Eric J. Hobsbawm und der Stalinismus

Der Extremdenker

Eric J. Hobsbawm und die Frage nach den Opfern des stalinistischen Terrors.

Der im Jahr der Oktoberrevolution geborene Historiker Eric J. Hobsbawm war, darin sind sich die Verfasser seiner Nachrufe weitgehend einig, ein großer Gelehrter. Er galt und gilt als parteilicher Verbündeter der »Sozialrebellen«, als scharfsinniger Kapitalismuskritiker und brillanter Stilist, als avancierter Jazzkenner und als Inspiration für viele Generationen von Marxisten in der ganzen Welt.
Aufmerksam begleitete er die internationale Arbeiterbewegung in den vergangenen Jahrzehnten als Publizist, Lehrer, Aktivist und Berater. Vor kurzem noch erschien die deutsche Fassung seiner zeitgenössischen Auseinandersetzung mit seinem großen Stammvater unter dem Titel »Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus«. Der Tenor des Buches lässt keinen Zweifel daran, dass sein Verfasser als lebenslanger Kommunist stets jeden geeigneten Zeitpunkt zum Widerruf verpasst hat. In den zahllosen Nachrufen, die nun international erschienen sind, überwiegt der Respekt vor einem Autor, der die historische Reflexion über das »kurze 20. Jahrhundert« vermutlich mehr geprägt hat als die anderen, noch lebenden Angehörigen seiner Zunft.
Wer jemals auch nur für einen flüchtigen Augenblick lang auf Demonstrationen oder in Parteiversammlungen das von dem Historiker Raphael Samuel beschriebene Universum des britischen Kommunismus erlebt hat, konnte selbst bei der Besichtigung seiner aus der Zeit gefallenen Ausläufer erahnen, welche Rolle ein Intellektueller wie Hobsbawm im Mutterland des Kapitalismus spielte. Klassenbewusstsein ist auf der Insel nicht etwa ein Thema, das an Soziologiekongresse delegiert wird. Linke Akademiker finden hier Gehör bei einer »bürgerlichen« Öffentlichkeit. Bis zuletzt war Hobsbawm ein Sinndeuter, zu dessen Wohnstätte in London nicht nur die Reporter der BBC regelmäßig pilgerten, um ein paar humorige Worte über Tony Blair einzuholen. Über diesen »Thatcher in Trousers« musste Hobsbawm kaum mehr sagen. Vergessen wird oftmals seine Rolle als führender Vertreter der »Eurokommunisten« und Vordenker der reformistischen Labour-Partei unter Neil Kinnock. Für dessen Erneuerungskurs im postindustriellen Großbritannien lieferte Hobsbawm seit den späten Siebzigern in Beiträgen für die kommunistische Zeitschrift Marxism Today jene Stichworte, die Kinnock bereits vor seiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Jahr 1983 dankbar aufgriff.
Den wenig originellen rechten Gegnern Hobsbawms in der Daily Mail oder dem Telegraph treibt sein Name noch posthum Schaum vor den Mund; aber auch in die von Bewunderung geprägten Nekrologe mischt sich ein distanzierter Tonfall. Hobsbawm habe, so schreibt Nils Minkmar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in einer BBC-Sendung aus dem Jahre 1992 »auf die Frage, ob denn die von ihm erkannten Menschheitsfortschritte durch die Sowjetunion diese Millionen Toten rechtfertigten, mit einem knappen ›Ja‹« geantwortet. Der Hinweis auf dieses spektakuläre Interview findet sich in der New York Times ebenso wie in der konservativen britischen Presse oder der radikallibertären Blogger-Szene.
Ein Wort, das das ganze Werk entwertet und ausgerechnet den Eurokommunisten Hobs­bawm zum Apologeten stalinistischer »Modernisierungen« macht? Zwar stimmt im Nachruf der FAZ die Datumsangabe nicht, denn das fragliche Interview mit Michael Ignatieff, der späteren Leitfigur der kanadischen Liberalen, wurde 1994 ausgestrahlt; in dem Jahr, in dem auch Hobsbawms Meisterwerk »Das Zeitalter der Ex­treme« erschien. Doch auch Minkmar weist in seinem respektvollen Beitrag darauf hin, dass sich zu »jeder Hobsbawmschen Position zahlreiche Gegenargumente im Hobsbawmschen Werk selbst finden« lassen.
Der vielfache Hinweis auf diese »legendäre BBC2-Sendung« (FAZ) wirft Fragen auf. Auch später sorgte Hobsbawm mit apologetischen Aussagen für Irritationen. Im März 1995 interviewte ihn die Moderatorin Sue Lawley in der Sendung »Desert Island Disc«. Hier konnte Hobsbawm von Bach bis Billie Holiday seine musikalischen Passionen vorstellen und seine Grundüberzeugungen darlegen. Gefragt, ob das hehre kommunistische Ziel die vielen Opfer rechtfertigt, antwortete Hobsbawm schlicht: »Das war auch unsere Auffassung, als wir im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben.«
