Abdruck aus: »Einsam lehnen am Bekannten«

Aspirin im Schatten

Felicia Zeller erzählt von durchlässigen Frauen, sprechenden Laubhaufen und kreativen Kulturpiloten.

Welt ohne Kabel

Seit ich denken kann, arbeitet meine Freundin, mit der ich jetzt schon zusammen bin, seit ich denken kann, arbeitet meine Freundin, die mich des öfteren überredet, doch bitte an einem ihrer Experimente teilzunehmen, da sie von mir denkt, ich wäre ein sogenannter Durchlässiger SIE BENUTZEN DICH QUASI ALS TELEFON an ihrer Forschungsarbeit, in der sie Tonaufnahmen paranormaler Stimmen SIE WÄHLEN DEINEN KÖRPER STATT EINER NUMMER vergleicht. Ihre These ist, dass es sich dabei nicht nur um Stimmen aus dem Jenseits, Stimmen aus der Vergangenheit, sondern auch um Stimmen aus der Zukunft handeln könnte und dass, wenn man diesen Bereich HALLO, BIN ICH HIER RICHTIG HIER? seriös erforschen würde NEIN, SIE HABEN SICH LEIDER VERWÄHLT man wichtige Rückschlüsse auf unser gegenwärtiges Leben ziehen könne, mit anderen Worten: die Menschheit retten. Ein für viele hehr scheinendes Vorhaben. Für meine Freundin seit Jahren eine Selbstverständlichkeit.
Seit sie schwanger ist, hat sie sich noch intensiver in ihre Forschungen gestürzt, fast so, als könnte sie nach der Geburt nie wieder arbeiten. Vielleicht aber, denke ich, hofft sie, in irgendeiner Stimme die Stimme unseres noch ungeborenen Kindes zu hören. Es könnte doch mal durchrufen, ob es ihm gut geht, was es gerade in der Zukunft so macht ICH TELEFONIERE GERADE oder ob es behindert ist und wir doch lieber die pränatalen Untersuchungen durchführen sollten, die uns der Arzt empfiehlt, durch die wir eine Behinderung jedoch nicht verhindern, nur frühzeitig erkennen, jedoch nicht richtig erkennen, höchstens zumindest vermuten können. Also wenn es behindert ist, dann kann es aufgrund eventuell schwerer Fehlbildungen des Kopfes vielleicht auch einfach gar nicht sprechen und auch nicht telefonieren, sage ich, da fängt sie an zu weinen. Einerseits, sage ich, willst du wissen, was in Zukunft los ist, andererseits willst du es aber überhaupt nicht wissen. Was willst du eigentlich?! Wenn ich das wüsste, sagt sie und weint. Kinder auf die Welt setzen, in der täglich 35 000 Hektar Wald vernichtet werden, sage ich, ganz der stolze Vater. Wenn wir auch noch nicht viel über unseren Nachkömmling wissen, außer dass er sieben Millimeter groß und acht Wochen alt ist, so wissen wir doch, dass er überleben will, wie auch immer, denn sein Herz schlägt in rasend schnellem Tempo.
Meine Freundin, die auch von sich vermutet, sie könne eine Durchlässige sein, und wenn sie träume, würden ihre Träume wie Filme auf einer alten Videokassette von anderen mit der Absicht überspielt, Botschaften zu übertragen, träumte, sie trüge einen Außerirdischen aus. Es war, ich weiß gar nicht, wie es war, auf einmal lag ein grünliches Wesen in ihrem Arm, es wandte sich ihr zu und begrüßte sie, erst förmlich (betonte, wie sehr es sich auf eine gemeinsame Zusammenarbeit freue), dann jedoch verlor es seine Scheu, zwickte sie in die ICH DARF DOCH? Brustwarze und begann nicht nur hemmungslos zu trinken, sondern ebenso unablässig zu reden. Unvergessliche Tage habe er im Mutterkuchen verlebt, schockierend sei der Moment seiner (wie der sprechende Säugling es nannte) »Abreise« gewesen, unzumutbar seine Ankunft, als er zu sich kommend auf der großen Hand eines ihm fremden Arztes mit einem heftigen Klaps zu sinnlosem Schreien WIRD DIESER ARZT MIR NOCH MAL WEH TUN? WERDET IHR (ICH DARF EUCH DOCH ELTERN NENNEN?) NETT ZU MIR SEIN? WARUM SPRICHT KEINES DER ANDEREN BABYS MIT MIR? Meine Freundin war hilflos (zumindest in ihrem Traum). Sie hielt das grünhäutige, intellektuell bereits voll entwickelte und (das einzige, was es von ihr geerbt haben hätte können) ununterbrochen sprechende Baby auf ihrem Arm, hätte sie es wegwerfen sollen? (Wohin?) Ach, wie gerne wäre sie als schlichter Hormon- und Glücksbollen mit einem zarten, seinerseits hilflosen, hautfarbenen Wurm lasch und euphorisiert im Bett herumgelegen! Aber nein: Bereits ab seinem ersten Lebenstag, von seinem ersten Lebensmoment an erörterte und hinterfragte dieser grüne Säugling alles und jeden, vor allem aber machte er sich (zu Recht) Sorgen um seine Zukunft WERDE ICH ETWAS ZU ESSEN