Die Ankunft der Flüchtlingskarawane in Berlin

Marsch ohne Manager

Nach 28 Tagen Fußmarsch von Würzburg aus ist die Flüchtlingskarawane am Wochenende in Berlin angekommen. Die Asylsuchenden wollen gegen die Residenzpflicht und andere rassistische Schikanen demonstrieren und zunächst am Oranienplatz in Kreuzberg ausharren.

Auf den letzten Kilometern des Protestmarsches herrscht eine noch ausgelassenere und fröhlichere Stimmung als sonst. Kein Wunder: Nach 28 Tagen und 600 Kilometern ist das Ziel fast erreicht. »Endlich in Berlin!« freut sich auch Ali Reza Mirzai, während der Zug die U-Bahn-Station Kottbusser Tor passiert. Rund 20 Kilometer sind er und die anderen 50 Demonstranten jeden Tag gelaufen, auf dem Weg von Würzburg nach Berlin.
»Das ist auf die Dauer schon sehr anstrengend«, gibt er zu, während hinter ihm eine Trommelgruppe die letzte Etappe begleitet. Zumal es mit der Wanderung selbst nicht getan war: Hinzu kamen Demonstrationen und Protestaktionen in größeren Orten sowie der Besuch abgelegener Asylbewerberheime auf dem Weg, um bei anderen Flüchtlingen Werbung für den Protest zu machen. Trotz der Strapazen lässt der 19jährige Firoz Safi, der fast ein Jahr im fränkischen Aub im Flüchtlingsheim verbracht hat, jedoch keine Missverständnisse aufkommen: »Aber egal. Ein Monat laufen: Beine schmerzen. Im Heim sitzen: Kopfschmerzen.«
Spätestens als der Zug mit über 100 Menschen das neue Camp auf dem Oranienplatz in Kreuzberg erreicht, kennt die Euphorie keine Grenzen mehr. Bekannte und Freunde vom Berliner Camp stürmen dem Marsch entgegen, Umarmungen werden ausgetauscht, Schultern geklopft. Auf einer Parkbank veranstalten die eben Angekommenen spontan eine Art gutgelaunter Pressekonferenz. Abwechselnd lässt man die internationale und die antinationale Solidarität hochleben, schwenkt rote Fahnen mit dem Emblem des Marsches, die Parole »No border, no nation, no deportation« darf auch nicht fehlen.
Es war tatsächlich eine »Latschdemo«, mit der es selbst Mahatma Gandhis Salzmarsch nicht aufnehmen kann, denn der dauerte nur 24 Tage und ging über 385 Kilometer. Die Aktion diente dabei zwei Zwecken. Die Flüchtlinge demonstrierten gegen ihre miserablen Lebensbedingungen und nahmen sich das, was ihnen in den vergangenen Monaten und Jahren vor allem fehlte: Bewegungsfreiheit. »Wir wollen nicht unser Recht ändern, sondern wir wollen unser Recht schaffen. Wir wollen unser Leben selbst gestalten«, wird auf der Parkbank unter stürmischem Beifall proklamiert. Das Ende der Residenzpflicht, das Ende des Lagersystems und ein Stopp der Abschiebungen sind die wichtigsten Forderungen der Flüchtlinge.
Das blau-weiße Zelt, in dem die Asylsuchenden auf ihrem Marsch oft übernachtet haben, ist jetzt auf dem Oranienplatz nur noch eines unter fast einem Dutzend großer Zelte. Manche sind mit Holzpaletten und Matratzen ausgelegt, andere dienen als Lager oder Volksküche, eines als eine Art Sofaecke. Auch einen Toilettenwagen gibt es. In den nächsten Tagen und bis zur großen Demonstration tags darauf werden weitere Flüchtlinge aus dem ganzen Bundesgebiet erwartet, um sich dem Protest anzuschließen. »Wir haben Schlafmöglichkeiten für bis zu 200 Flüchtlinge hier. Wenn es mehr werden sollten, können wir noch 70 am Heinrichplatz unterbringen«, sagt Hatef Soltani, der schon im Februar nach dem Suizid von Mohammad Rahsepar in Würzburg demonstrierte und seit Anfang August das Berliner Camp mitorganisiert. Acht Wochen lang können die Demonstranten mit dem Einverständnis des Kreuzberger Bezirksamtes rechnen. So lange seien sie nach einer Absprache zwischen Bürgermeister Franz Schulz (Die Grünen) und dem Fachbereich Grünflächen auf dem Oranienplatz geduldet, berichtet Karl-Heinz Bergt vom Kreisvorstand der Grünen.
