»Schon wird eine Sanktion verhängt«

Die Arbeitsagenturen und Jobcenter haben einen Rekord aufgestellt: Im Februar haben sie 93 931 Sanktionen gegen ALG-II-Empfänger verhängt, so viele in einem Monat wie noch nie zuvor. Im ersten Halbjahr 2012 sprachen sie insgesamt 520 792 Strafen aus, bei einer ähnlich hohen Zahl im zweiten könnte erstmals die Marke von über einer Million Strafen im Jahr überschritten werden. Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum Deutschland spricht über das Hartz-IV-Strafwesen.

Warum verhängen die Jobcenter Sanktionen?
Das Sanktionssystem ist so angelegt: Jemandem wird auferlegt, zehn Bewerbungen im Monat zu schreiben. Er kann nur neun vorweisen. Ohne nach Gründen zu fragen, setzt es Sanktionen. Diese werden rücksichtslos und stur nach Vorgaben verhängt. Würde das Prinzip analog im Strafrecht angewendet, müsste man zu Recht von einem Unrechtsstaat sprechen. Denn die Tatsache, dass jemand sanktioniert wird, sagt nichts darüber aus, ob das gerechtfertigt ist. Häufig heben Sozialgerichte die Sanktionen deshalb auch wieder auf. Wer Steuern hinterzieht, wird erst bestraft, wenn ihm die Tat nachgewiesen wurde und ein Gericht über seinen individuellen Fall geurteilt hat. Bei ALG-II-Empfängern gibt es das nicht.
Wie sehen die Strafen aus?
Zehn Prozent Abzug der Leistungen bei einem Meldeverstoß, bei Regelverstößen, etwa bei einem Verstoß gegen die Eingliederungsvereinbarung, 30 Prozent Abzug. Und das addiert sich. Ab dem dritten Regelverstoß werden die Leistungen vollständig eingestellt. Bei Menschen bis 25 Jahren werden die Leistungen schon beim ersten Regelverstoß gestrichen, beim zweiten auch noch die Mietzahlungen. Junge Menschen werden also besonders drastisch bestraft.
Wie erklären Sie sich den Anstieg der Zahl an Sanktionen?
In der Vergangenheit waren die Vorgaben der Bundesagentur für Arbeit nicht ganz so rigoros. Inzwischen wird mächtig Druck auf die Sachbearbeiter ausgeübt, alle Verstöße zu sanktionieren. Und zum anderen machen die Jobcenter viele Fehler. In dem Behördenwahnsinn funktionieren manche Sachen nicht: Eine Krankmeldung erreicht nicht den Sachbearbeiter und schon wird eine Sanktion verhängt. Angesichts dessen müsste so schnell wie möglich ein Sanktionsmoratorium in Kraft treten.
Halten Sie ein solches Moratorium für durchsetzbar?
Die Linkspartei würde es unterstützen, Teile der Grünen könnten damit leben. Aber um ehrlich zu sein: Angesichts der derzeitigen Politik sehe ich keine Chancen.