Findet »Johann Holtrop«, den neuen Roman von Rainald Goetz, hervorragend

Folie fürs Kommunikationstheater

Alle sagen, »Johann Holtrop«, der neue Roman von Rainald Goetz, sei mäßig. Dabei ist er großartig.

16./17. August 1797
Goethe schreibt an Schiller aus Frankfurt. Er macht bei seiner schwierigen Suche nach symbolischen Gegenständen in der Großstadt den Fund eines Grundstücks, auf dem sich früher das Anwesen seines Großvaters, später ein Marktplatz befunden hatte.
»Die Anstalt ging (…) bei dem Bombardement zugrunde und ist jetzt, größtenteils als Schutthaufen, noch immer das Doppelte dessen wert, was vor elf Jahren (…) an die Meinigen bezahlt worden: Insofern sich nur denken lässt, dass das Ganze wieder von einem neuen Unternehmer gekauft und hergestellt werde, so sehen Sie leicht, dass es, in mehr als einem Sinne, als Symbol vieler tausend andern Fälle, in dieser gewerbreichen Stadt, besonders vor meinem Anschauen, dastehen muss.«
Der im Brief geschilderte Gegenstand entsprach aber nicht Goethes eigenem, aus der Kritik an der Allegorie entwickeltem Symbolbegriff. Während die Allegorie demzufolge abstrakte Ideen arbiträr verkörpert und so das Sinnliche im Sinn vernichtet, fallen im Symbol Idee und Anschauung zusammen (Herkules bedeutet nicht Kraft, er ist ihr sinnfälliger Ausdruck). Dem Schutthaufen aber sieht man seinen Tauschwert ebenso wenig an wie einer Mysterienspielfigur die von ihr aufgeführte Tugend. Erst Jahre später stellt sich Goethe dem Problem, das die immer abstrakter werdende Wirklichkeit der Warenwelt für eine um Bildimmanenz bemühte Poetik darstellt, und schafft aus ihm eine neue Form der Allegorie: Faust II (vgl. Heinz Schlaffer: Faust II. Die Allegorie des 19 Jahrhunderts, J. B. Metzler, Stuttgart 1989).
5. August, 2007
Rainhald Goetz notiert in seinem Internet-Tagebuch »Klage«:
»So hat der Autor, der sich um das traditionelle Erzählen bemüht, gar keine lebendige eigene Sprache zur Verfügung. Nicht, weil er sie selber nicht hat, sondern weil es sie wirklich gar nicht gibt. Es gibt keine nichtmuffige, nichtzuckrige, nichtbanale Sprache für einen heutigen Roman nach Art der großen Romane von früher.«
8. September 2012
Rainald Goetz veröffentlicht mit »Johann Hol­trop« einen traditionell erzählten Roman (im Folgenden »Roman«) über die kaputte Wirtschaftswelt der Nuller. Bereits bevor man zu lesen beginnt, stehen zwei Konflikte fest: der erste zwischen Roman und Wirtschaft, der zweite zwischen Goetz und Roman. Der erste ist eigentlich wieder das Goetheproblem. Hedgefonds, Finanzblasen und Leerverkäufe sind unsichtbar und stumm, schwer zu malen, kaum zu besingen, und auch ein guter Regisseur wie Chistian Petzold hat es nicht geschafft, Private Equity gewinnbringend zu verfilmen (»Yella«). Die Menschen, die die Wirtschaft gestalten, kann man natürlich zeigen. Zeigt man sie aber, ohne zu zeigen, was sie machen, zeigt man dann nicht einfach irgendwelche Menschen?
Dass zweitens Goetz und der Roman ein schräges Paar bilden, ist auch klar. Goetz war immer Fan von Fakten (Nachricht, Tagebuch, Soziologie, teilnehmende Partybeobachtung etc.) – oder auch: keine Fakten, dafür Schall und Wahn, direkter Durchgriff aufs Numinose (im radikalromantischen Sinn auch wieder Fakten). Das Zwischenreich der Fiktion, die Sein und Nichts im schönen Schein vermittelt, war ihm im großen Ganzen wurscht, wenn nicht suspekt. Der Begeisterung fürs gut Gedachte (niemand sonst schrieb je so zärtlich über Theorie) stand stets der Verdacht des Ausgedachten gegenüber. Im vor kurzem an der Berliner Humboldt-Universität geführten Gespräch mit Diedrich Diederichsen sprach er von seinen Schwierigkeiten mit Fernsehserien, da sie den Geist auf »anstrengende Art bannen und ansaugen« und sagte, dass die »Soap der Wirklichkeit« doch »tausend Mal interessanter« sei. Diese platonischer Kunstverbannung nicht ganz unverwandte Kritik trifft kollateral auch den Roman.
