Über die »rechtsstaatliche Bewältigung« eines SS-Massakers

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Die altbekannte Form der »rechtsstaatlichen Bewältigung« des Nationalsozialismus lebt fort: Noch lebende ehemalige Mitglieder der 16. SS-Panzergrenadierdivision werden nicht wegen des Massakers im italienischen Sant’ Anna di Stazzema angeklagt.

Nicht mangelnde Beweise, sondern Kalter Krieg und Westbindung machten der Fortführung der Nürnberger Verfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher in der Gründungsphase der Bundesrepublik ein Ende. Die deutsche Justiz etablierte jene komplizenschaftliche Rechtsprechung, die es NS-Verbrechern ermöglichte, straffrei weiterzuleben. Zum wichtigsten Instrument der gewollten Straffreistellung wurde, neben der gezielten Verschleppung von Ermittlungen, die Anforderung, die persönliche Tatverantwortung Einzelner zweifelsfrei nachzuweisen. Ganz rechtsstaatlich wurden auf diese Weise die Verfahren gegen NS-Verbrecher erledigt – in der Regel ohne Schuldspruch, zur Wahrung des Rechtsfriedens, der auf der Lüge vom Nichtwissen fußte, und zum Schutze der Eliten aus Militär, Justiz und Wirtschaft.
Auch ein halbes Jahrhundert später lebt diese Form »rechtsstaatlicher Bewältigung« fort. Nach jahrelangen Ermittlungen gab die Staatsanwaltschaft Stuttgart Anfang Oktober bekannt, keine Anklage gegen die noch lebenden Beteiligten des Massakers in Sant’ Anna di Stazzema zu erheben. In dem italienischen Bergdorf hatte die 16. SS-Panzergrenadierdivision im August 1944 ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt und etwa 560 Menschen ermordet, mehr als 100 von ihnen Kinder. Das Massaker war eines von mehreren, die von der SS-Division im Zuge der »Bandenbekämpfung« verübt wurden und denen in nur wenigen Wochen mindestens 1 500 Zivilisten zum Opfer fielen. Die Soldaten kreisten die Dörfer ein, trieben die Bevölkerung zusammen und ermordeten sie mit Handgranaten und Maschinengewehrsalven.
Diese Massaker folgten einem Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht zur »Bandenbekämpfung«. »Feindliche Zivilpersonen« seien »mit den äußersten Mitteln bis zur Vernichtung (…) niederzumachen«, hieß es darin. Hinter der »Bekämpfung von Partisanen« verbarg sich die systematische Vernichtung der Bevölkerung.
Genau dies sieht die Staatsanwaltschaft Stuttgart anders. Weil nicht auszuschließen sei, »dass es bei dem Einsatz zunächst (…) um die Bekämpfung der Partisanen ging, die für die deutschen Truppen ein großes Problem darstellten«, könne nicht zwingend eine geplante Vernichtungsaktion angenommen werden. Zur Vernichtung der Bevölkerung hätte die SS das Bergdorf auch mit »schweren Waffen beschießen« und sich den »mühsamen Aufstieg« sparen können. Da es sich also um eine militärische Aktion gehandelt habe, reiche die reine Tatbeteiligung im strafrechtlichen Sinne nicht aus. Vielmehr müsse in jedem Einzelfall ein individueller Schuldnachweis geführt werden, was allein schon wegen der langen Zeit, die das Verbrechen zurückliegt, nicht möglich scheine. Akte zu.
Fast könnte man glauben, eine Verfügung aus den fünfziger Jahren sei zur Ressourcenschonung einfach kopiert worden, gäbe es nicht diesen einen, kleinen Unterschied. Damals noch war der deutschen Justiz schon wegen ihrer eigenen Verstrickung zwingend bewusst, dass die rechtsstaatliche Erledigung lediglich dem gesellschaftlichen Interesse nach Erledigung folgte. Der Stuttgarter Staatsanwaltschaft ist selbst diese Einsicht fremd.