Die Reaktion der Türkei auf den syrischen Granatenbeschuss

Erst drohen, dann abwiegeln

Die Reaktion der türkischen Regierung auf den Granatenbeschuss aus Syrien ist ebenso widersprüchlich und unentschlossen wie die politische Strategie gegenüber dem Nachbarland.

Die Detonation von aus Syrien abgefeuerten Granaten ist in der türkischen Grenzregion eigentlich nicht Neues. Nach dem schrecklichen Tod einer Mutter und ihrer vier Kinder am Mittwoch vergangener Woche kam es spontan zu Massendemons­trationen in der betroffenen Region Akçakale. Die Menschen dort sind der Meinung, sie müssten evakuiert werden, sofern die Regierung keine anderen Maßnahmen trifft. Aber welche? In der Region erweckt besonders die Abriegelung der Flüchtlingslager Misstrauen. Vor allem, weil die Türkei die Uno aufgerufen hat, Hilfe zu leisten, Kontrolle aber ablehnt. Aus gutem Grund.
Das Flüchtlingscamp Ceylanpınar in der Provinz Urfa ist sehr groß. Von weitem sieht es wie ein Meer gelber Segel aus. Die Zelte des Türkischen Roten Halbmonds stehen dicht, denn in diesem Auffanglager sollen etwa 20 000 Flüchtlinge versorgt werden. Journalisten sind hier absolut unerwünscht. Der Versuch, ein Foto zu machen, endet mit dem Anrücken der Jandarma, einer Einheit des Militärs, die auch für Grenzschutz und Polizeiaufgaben zuständig ist. Unauffällig rollt eine Gruppe von drei Leuten in einem großen weißen Minibus des Typs an, der hier in der Gegend von der Zivilbevölkerung auch gern als Sammelbus eingesetzt wird. Eine unverhoffte Einladung auf die Jandarma-Polizeiwache im Camp folgt.
Eigentlich eine kontraproduktive Aktion der Jandarma, die ja verhindern will, dass Journalisten die Realität dort darstellen. Dass neben Fotos gerade persönliche Eindrücke helfen können, übersteigt offenbar die Phantasie der Truppe. Auf der Wache muss Tee getrunken und vor allem das Foto gelöscht werden. Es ist auch ein »Experte für Foto- und Videotechnik« anwesend – ein junger Rekrut, der sichtlich ungern an dem fremden Gerät herumfummelt und, sich fast entschuldigend, schließlich die Aufnahme löscht.

Wenig sympathisch ist die Leitung der Polizeiwache. Bullige Kommisköppe, deren Benehmen gegenüber den Untergebenen wie auch den nur unfreiwillig anwesenden Gästen sehr zu wünschen übrig lässt. Ein Deutsch sprechender Rekrut, der gern ein paar Brocken des Erlernten ausprobieren möchte, wird ausgiebig verspottet. Der Osman sei ja ohnehin zu nichts nutze. Deutsch sei doch nur dazu gut, die deutschen Häschen in Antalya klarzumachen. Essgewohnheiten in anderen Kulturen beschäftigen die Jandarma-Offiziere ebenso intensiv wie die Hygiene. Schweinefleisch essen sei ganz schlecht, davon werde der Mensch unsauber und altere schneller.
Es ist eine Freude, diese Wache wieder verlassen zu können, und ein bitteres Gefühl, sich klarzumachen, dass solches Personal hier mit wahrer Allmacht Tausende Flüchtlinge »betreut«. Es kommt mittlerweile in den Camps immer wieder zu Hungerstreiks und Demonstrationen. Die genauen Hintergründe dringen nicht nach außen, nur Bruchstücke davon. Die Flüchtlinge verstehen nicht, warum sie die Camps nur in Ausnahmefällen verlassen dürfen, keinen Besuch empfangen können und das Wasser oft knapp ist.
In den staatlichen Krankenhäusern von Urfa werden nicht nur im syrischen Bürgerkrieg Verletzte behandelt. Unter den Patienten sind auch solche mit Kopfverletzungen und Prellungen, die sie sich bei Schlägereien im Camp zugezogen haben. Das bestätigt der amerikanisch-israelische Blogger Roee Ruttenberg, der eine detaillierte Beschreibung seiner Festnahme durch die Jandarma der Polizeistation in Ceylanpınar gab und Gelegenheit hatte, Flüchtlinge im Krankenhaus zu sehen.
Die Türkei weist mit Recht darauf hin, dass es ohne Unterstützung von außen kaum möglich sei, über 90 000 Flüchtlinge zu versorgen. Gleichzeitig weigert sich die türkische Regierung aber auch, die UN an der Organisation zu beteiligen. Die Flüchtlingscamps wirken wie Gefangenenlager. Was drinnen geschieht, soll möglichst nicht nach außen dringen. Die Versorgungslage der Flüchtlinge ist da gar nicht der wichtigste Konfliktpunkt.

