenheit das progressive Moment im Pop jedoch nahezu erstickt. Woran liegt das?
Ich denke, dass mehrere Faktoren für diese Entwicklung verantwortlich sind. Zum einen wäre da die Breitband-Internet-Technologie zu nennen. Ein Phänomen wie Filesharing wurde dadurch erst ermöglicht, und Youtube konnte entstehen – als ein gigantisches Pop-Archiv, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit verbinden. Popgeschichte ist heute nicht nur leichter zugänglich, sie hat über die Jahrzehnte auch immer mehr Material hervorgebracht. Für heutige Künstler ist es einfach verlockend, in diesem noch weitgehend unerschlossenen Gebiet das Vergessene und Obskure aufzuspüren. Man fühlt sich wie ein Entdecker. Das ist sehr spannend, aber es ist dennoch lediglich eine Reise in die Vergangenheit.
Es gibt eine besondere Tendenz der Popmusik, sich mehr und mehr auf die eigene Vergangenheit zu beziehen, wie ein Mensch, der älter wird und sich an sein Leben erinnert. Pop war in seinen Hochzeiten immer sehr gegenwartsbezogen – und gerade diese Momente des »Jetzt« sind es, an die man sich nostalgisch erinnert. Das »Now« ist der Moment des Pop. Junge Leute sollen denken, dass keine andere Zeit besser war als die, in der sie leben. Jedenfalls sollten sie nicht denken, dass früher alles besser war. Das ist doch das Entscheidende am Pop, oder? Das zu verdeutlichen, darum geht es mir in »Retromania«.
Sie argumentieren, nur im Bezug zur Gegenwart könne musikalische Innovation entstehen, nicht aber im Rückgriff auf die Vergangenheit. Die Retro-Bewegung lasse das Neue nicht zu. Ihre Kritik erweckt dabei mitunter den Eindruck, als idealisierten Sie die Neuheit um ihrer selbst Willen. Aber kann das Neue an sich überhaupt eine positive Kategorie sein? Wäre zunächst nicht zu prüfen, ob das jeweilige Neue sich wirklich kritisch mit der Gegenwart auseinandersetzt? Nicht zuletzt der Markt hantiert mit Schlagworten wie »Neuheit« oder »Innovation«.
Als ich »Retromania« geschrieben habe, ging es mir zunächst einmal darum, gegen eine Popkultur zu protestieren, die sich in Selbstreflexion erschöpft. Im Idealfall soll das Buch Menschen dazu bringen, sich damit nicht abzufinden, mehr zu fordern und ungeduldiger zu sein. Ich habe keine Lösung, wie sich dieses Problem angehen ließe, und dementsprechend begreife ich mein Buch auch nicht als Programm; die darin verwendeten Begriffe sind wohl eher nicht als Kategorien im strengen Sinne zu verstehen.
Aber es stimmt schon: Das Neue steht im Kapitalismus natürlich auch für Produkte, für die jeweils angesagte Mode. Und nicht nur konservative, sondern auch linke Positionen können sich dagegen richten, wenn sie es mit den Auswüchsen des Kapitalismus identifizieren. Sicherlich gibt es also auch eine dunkle Seite des Neuen.
Ihre Untersuchung umspannt den Zeitraum von den fünfziger Jahren bis heute. Die Affirmation des Neuen ist dort am überzeugendsten, wo Neuerungen in der Musik mit gesellschaftlichem Wandel einhergehen. Insbesondere die sechziger Jahre erscheinen in Ihrer Darstellung als vorbildliche Dekade.
Zumindest gab es damals noch so etwas wie ein utopisches Denken. Nehmen wir etwa das Space Race – der Gedanke, dass der nächste große Schritt für die Menschheit unmittelbar bevorsteht, dass wir nur wenige Jahrzehnte davon entfernt sind, tatsächlich auf dem Mond zu leben. Natürlich ging es dabei eigentlich um den Wettstreit zwischen den USA und der Sowjetunion, aber der Mythos war trotzdem für viele Menschen inspirierend. Was ist mit dem Space Race passiert? Ich habe in einem Artikel gelesen, der Kapitalismus habe es beendet. Es ist eben nicht unmittelbar profitabel, ins Weltall zu fliegen.