Der erste Tag am Oranienplatz ist bereits ein Erfolg. Mehrere Hundert Menschen kommen am Samstag, um sich zu informieren, um an dem langen Tisch gegen eine Spende zu essen oder um am Abend Konzerte im Veranstaltungszelt zu hören. Nach Angaben der Helfer am Infostand gehen ständig Geld- und Sachspenden ein, außerdem würden von Wohnprojekten in der Nachbarschaft viele Dusch- und Wohnmöglichkeiten an­geboten.

Marsch durch die Provinz
Wenige Tage zuvor sind die Flüchtlinge noch in der sachsen-anhaltinischen Provinz unterwegs gewesen. In Wittenberg, vor dem Turm der Kirche, an deren Tür Luther seine Thesen geschlagen haben soll, breiten die Flüchtlinge Transparente aus: »Break Isolation«, »Kein Mensch ist illegal«, »Für die Schließung der Isolationslager in Thüringen« und »Ein menschenwürdiges Leben für alle« steht darauf.
Vor diesen Plakaten halten einige aus der Gruppe nun eine Pressekonferenz ab. »Wir brauchen jetzt neue Regelungen, das ist unser Grundrecht«, fordert der aus Benin geflüchtete Wittenberger Aktivist Salomon Wantchoucou, »Schließung aller Lager, Ende der Residenzpflicht und Abschiebestopp.« Er wird sich an diesem Tag dem Marsch nach Berlin anschließen. Mit durchdringender Stimme stellt er klar: »Wir werden nicht zurück in die Lager gehen. Wir haben keine Angst vor niemandem. Wir Flüchtlinge sind stark.«
Am linken Rand der vielköpfigen Sprechergruppe steht auch Oumaroü Hamani vor den Presssevertretern. Der gebürtige Nigerer muss seit nunmehr zehn Jahren in einer Asylunterkunft im nahe Wittenberg gelegenen Bitterfeld wohnen. Für die Demonstration ist er mit dem Zug angereist. Er hat das gleiche Schicksal wie so viele andere Asylbewerber: Er darf nicht arbeiten, seinen Landkreis nicht verlassen, muss sich von Essenspaketen ernähren und mit wenig Bargeld auskommen.
Im vergangenen Jahr, erzählt er später, sei er wegen Verletzung der Residenzpflicht zu einer Geldstrafe von 800 Euro verurteilt worden. 35 Euro stottere er seitdem jeden Monat ab. Eine kleine Hoffnung ist für ihn der gegenwärtige Protest. Er könne sich dem Marsch zwar nicht sofort anschließen, wolle aber in einigen Tagen nach Berlin kommen.
An der anschließenden Demonstration in Wittenberg nehmen rund 100 weitere Personen teil. Zwar schließen sich auch einige interessierte Bürger an, insgesamt halten aber die meisten Passanten Abstand. Viele sind gerade auf dem Weg zum gut besuchten Töpfermarkt auf dem Marktplatz. Zwei Gäste an den Restauranttischen der »Alten Canzley« beobachten das Geschehen mit versteinerten Mienen. 150 Meter weiter hört man von den Biertischen einer Kneipe ein empörtes »Was die alles wollen!« und eine Passantin stößt ein entsetztes »Hilfe« aus, ohne sich auf Nachfrage weiter dazu zu äußern.