Die Lager »sind nur für die Angehörigen der Freien Syrischen Armee wie ein Hotel«, sagte Mete Çubukçu, Reporter und Moderator des türkischen Nachrichtensender N-TV, am Wochenende nach der Eskalation wegen der syrischen Mörsergranatenangriffe auf die Türkei. Die Türkei müsse sich nicht wundern, wenn grenznahe Gebiete unter Beschuss gerieten, denn die syrische Armee verfolge eben auch die zwischen der Türkei und Syrien pendelnden Offiziere und Soldaten der Freien Syrischen Armee (FSA). In Akçakale sei ein ständiges Kommen und Gehen dieser Männer zu beobachten. Kamerateams interviewten Offiziere der FSA direkt vor der syrischen Grenze. Davon abgesehen, dass die türkische Regierung die Unterstützung der Rebellen gar nicht leugne, seien die Ausrüstung der FSA mit Waffen und die militärische Ausbildung ihrer Kämpfer schon lange kein Geheimnis mehr.
Die Reaktion der türkischen Regierung auf den Tod von Frauen und Kindern ist zwar verständlich, wirkt jedoch taktisch kalkuliert. Die Türkei werde Angriffen nicht länger tatenlos zusehen, sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan: »Wir waren bis jetzt sehr geduldig und haben abgewartet, ob sie das hinbekommen, ob sie auf das hören werden, was wir ihnen gesagt haben. Aber unsere Geduld ist nun am Ende.« Was in Syrien geschehe, sei für die Türkei eine »innere Angelegenheit«, keine Sache der Außenpolitik.
Außenminister Ahmet Davutoğlu legte am Wochenende auf dem staatlichen Fernsehsender TRT nach. Das Maß sei voll, die Türkei werde jeden Angriff im Keim ersticken.
Auf diese Worte folgten jedoch keine Taten. Wegen der anhaltenden Kämpfe zwischen Bashar al-Assads Truppen und der FSA im Grenzgebiet bei Akçakale explodierten dort auch nach dem tödlichen Beschuss mehrere Granaten. Der Gouverneur von Hatay wertete dies allerdings nicht als Angriff auf die Türkei, vielmehr habe es sich um Querschläger gehandelt. Die Bewohner des grenznahen Dorfes Güveççi in der Provinz Hatay, wo gleich mehrere Granaten im Ackerland einschlugen, wurden über die Lautsprecher der Moscheen dazu aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben und die Dächer und Balkone nicht zu betreten. Die türkische Armee postierte nun Panzer an der Grenze und feuert nach jedem Granateneinschlag zurück.

Von Provokationen oder Angriffen ist keine Rede mehr. Regierungsnahe türkische Medien beeilten sich zu behaupten, die syrische Armee habe von Präsident Assad die Anweisung erhalten, einen Sicherheitsabstand von zehn Kilometern zur türkischen Grenze zu halten. Das ist entweder komplett erfunden, oder die weiterhin auf türkischer Seite einschlagenden Granaten wurden nicht von der syrischen Armee abgefeuert. Der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Horst Teltschik, warnte die Nato vor einem schnellen Eingreifen. Der Konflikt sei außerordentlich gefährlich, weil die Lage so unübersichtlich sei, sagte der ehemalige Kanzlerberater im Deutschlandradio Kultur. Man wisse gar nicht, wer da schieße. »Es könnte ja auch sein, dass Gruppen der Opposition auf die Türkei zu schießen beginnen, um den Konfliktfall mit der Türkei und das Eingreifen der Türkei und damit der Nato zu erzwingen.« Das ist allerdings ebenfalls reine Spekulation.
Außenminister Davutoğlu erklärte im staatlichen TRT-Fernsehen auch recht ausführlich die Haltung der türkischen Regierung. Der syrische Präsident Bashar al-Assad müsse umgehend zurücktreten und alle seine Machtbefugnisse abgeben. An seine Stelle solle der Vizepräsident Farouk al-Sharaa als Leiter einer Übergangsregierung treten. Sharaa sei zwar bereits seit 20 Jahren mit dem Assad-Clan verbündet, habe sich aber nicht an den jüngsten Menschenrechtsverletzungen beteiligt.
Auch das ist eine Feststellung, über die man nur verwundert den Kopf schütteln kann. Wie ist es möglich, dass der Stellvertreter eines Diktators eine solch integere Person sein kann? Wird er so beurteilt, weil die FSA einen Verbündeten im bestehenden System braucht und es gar nicht um eine komplette Umwälzung geht? Die türkische Regierung favorisiert eine Vormacht der angeblich moderaten syrischen Muslimbrüder. Doch die kann fast niemand einschätzen, ebenso wenig wie den Einfluss von nichtsyrischen Kämpfern von al-Qaida in der FSA.
Der linke Akademiker Ahmet Insel warnte in der Tageszeitung Radikal vor dem »syrischen Sumpf«. Versinken könne in ihm auch die Türkei. Das Land sei viel zu sehr in den Konflikt involviert, als dass es Lösungen anbieten könne. Das sieht die türkische Regierung allerdings ganz anders, auch wenn nicht klar ist, welche Strategie sie verfolgt. Deutlicher treten hingegen Interessen hervor. Die parlamentarische Genehmigung, auch im Ausland Militäroperationen durchzuführen, hat die türkische Armee schon häufig bekommen. Bislang ging es immer darum, die kurdische PKK im Nord­irak zu jagen. Die Vorbereitungen für einen weiteren Angriff laufen schon. Angesichts der Krise fast unbemerkt hat das türkische Militär einige Bergregionen an der Grenze zum Irak bereits zu Sperrgebiet erklärt. Der Fokus kann sich aber auch jederzeit wieder ändern, denn der jüngste Konflikt hat bestätigt, dass die türkische Politik kaum berechenbar ist.