Die Sechziger sind für mich persönlich ein großes Thema, obwohl ich damals noch ein Kind war. Fast jede Art von Musik, die mir im Verlaufe meines Lebens wichtig war, hat irgendwie mit dieser Zeit zu tun. Punk war eine Reaktion darauf, vieles im Post-Punk bezog sich auf dieses Jahrzehnt. Und häufig haben sich die Bands, die ich in den Achtzigern gehört habe, nach den sechziger Jahren zurückgesehnt, nicht zuletzt als Reflex auf Thatcher und Reagan: R.E.M., The Smiths, My Bloody Valentine. Auch in der rave culture der Neunziger gab es Bezugnahmen auf den Summer of Love, Psychedelia und all das. Es mag eine Illusion sein, aber in diesem Jahrzehnt scheint es eine starke Verbindung gegeben zu haben zwischen fortschrittlicher sozialer Energie und dem Gefühl, dass die Musik sich in neue Gebiete aufmacht.
Diese Verbindung von gesellschaftlicher Utopie und musikalischen Neuerungen besteht heute nicht mehr?
Die Idee, Musik habe eine besondere Macht und sei mit Kräften sozialer Veränderung verwoben – diese Idee scheint zerbrochen zu sein. Man kann das am HipHop beobachten, zum Beispiel bei Public Enemy. Die Musik war roh und voller Energie. Und obwohl sie aus Samples von James Brown oder Siebziger-Jahre-Musik gemacht war, klang sie wie nichts, was man bisher kannte. Die Ruppigkeit und Aggressivität der Musik ist Ausdruck von Militanz und einer gewissen politischen Mobilisierung. So etwas scheint es heute nicht mehr zu geben. Vieles von dem formal avanciertesten und klanglich aufregendsten HipHop der letzten Jahre ist politisch absolut reaktionär. Was das Beispiel HipHop also auch zeigt, ist, dass es musikalische Innovation geben kann ohne jegliche Intention politischer Veränderung.
Das kann man auch am heutigen Dubstep in Amerika beobachten: ein neuer Sound, den die jungen Leute für sich vereinnahmen. Sie hören keine Gitarrenmusik mehr, sondern die verrückten Basslines von Skrillex, das finde ich ziemlich spannend. Aber da ist nicht einmal mehr das vage hoffnungsvolle Vokabular der Rave-Kultur der Neunziger, die zwar keine wirklich politischen Inhalte hatte, aber immerhin von Peace, Love, Unity und Respect gesprochen hat. Es geht heute nur noch um das Wochenende. Der Slogan dazu heißt YOLO, You only live once, und meint nicht mehr als: Heute wird wild gefeiert.
Das Neue ist also nicht immer im politischen Sinne fortschrittlich. Aber es ist deshalb ein so positiver, wichtiger Bezugspunkt für mich, weil darin die Möglichkeit aufscheint, dass die Dinge sich ändern können, sich drastisch verändern können.
Retromania zerstört also das, was Sie als »Transzendenz« im Pop bezeichnen – ein Impuls, die gegebenen Verhältnisse zu überschreiten, der seit der Jahrtausendwende verloren gegangen sei?
