Die israelische Regierung erinnert an die Vertreibung der Juden aus arabischen Ländern

Flucht aus Arabien

Mit der Aufklärungskampagne »I am a refugee« will die israelische Regierung auf die Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern unmittelbar nach Gründung des Staates Israel aufmerksam machen.

Es ist ein Kapitel in der jüdischen Verfolgungsgeschichte, das selbst in Israel vergessen ist. Um das zu ändern, hat das israelische Außenministerium gemeinsam mit dem World Jewish Congress eine Kampagne initiiert, die die Aufmerksamkeit auf die mehr als 850 000 Juden lenken soll, die unmittelbar nach Gründung des Staates Israel aus den arabischen Ländern vertrieben wurden. Geplant ist die Einführung eines nationalen »Tags der Anerkennung« für jüdische Flüchtlinge aus arabischen Ländern sowie der Bau eines Museums, das die Vertreibung dieser Menschen sowie ihr kulturelles Erbe dokumentieren soll.
November 1945. Nur wenige Monate nachdem der deutsche Massenmord an den europäischen Juden beendet worden war, wurden im jüdischen Viertel der libyschen Stadt Tripolis unter den Augen der britischen Besatzungsmacht antisemitische Pogrome verübt. Synagogen wurden zerstört, Häuser, in denen Juden lebten, angezündet, Juden wurden angegriffen und ermordet.
Wenn der in Jerusalem lebende libysche Jude Nissim Barda berichtet, was er als Jugendlicher erlebt hat, merkt man, dass ihn die damaligen Ereignisse auch fast 70 Jahre später noch nicht losgelassen haben. Mit leiser Stimme beschreibt der heute 80jährige, wie er nach den Pogromen in sein Viertel zurückkehrte. Dort fand er sein Haus niedergebrannt und in den rauchenden Trümmern bot sich ihm ein Bild des Schreckens: »Ich ging in das Zimmer und fand dort Kinder auf einem Haufen; sechs, sieben, acht kleine Kinder, Babys. Das gesamte Haus war ein einziger Trümmerhaufen, vollkommen niedergebrannt.« Und dann fügt er hinzu: »Der Geruch eines verbrannten Menschen ist etwas Fürchterliches.«
Es waren diese grauenvollen Erlebnisse, die Nissim Barda und seine Familie dazu veranlassten, kurz darauf aus Libyen zu fliehen und in Israel Zuflucht zu suchen. Sie waren damit nicht alleine. Viele Juden aus dem Nahen Osten erlebten Ähnliches. Dennoch sind ihre Erfahrungen von der Geschichtsschreibung kaum wahrgenommen worden.
Die sephardischen Juden waren seit Jahrhunderten als sogenannte Dhimmis lediglich Bürger zweiter Klasse, offene Gewalt gegen sie war aber bis dahin eine Ausnahme gewesen. In den frühen vierziger Jahren änderte sich das, aus Diskriminierung wurden antisemitischer Hass und Gewalt. Der Einfluss des deutschen Nationalsozialismus spielte hierbei eine nicht unerhebliche Rolle. In Palästina arbeitete der Großmufti von Jerusalem eng mit den Nationalsozialisten zusammen, und in Bagdad unterstützte das Deutsche Reich den Putschisten Raschid al-Gailani. Dieser war Anfang Juni 1941 verantwortlich für das berüchtigte Farhud-Massaker, bei dem mindestens 175 Juden ermordet wurden. In Libyen führte die deutsche Besatzung von 1941 zu Deportationen von Tausenden libyschen Juden und zur Verstärkung antisemitischer Propaganda in den arabischen Ländern. Dieser ideologische Einfluss machte sich aber erst nach dem Krieg bemerkbar. Ausschreitungen gegen Juden fanden in allen Ländern des Nahen Ostens statt.
Das Datum der Pogrome, der 2. November 1945, war mit Bedacht gewählt. Es war der Jahrestag der Balfour-Erklärung, in der 1917 den Juden eine nationale Heimstätte in Palästina versprochen worden war. Für Nissim Bardas Familie hatte der Zionismus nie eine Rolle gespielt, wie wohl für die meisten Juden im Nahen Osten nicht, dennoch wurden sie Opfer der Gewalt. Die Bardas überlebten nur, weil sie nicht als Juden erkannt wurden und rechtzeitig das jüdische Viertel von Tripolis verlassen konnten. Doch das Ausmaß der koordinierten Ausschreitungen führte innerhalb der jüdischen Gemeinden der Region zu der Erkenntnis, dass an eine Zukunft in den mehrheitlich muslimischen Ländern nicht mehr zu denken war.
War bis zu diesem Zeitpunkt der Antisemitismus der Grund für die Gewalt gegen Juden gewesen, kam nun der Antizionismus hinzu. Die arabischen Herrscher betrachteten einen jüdischen Staat als Fremdkörper im arabisch-mus­limischen Raum. So kam es nach dem Beschluss des UN-Teilungsplans für Palästina am 29. November 1947 zu erneuten Übergriffen. Diese nahmen im Zuge des arabisch-israelischen Krieges von 1948 noch einmal zu. Keine jüdische Gemeinde blieb verschont: In Ägypten, Bahrain, Irak, Jemen, Libanon, Libyen, Sudan, Syrien, Tunesien und selbst in den französischen Kolonien Algerien und Marokko wurden Juden vom aufgeputschten Mob gelyncht und die jüdischen Viertel verwüstet.