Hobsbawms Äußerungen bleiben umstritten, zumal ein autorisiertes Skript des Gesprächs mit Ignatieff im Netz nicht existiert. Es zirkuliert lediglich eine Copy & Paste-Variante, die von der konservativen National Review auszugsweise gepostet wurde. Auf diese fragwürdige Quelle verweisen die Wortführer der Debatte. Als Erscheinungsort des Interviews wird mitunter auch das Times Literary Supplement angegeben. Aber auch unabhängig von der Frage nach der philologischen Zuverlässigkeit ist eindeutig, dass Hobsbawm auch in späteren Äußerungen angesichts der umfassenden Brutalität des 20. Jahrhunderts die Frage nach den Opfern des Fortschritts als rein akademische Gedankenspielerei auffasste. Dass die realen Verhältnisse das konkrete Individuum, dessen Befreiung abstrakt postuliert wurde, einfach überrollen und somit zur zufälligen Existenz degradieren, schien ihm universelles Signum seiner Zeit. Ihre Geschichte wird nach der Besichtigung der Schlachtfelder geschrieben.
Diese Haltung, die Hobsbawm noch Anfang 2012 in einem großen Radiofeature der BBC verteidigte, verwundert. Schließlich fand der Historiker im »Zeitalter der Extreme« eindeu­tige Worte. Über die »mörderische Absurdität« der stalinistischen Politik ist da zu lesen; über »Terror«, der so »unsäglich unmenschlich« gewesen sei, »dass er keinerlei konventionelle Grenzen mehr kannte«. Hobsbawms Fazit lautet: »Die Tragödie der Oktoberrevolution war, dass sie nur ihre Art erbarmungslosen, brutalen Kommandosozialismus hervorbringen konnte.«
Hobsbawms »Yes« war eine politische Provokation, die bewies, wie sehr der Chronist des »Zeitalters der Extreme« selbst dem von dieser Konstellation geprägten Denken verhaftet war. Wer diese ambivalente Haltung verstehen will, findet bei Karl Marx eine Erklärung. Marx formulierte im August 1853 in der New York Daily Review unter dem Titel »Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien« Aussagen, die vielleicht auch das Grundmotiv des »Zeitalters der Extreme« verständlich machen. »Erst wenn eine große soziale Revolution«, so Marx, »die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.«
»Interesting Times« ist der englische Originaltitel von Hobsbawms im Jahre 2002 erschienener Autobiographie. Eine Anspielung auf einen chinesischen Fluch: »Ich wünsche euch interessante Zeiten.« In jenen Zeiten, in denen Hobsbawm lebte und die er zugleich so anschaulich beschrieben hat, wurde auch in der internationalen Arbeiterbewegung jener »scheußliche heidnische Götze« der »nachholenden Modernisierung« angebetet, von dem auch der aufklärte Marxist Hobsbawm seinen Blick nicht abwenden konnte. Die neue Gesellschaft, so sein Urteil, entstehe nicht unter Laborbedingungen. Auch die Errichtung der Übergangsgesellschaft folgt nicht den Postulaten der deliberativen Diskursethik; sie wird unter grausamen Bedingungen gegen ihre Feinde erkämpft. Hobsbawms Werk schärft den Blick auf die nackte Realpolitik, die auch unter dem Banner der Emanzipation eine Machtpolitik ist. Wer sich in diesen gefährlichen Zeiten bewegt, hat sich gemäß der vorgegebenen Logik zu entscheiden – auch in der Retrospektive. Das politische Ziel der neuen Gesellschaft ist ohne die Mittel der Machtpolitik und die damit verbundenen moralischen Dilemmata nicht zu erreichen.
Nachträglich konnte der Historiker Hobs­bawm die Politik des eigenen Lagers scharf verurteilen. Als Zeitzeuge und Interviewpartner jedoch bewegte auch er sich in den Neunzigern noch in den Fronten des Kalten Kriegs und zog es vor, die öffentliche Kritik an den eigenen Reihen mit dem Verweis auf die Opferbilanz des Gegners zu beantworten. Er bevorzugte den polemischen Hinweis auf die blinden Flecke der »bürgerlichen« Ideologie und ihrer Geschichtsschreibung. Eine Geschichtsschreibung, die gerne übersieht, dass die »freie Welt« des Westens ihre Grundpfeiler auf Gewalt, Krieg, Bürgerkrieg, Ausbeutung und Hunger errichtet hat. Ihre intellektuellen Vorkämpfer gefallen sich dennoch darin, mit der moralisierenden Erhabenheit des Siegers über die unterlegenen Bataillone zu richten. Dies zu unterstützen, wäre für den Kommunisten Hobsbawm bis zum Schluss ein Verrat an der Sache – seiner Sache – des Roten Oktobers gewesen.
Hobsbawms Werk und Wirken sind von diesen Ambivalenzen geprägt. Erst aber wenn die Einlösung des kategorischen Imperativs von Marx, demzufolge »alle Verhältnisse umzuwerfen« seien, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächt­liches Wesen ist«, nicht mehr mit einem Votum für die diesen Imperativ außer Kraft setzenden Zwangsmittel der Machtpolitik verbunden ist, erst dann ist auch das »Zeitalter der Ex­treme« überwunden.