Mark Fisher beschreibt in seinem Buch »Capitalist Realism. There is no Alternative« ein allgemeines Bewusstsein, das keinerlei Alternative zum gegenwärtigen Leben mehr kennt. Alle Versuche, sich andere soziale Verhältnisse vorzustellen, sind vergessen oder werden heute als peinliche Überbleibsel der sechziger oder siebziger Jahre gesehen. Worum es für mich bei dem Begriff des Neuen also auch geht, ist, dass es eine Vorstellung schafft, dass die Dinge sich ändern können und dass die Welt nicht notwendigerweise so bleiben muss, wie sie ist. Es geht also um Vorstellungskraft. Und dieses Weltbild, wie Mark Fisher es beschreibt, drückt sich auch in Musik aus, die nur alte Ideen aufwärmt und nichts Neues mehr schafft.
Aber die scheinbare Alternativlosigkeit in diesem Weltbild liegt doch darin begründet, dass die kapitalistische Produktionsweise bislang dazu in der Lage war, sich auch alles Neue und Widerständige einzuverleiben.
Tatsächlich frage ich mich in meinen pessimistischeren Momenten, ob für meine Generation nicht jeder Antrieb, radikal und revolutionär zu sein, komplett in die Musik umgeleitet wurde. Wir sind mit Post-Punk aufgewachsen und mit Sonic Youth, haben danach HipHop und die elektronische Musik der Neunziger erlebt – lauter neue Trends, jedes Jahr eine neue Bewegung. Man konnte einen rebellischen Lifestyle pflegen, aber ohne jemals wirklich kämpfen zu müssen. Jeglicher Antrieb zur Veränderung wurde ins Ästhetische verschoben. Ich glaube, vielen Menschen aus meiner Generation – natürlich nicht allen – ging es so, weil die Verhältnisse so festgefahren schienen. Man könnte also vielleicht argumentieren, dass Musik auch eine Ablenkung davon sein kann, die Welt wirklich zu ändern.
Es stimmt, alles Widerständige, die Gesellschaft Herausfordernde, jeder neue schockierende Sound, jede Geste wurde noch absorbiert. Eine Band wie die Einstürzenden Neubauten waren bei Virgin Records, auch Public Enemy waren bei einem großen Label, genauso Rage Against The Machine. Zwar waren Rage Against The Machine musikalisch nicht sonderlich innovativ, aber immerhin hatten sie klare politische Aussagen. Es gibt kaum etwas, das schockierend oder innovativ wäre und sich nicht verkaufen ließe; selbst die extremsten, abseitigsten Phänomene werden zumindest als Nischenprodukt zur Ware.
Aber wenn ich versuche, optimistischer zu sein, dann kann ich trotz allem immer noch aufregende neue Musik entdecken.
Welche positiven Beispiele sehen Sie? In Ihrem Buch nennen Sie unter anderem einen Musiker wie Oneohtrix Point Never und eine Band wie Animal Collective, denen es zumindest gelungen sei, sich dem Retro-Trend zu widersetzen.
Es hat immer Beispiele für Musik gegeben, die sehr physisch ist, Energie freisetzt und dich zum Tanzen bringt, Musik, die auf die eine oder andere Art rockt, hinter der aber auch Ideen stecken, eine visionäre Position sozialer Veränderung – die Rolling Stones, Roxy Music, Jungle in den Neunzigern, HipHop, Björk. Heute scheint es nicht viele Beispiele für Musik zu geben, die Kopf und Bauch gleichermaßen anspricht. Die Musik von Animal Collective ist voller Energie. Und sie stehen unter anderem für die hippieske Aussage, dass eine College-Ausbildung nicht alles ist, dass man nicht immer dem gesellschaftlich vorgegebenen Pfad folgen muss. Animal Collective kommen aus der gehobenen Mittelschicht und viele ihrer Hörer wahrscheinlich auch. Zu sagen: »Du musst nicht aufs College,« ist in einem solchen Umfeld schon eine radikale Aussage. Natürlich führt das nicht unmittelbar dazu, dass Leute massenhaft ihre Karriere abbrechen; da entsteht jetzt keine Bewegung von Aussteigern, wie es sie vielleicht zu anderen Zeiten einmal gegeben hat. Aber heute ist es bereits eine Provokation, von so etwas überhaupt zu sprechen.