Allerdings existierte mit Israel jetzt eine Zufluchtsstätte für die verfolgten Juden. Und so markierten die letzten Pogrome auch das Ende der jahrtausendealten Geschichte des Judentums in den arabischen Ländern des Nahen Osten. Unmittelbar nach der Ausrufung Israels flohen die Juden aus diesen Ländern in den jüdischen Staat. So auch die Familie von Nissim Barda. Er erinnert sich, dass die Familie nichts mitnehmen durfte. Ihr Bankkonto war eingefroren worden, ihr Haus wurde ihnen genommen. Zynischerweise, so Barda weiter, habe der libysche Staat die offizielle Ausreise der Juden verboten. Trotzdem gelang es ihm und seiner Familie, verkleidet als Araber, zunächst nach Tunesien zu fliehen, um von dort aus mit dem Schiff nach Israel zu gelangen.
Die Geschichte der Familie ist kein Einzelfall. Vor 1948 lebten ungefähr 900 000 Juden in den arabischen Ländern des Nahen Ostens, heute sind es knapp 6 000. Im Jemen, in Algerien, Libyen und im Sudan gibt es heute keine jüdischen Gemeinden mehr. Selbst im Iran, wo sich noch die einzig nennenswerte jüdische Gemeinde der Region befindet, leben von den einstmals ungefähr 120 000 Juden gerade einmal noch 8 700.
Der erzwungene Exodus hat die sogenannte Weltgemeinschaft nie wirklich interessiert. Es gibt Hunderte Beschlüsse der UN zu den arabischen Flüchtlingen aus Palästina, doch keinen einzigen zu den jüdischen Flüchtlingen. Auch in Israel wurde das Leid der Flüchtlinge über Jahrzehnte hinweg nicht angesprochen. Es gab keine Programme, die die Integration der Flüchtlinge erleichtert hätten. Nissim Barda berichtet, dass er, wie viele Flüchtlinge, zunächst in einem Zeltlager, ohne Strom und fließendes Wasser, in der sengenden Hitze leben musste. Es waren erbärmliche Verhältnisse, hinzu kam die Diskriminierung, die die Flüchtlinge im Alltag aufgrund ihrer Herkunft erlebten. Die Mehrheit der zionistischen Pioniere waren europäische Aschkenasim, die sich den orientalischen Sephardim kulturell oft überlegen fühlten. Der Kriegszustand, in dem sich Israel befand, erlaubte es nicht, dass man sich um den Leidensweg der Flüchtlinge kümmerte. Erst nach dem Wahlsieg von Menachem Begin im Jahr 1977 änderte sich das. Begin hatte sich in seinem Wahlkampf gezielt an die Juden aus dem Nahen Osten gerichtet und so 70 Prozent der sephardischen Wähler für sich gewinnen können. Doch trotz all der Probleme hört man von Nissim Barda keine Kritik an Israel. Er ist froh, in einem jüdischen Staat zu leben, und stolz erzählt er, dass seine Enkel in der israelischen Armee dienen.
Im heutigen Israel machen die Nachkommen dieser Flüchtlinge beinahe die Hälfte der Bevölkerung aus. Dementsprechend hat sich auch der Umgang mit ihren historischen Erfahrungen gewandelt. Nun hat sich die israelische Regierung entschlossen, das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge zu thematisieren. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der gegenwärtige israelische Vize-Außenminister Danny Ayalon selbst der Nachkomme eines aus Algerien geflohenen Juden ist. Ayalon hat im vergangenen Jahr die Kampagne »I am a refugee« initiiert und im September dieses Jahres eine Konferenz am Sitz der Vereinten Nationen in New York dazu organisiert. Der als internetaffin geltende Minister setzt vor allem auf die sozialen Medien Facebook und Youtube, um auf die vergessenen Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Seine Initiative stößt bei den Flüchtlingen aber nicht nur auf Zustimmung. Eine Vereinigung Bagdader Juden teilte Ende September mit, dass ihr Schicksal nicht für politische Ziele und Friedensverhandlungen missbraucht werden solle. Hintergrund der Kritik: Nach einem 2010 verabschiedeten Gesetz ist jede Regierung bei Friedensverhandlungen mit den Palästinensern verpflichtet, auch über die Entschädigung jüdischer Flüchtlinge zu verhandeln.
Nissim Barda findet es hingegen gut, dass über diesen Teil der Geschichte geredet wird: »Es kann keinen Frieden geben, wenn wir nicht ehrlich darüber sprechen, was geschehen ist.« Seine schrecklichen Erinnerungen an den November 1945 kann ihm die Initiative von Danny Ayalon nicht nehmen, aber sie trägt zumindest dazu bei, dass sein Leid und das der 850 000 anderen jüdischen Flüchtlinge nicht in Vergessenheit geraten.