Am Abend treffen sich die Demonstranten im soziokulturellen Zentrum »Pferdestall«. Einige Flüchtlinge kommen von einem Ausflug zum Asylbewerberheim Möhlau zurück. Der 30jährige Hassan Osman Jeger, der fast ein Jahr in einem Nürnberger Flüchtlingsheim verbrachte, ist von den Zuständen dort bestürzt. »Alles kaputt bei denen, alles kaputt«, erzählt er. Er meint die Psyche zweier kurdischer Männer, die seit 15 Jahren diese Geisterstadt, eine ehemalige sowjetische Kaserne im Wald, bewohnen. Im Vergleich zu Möhlau sei die Würzburger Gemeinschaftsunterkunft paradiesisch, sagt ein iranischer Flüchtling sarkastisch. »Aber warum?« fragt Jeger fassungslos: »Alles kaputt! Sind wir keine Menschen?« Der Abend ist für ihn gelaufen.

Nicht im Urlaub
Am nächsten Tag marschiert die Gruppe ab zehn Uhr morgens, aufgereiht am Seitenstreifen, eine Landstraße entlang. Unter einem spätsommerlichen Himmel ohne Wölkchen passieren sie ­Alleen, Kieferwälder, die fast menschenleeren Dörfer Dobien, Nudersdorf und Straach, kommen an längst verlassenen Dorfdiskotheken vorbei und an NPD-Plakaten mit der Aufschrift »Heimreise statt Einreise«, die an vielen Laternenmasten hängen.
Beim Wandern scheint der deprimierende Anlass für den Protest einige Stunden lang in den Hintergrund zu rücken. Kein Plenum, keine Protestplanung steht an. Es wird gescherzt und gelacht. Ali Reza Mirzai benutzt einen kleinen Holzstock als Mikrophonsimulation und stellt die typischen Journalistenfragen: »Woher kommen Sie? Und wie lange sind Sie schon beim Marsch dabei?« Danach erzählt Mirzai über sich selbst. Seit der Marsch begonnen hat, habe er sich ein wenig erholt: »Es ist gut, mit der Gruppe zu laufen und neue Freunde zu finden.« Doch die mehr als zwei Jahre, die er vorher arbeitslos und residenzpflichtig in Schweinfurt verbringen musste, die psychischen Probleme, die Schikanen durch die Behörden, die Selbstmordgedanken, die er hatte, all das könne durch den Protestmarsch nicht wettgemacht werden.
Zwei Jahre lang hat der 22jährige, der aus dem Iran floh, in Schweinfurt versucht, Arbeit zu finden. 50 Bewerbungen hat er abgeschickt, Dutzende Vorstellungsgespräche geführt. Er wollte arbeiten, »als Küchenhilfe, irgendwas«. Oft hätte man ihn gerne eingestellt. Doch dann musste er manchmal fünf oder sechs Wochen warten, bis die Antwort vom Amt kam: »Die Agentur für Arbeit hat dieser Beschäftigung nicht zugestimmt«, stand dann in den Briefen. Denn eine Arbeitserlaubnis hat er nicht.
Mirzai sagt, dass er den gegenwärtigen Protest als vielleicht letzte Chance sieht: »Ich werde protestieren, bis die Gesetze sich ändern. Ich bin nicht im Urlaub hier.« Konkret heißt das: »Sie sollen die Residenzpflicht abschaffen und ich will arbeiten dürfen. So wie vorher will ich nicht mehr ­leben. Da wird man kaputt im Kopf.«
Die Gruppe ist nach fünf Stunden auf der Straße beinahe am Etappenziel, dem Dorf Klein Marzehns, angekommen. Ohne es zu bemerken, haben die Flüchtlinge die Landesgrenze nach Brandenburg überschritten. Doch kurz vor dem Dorf Groß Marzehns hält ein Polizeiauto, zwei Polizisten steigen aus. Sie weisen die Gruppe auf das Überschreiten der Grenze hin und wollen einen Verantwortlichen sprechen. »Sind Sie hier sozusagen der Manager des Ganzen?« fragt ein Beamter einen der Flüchtlinge. Im Chor antwortet die Gruppe, die um den Polizisten herum steht: »Gibt keinen!« »Wer hat denn das alles organisiert?« will er dann wissen. »Wir alle!« rufen die Umstehenden vergnügt. »Na, das ist ja ein Ding«, murmelt der Polizist ratlos, ehe er am Ende immerhin eine Kontakt-Telefonnummer erhält.