In den Sechzigern konnte man das bürgerliche Leben ablehnen, in dem Bewusstsein, jederzeit dorthin zurückkehren zu können. Aber das Besondere an der heutigen Zeit ist doch, dass die Menschen nicht einmal mehr eine Chance auf dieses »normale« Leben haben. Mit dem College verband sich das Versprechen, einen Job zu bekommen, sich Haus und Kinder leisten zu können – in Amerika ist es heute aber so, dass die Leute das College verlassen und verschuldet sind, keine Arbeit finden und erstmal in der Luft hängen. Es gibt nur noch Schulden, jeder hat Schulden, und man lebt in der Befürchtung, dass auch die Ressourcen der Zukunft bereits verbraucht sind. Das bringt Menschen in eine Situation, wo sie sich nur um die Gegenwart kümmern oder bestenfalls ein paar Tage voraus planen. Und ich glaube, es bringt sie auch dazu, sich der Vergangenheit zuzuwenden. Und nicht zuletzt könnte es an dieser Hoffnungslosigkeit liegen, dass es in der gegenwärtigen Musik so wenig um Zukunftsentwürfe geht: Die Vorstellung der Zukunft ist für viele einfach zu prekär geworden. Dass der heutige Non-Futurismus auch soziale und politische Gründe hat – darüber hätte ich in »Retromania« vielleicht mehr nachdenken sollen.
Und Oneohtrix Point Never … ?
Ich mag Oneohtrix Point Never sehr. Dessen Musik erhält zwar einigermaßen viel Aufmerksamkeit, aber was die Verkaufszahlen angeht, ist sie marginal. Es gibt jedes Jahr interessante Platten, die neu und innovativ klingen, aber das spielt sich zumeist an den Rändern ab. Dieses Feld von experimenteller blog-music, die sehr konzeptorientiert ist und sich eher der Kunstwelt annähert, finde ich interessant. Allerdings ist das Musik ausschließlich für den Kopf, in kontemplativer Stimmung kann man sich das gut anhören – das physische, euphorische Moment, die Energie fehlt hier aber völlig.
Die Entwicklung von Dubstep in Amerika finde ich spannend, weil es zwar extreme Musik und ein neuer Sound ist, aber dennoch nicht lediglich Musik für den Kopf. Außerdem ist es absolut angesagt.
Meine sechsjährige Tochter kommt aus dem Sommer-Camp zurück und sagt: »Daddy, das ist der Dubstep-Tanz« und bewegt sich dazu wie ein Monster, wie Godzilla. Normale Vorstadtkinder lernen sowas in den Ferien. In Amerika kennt jeder Dubstep. Naja, Mitt Romney wahrscheinlich nicht. Ich finde es aufregend, dass ein so merkwürdiger und auch extremer Sound derart angesagt ist. Skrillex ist sehr erfolgreich. Es ist spannend, wenn solch futuristische Musik derart populär ist. Dubstep war in seinen Anfängen eher rückwärtsgewandt, voller Reverenz an die Vergangenheit. Jetzt ist es viel mehr »now«, so etwas wie der Rock der Zukunft.

Simon Reynolds: Retromania: Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann.Ventil-Verlag, Mainz 2012, 424 Seiten, 29,90 Euro

Simon Reynolds, 1963 in London geboren, war von 1986 bis 1990 Redakteur der britischen Musikzeitschrift »Melody Maker«. Seit 1994 lebt Reynolds im East Village in Manhattan. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften wie »New York Times«, »Village Voice« und »The Wire« und veröffentlichte u. a. 1995 »The Sex Revolts: Gender, Rebellion & Rock’n’Roll« (zusammen mit seiner Frau Joy Press), 1998 folgte »Generation Ecstasy: Into the World of Techno and Rave Culture in America«, 2007 erschien »Rip It Up and Start Again«.