Beide Konflikte eskaliert Goetz gleich auf der ersten Seite seines Buches aufs Spektakulärste. Alles beginnt mit einer halbsatzlangen, barsch beendeten Parodie altväterlichen Atems. Dann folgt ein Stück Schauplatzmalerei.
»Als die Winter noch lang und schneereich und die Sommer heiß und trocken waren –
Da stand der schwarzgläserne Büromonolith sinnlos riesig in der Nacht, am Ortsrand von Krölpa, Krölpa an der Unstrut, dahinter die Wälder, die Krölpa nördlich zur Warthe hin abgrenzen, da leuchtete einsam böse und rot das glutrote Firmenlogo von Arrow PC oben am Dach über dem düsteren Riesen, aus schwarzem Stahl und schwarzem Glas gemacht, die rote Schrift darüber.«
Der Erzähler ist sauer. Zum einen auf das Gebäude als Symbol des Schreckens, zum anderen auf die Insuffizienz des Gebäudes als Symbol. Um den ersten Umstand auszudrücken und dem zweiten zu begegnen, setzt er die Schilderung mit den Wörtern »sinnlos«, »böse« und dem psychomäßig wiederholten »rot« unter Spannung, bis sie schließlich in die Luft fliegt:
»Da stand der schwarzgläserne Büromonolith sinnlos riesig in der Nacht, am Ortsrand von Krölpa, Krölpa an der Unstrut, dahinter die Wälder, die Krölpa nördlich zur Warthe hin abgrenzen, da leuchtete einsam böse und rot das glutrote Firmenlogo von Arrow PC oben am Dach über dem düsteren Riesen, aus schwarzem Stahl und schwarzem Glas gemacht, die rote Schrift darüber, ein Neubau so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und verblödet kozeptioniert, wie die Macher, die hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so waren, gesteuert von Gier (…) das war die Basis der abstrakten Geldmaschine, die hier residierte: das Phantasma der totalen Herrschaft des KAPITALS über den Menschen. So falsch, so lächerlich, so blind gedacht, so infantil größenwahnsinnig wie, wie, wie –
Mitternacht schlug eine Uhr von fern, eine Stunde später schlug es eins (…).«
Die Freude beim Lesen dieser Stelle korrespondiert jener beim Schauen des Videos von der Vertretersitzung bei Suhrkamp, wo Goetz sagt: »Jetzt also in 10 Minuten und in drei Teilen meine Vorstellung. Erstens der Inhalt, zweitens die Schreibweise, drittens die Aussage.« Das ist so erfrischend, dass ein Autor in die ganze Post­her­meneutik und Bedeutungsverschiebungsverknalltheit rein einfach mal vermeldet: »Aussage«, und diese Aussage dann auch noch auf Seite eins tatsächlich rausbrüllt.
Der erzähltechnische Tabubruch und die Sprachgewaltbereitschaft des Buchs haben die ganze Härte des Pressestaats auf den Plan gerufen. »Überflüssig« war die netteste aller humorlosen Feuilletonreaktionen auf die krawallige Kommentarspur, mit der Goetz die sichtbare Weltschutthalde auf das unsichtbare Kapital bezieht.
Auch Ärger gab es wegen der blassen Figurenzeichnung. Volker Weidermann führt sie in der FAS auf die Kälte des Autors zurück. Ich glaube, es ist eher andersrum. Goetz ist zu sensibel, um es in solchen Hirnen wie etwa dem eines Topmanagers lange genug auszuhalten für eine ordentliche Introspektive. Er hat nicht die Nerven, die Figuren angemessen abgestumpft denken zu lassen. Deshalb sind ihre Gedanken entweder geheim oder zu fein (Holtrop selbst ist gar heimlicher Schriftsteller) – oder gleich ganz abwesend wie bei Tieren: »Es gab etwas zu essen und zu trinken, das merkte Wenningrode daran, das er mit seinem Mund das Essen kaute, es schmeckte nach Essen.