Protest in Eigenregie
Auch ohne Manager legte der Marsch die 600 Kilometer ohne größere Zwischenfälle und über­raschend pünktlich zurück. Unterstützer und Flüchtlinge hielten mindestens einmal pro Tag ein Plenum ab, in dem vom Kochen über den Zelt­aufbau bis zur nächtlichen Wache alle Aufgaben verteilt wurden. Und auch die Planung der Tour selbst, die innerhalb weniger Wochen gelang, lief weitgehend dezentral ab: Zunächst fuhren zwei Flüchtlinge die Strecke mit Fahrrädern ab, um eine geeignete Marschroute zu finden. Diese wurde dann in 20 bis 25 Kilometer große Abschnitte unterteilt und an Freunde, Unterstützer und Aktivisten weitergeleitet, die an Ort und Stelle Unterkünfte suchen sollten. In Wittenberg landete man im CVJM-Haus der Stadt, in Klein Marzehns stellte der örtliche Reit- und Fahrverein einen Sportplatz zur Verfügung.
Jetzt in Berlin kommen aber neue Herausforderungen auf die Flüchtlinge zu. Der Busprotest, der im Westen Deutschlands für die Aktion in Berlin mobilisierte, die Fußgruppe und das bereits bestehende Berliner Camp müssen ihre Vorstellungen miteinander abgleichen. Gelingt es, weiterhin mit einer Stimme zu sprechen? Kann der Druck auf Öffentlichkeit und Politik aufrechterhalten werden? Und kann der selbstorganisierte Protest die verschiedenen Vereinnahmungsversuche abwehren?
Letzteres hofft Mbolo Yufanyi von der Flüchtlingsorganisation The Voice, der sich schon seit 13 Jahren gegen die Residenzpflicht und andere rassistische Sondergesetze einsetzt. Bereits im Mai 2001 war er dabei, als seine Organisation bundesweit zu einer ähnlichen Veranstaltung wie der jetzigen aufrief: Flüchtlinge sollten offensiv die Residenzpflicht verletzen, nach Berlin kommen und an einer großen Demonstration gegen das Gesetz an der Straße Unter den Linden teilnehmen. Rund 3 000 Menschen liefen damals mit. Neben den Grünen und Pax Christi riefen 250 Gruppen zu dieser Demo auf, an die sich heute jedoch kaum ein Protestteilnehmer mehr erinnert.
Veteran Yufani, der am Sonntag das Protestcamp in Berlin besuchte, freut sich über den offenen zivilen Ungehorsam der Flüchtlinge. Dass der Protestmarsch, an dem seine Organisation The Voice nur als Unterstützer teilnimmt, ohne polizeiliche Störungen bis nach Berlin gekommen ist, sei »schon ein Erfolg für sich, ein erster starker Schritt«. Es zeige sich: »Wenn die Flüchtlinge gemeinsam handeln, passiert ihnen nichts. Wenn ein Gesetz wie die Residenzpflicht nicht respektiert wird, dann ist es nichtig.«
Die größte Stärke des gegenwärtigen Protestes, sagt Yufani, sei aber, dass er von den Flüchtlingen selbst ausgehe: »Die Flüchtlinge haben dieses Mal keine linken Gruppen gefragt, ob sie nach Berlin kommen dürfen, das ist ein positiver Punkt. Es ist dieses Mal offensichtlich mehr Selbst­organisation vorhanden als bei den vergangenen Protesten.«