« Das ist natürlich lustig. Demontiert werden die Figuren aber meist nicht direkt vom Erzähler, sondern durch wechselseitige Fremdcharakterisierung, gemäß der psychologischen Grundannahme des Buches, dass in der Welt der Wirtschaft jeder jeden anderen verachtet und letztlich auch sich selbst. Diese These – die ich so wenig glaube wie die, dass böse Menschen keine Lieder haben – verleiht dem Personal eine gewisse Würde von Reflexion und Nihilismus, der jeder Aspekt gruppennarzisstischer Herrenmenschenharmonie fehlt. Sie schmeichelt ihm also gewissermaßen durch Eindimensionalität. Aus dieser aber und einer dazu noch maximal unausgetüftelten Handlung um den Aufstieg, Fall und Tod des titelgebenden Vorstandsvorsitzen ergibt sich die Frage: Wozu braucht Goetz überhaupt den Roman? Er braucht ihn als Folie für Kommunikationstheater. Wechselwirkungen von Verstellungen, Manipulationsstrategien, Unsicherheiten; Hierarchiechoreographie und Fetischmagie auf Partys, Konferenzen, Kunstevents: All dies ist im Buch wunderschön und detailversessen beschrieben. Die unterkomplexen Charaktere werden zu Bausteinen einer hochkomplexen situativen Psychologie, einer Typologie von Gesprächsakten.
Als Besipiel hier eine Szene, wo der alte Firmenpatriarch Assperg und seine Frau Kate (inspiriert von Rainer und Liz Mohn) auf einem hohen Empfang dem triumphalen Einmarsch Gerhard Schröders beiwohnen:
»Weil der alte Assperg aus eigener Erfahrung die Wirkung dieses mächtigen Mannes auf die Frauen kannte, sah er auch, wie stark gebannt von Schröders schwungvoll ausgelebtem Charme seine eigene Frau (…) reagierte, dass sie tatsächlich davon im Innersten geschockt war auf das Genüsslichste. Ohne seine Blicke von der Szene abzuwenden, neigte er seinen Kopf etwas nach hinten, in Richtung des seitlich hinter ihm stehenden Riethuys, und machte über die (…) Szene eine offenbar stark bosshafte Bemerkung von männerkumpanenhafter Niedrigkeit, dann drehte er sich zu Riethuys um, um festzustellen, wie Riethuys die eindeutig unzulässig distanzlose Anzüglichkeit der Bemerkung aufgenommen hatte, neigte sich dabei von ihm weg und registrierte voll Verachtung, dass Riethhuys, so erpresst, unfroh meckernd auf theaterhafte Weise lachte.«
Solch brillante Studien gibt es im Buch massenweise, und die gute Nachricht für die Lesereise ist: Die sie enthaltenden Stellen funktionieren allesamt ohne Kenntnis des Zusammenhangs. Wollte man davon ausgehend dem Autor einen Rat geben, wovor ich mich natürlich hüte, wäre es der, nach einer Form zu suchen, die ihm zwar einen Park fiktionaler Figuren bereitstellt, ihn aber von der Pflicht ihrer Entwicklung entlang einer längeren Zeitachse entbindet.

P.S. zur Berichterstattung: Kritik, wem Kritik gebührt, vor allem wenn er sie sich, wie Goetz, offiziell wünscht. Aber wenn
1. alle möglichen Rezensenten mit der pressetypischen Versessenheit auf Städtethemen beieinander abschreiben, Goetz sei eine Art Chronist von »Berlin Mitte«, und wenn
2. Andreas Platthaus als modernes Gegenbeispiel zum seiner Meinung nach veraltet schreibenden Goetz den tranig soliden Schreibschulklassenbesten Ulrich Pelzer anführt und
3. als absoluter Knaller Iris Radisch über den gegenwartshysterischsten Dichter der Literaturgeschichte schreibt: »Nach dem einen großen Jugendroman ›Irre‹ erreichten uns aus der Berliner Schmollecke der Hochbegabten nur noch seine genialischen, gegenwartsverachtenden Kommentare«, dann möchte man all diese Meinungsmacher schon mal ganz unrhetorisch, aber um so inständiger fragen: Wissen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?

Rainald Goetz: Johann Holtrop. Suhrkamp, Berlin 2012, 343 Seiten, 19,95 Euro