BEKOMMEN, WANN?! WARUM BIN ICH EIGENTLICH GRÜN? Meine Freundin brachte es (zumindest in ihrem Traum) nicht übers Herz, das seltsame Baby zu reklamieren (sie wusste auch nicht genau, wo), es eventuell gegen ein schreiendes rosafarbenes auszutauschen oder gar (denn sie verbrachten noch einige Tage im Krankenhaus) normal operieren zu lassen. Man könnte seine grüne Haut (der Chefarzt persönlich erschien (ihr) an ihrem Bette) durch eine GUT, MAN GEBE ZU, MAN HABE BISHER NOCH KEINE GELEGENHEIT GEHABT, DIESEN EINGRIFF AUF SEINE WIRKSAMKEIT HIN ZU ÜBERPRÜFEN recht unkomplizierte Zellveränderung, durch die man das Grüne der Haut MAN SEHE SELTEN SÄUGLINGE VON SOLCH EXTREM ABWEICHENDER PIGMENTIERUNG in seinem weiteren Wachstum zurückdrängen, sein Gehirn durch einen weiteren, ebenfalls kleinen Eingriff rückentwickeln, allerdings bestehe die Gefahr bei einem solchen Eingriff, und hierfür benötige er ihre Einwilligung (das Baby stützte seine Ellbogen auf ihre Brust und schüttelte ablehnend eine Hand, eine widerliche Geste für einen gerade mal vier Tage alten Säugling, er protestiere) NEIN, DAS WERDE ICH NICHT UNTERSCHREIBEN, MEINE EINWILLIGUNG ZU DIESER OP WERDE ICH da nahm sie den Außerirdischen (so wie er war) mit nach Hause und nannte ihn (nach langer gemeinsamer Überlegung und Diskussion) schließlich Boris. EIGENTLICH WÜRDE ICH LIEBER DORIS HEISSEN! WARUM BIN ICH KEIN MÄDCHEN! Ruhe jetzt im Karton! WARUM MUSS ICH IN EINEM KARTON SCHLAFEN! WARUM MUSS ICH ÜBERHAUPT?! Und genau in diesem Moment, als Boris mit vorwurfsvollem Blick diese Frage aufwarf, erwachte meine Freundin, die, an ihrer Abhandlung »Über die Anpassung unterschiedlicher Zeitflüsse« arbeitend, eingeschlafen sein musste, große Müdigkeit überfiel sie in letzter Zeit mehrmals täglich an ihrem Computer sitzend oder auch draußen auf der Straße (neulich schlief sie ein, als ich mit ihr Kaffee trank in einem Café, das heißt, ich trank Kaffee, sie aß Fleisch und Kuchen, dann ein großes Stück Torte, in das ihr Kopf schließlich wegsackend hineinfiel), und so fand sie jetzt (erwachend) ihren Kopf auf der Tastatur und folgende Botschaft vor, die ihr Kopf auf die Tastatur fallend, sich dort im Kurzschlaf wälzend (inmitten ihres Textes) im geöffneten Schreibprogramm gebildet hatte:
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Sie druckte die Seite aus, las immer wieder laut:
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Modernes Orakel oder bloß blöder Der-Kopf-ist-mir-halt-auf-die-Tastatur-gefallen-wie-es-eben-vorkommt-dass-Köpfe-auf-Tastaturen-fallen-Zufall? Nicht einmal als origineller Namensvorschlag kam
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in Frage. Auch laut gesprochen (und sie sprach es immer wieder) erinnerte es sie an nichts, weder an Vergangenes noch an Zukünftiges. Einzeilig, dreiwortig, ohne jeden Vokal, paar Zahlen darunter, sie aß einen Pudding, starrte auf die schwarzen Zeichen, auf das Papier, da erkannte sie, es war eine Aktennummer. War es etwa die Aktennummer, mit der sie das geschwätzige grüne Baby hätte umtauschen können, hätte sie diese nur im Schlaf bereits gewusst?! Noch am selben Abend konnte sie die Buchstabenzahlenkombination
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in- und auswendig. Sie rief mich an WO BIST DU und erzählte mir von ihrem Traum, in dem ich nicht vorgekommen war, dabei bin ich immer für dich da, sagte ich, sicher wäre mir etwas eingefallen, beruhigte ich sie und warf meinen Kopf auf mein Laptop. Einfach den Kopf auf die Computertastatur werfen, dann die Zeichen DIESE AKTENNUMMER KANN FÜR SIE IN ZUKUNFT NOCH EINMAL VON ENORMER WICHTIGKEIT SEIN, LERNEN SIE SIE AUSWENDIG UND VERNICHTEN SIE DIESE VERTRAULICHE INFORMATION!
Um die unterschiedlichen Zeitflüsse einander anzugleichen, die in den Zeitflüssen enthaltenen Stimmen, die sich (auf den ersten Hör) oft gar nicht anhörten wie Stimmen (meist lauschten wir rauschigem Geknirspel, fiependem Rascheln, knattrigem Stapapeln), hatte meine Freundin in ihrem Arbeitszimmer einen riesigen Gerätepark installiert. Als ich eintrat, saß sie dort an ihrem Herzstück, ihrem (Haupt-)Computer, wie der letzte Überlebende einer verlassenen NASA-Bodenstation.
Die Texte der Zukunft, sagte sie, werden direkt im Gehirn (ins Gehirn) geschrieben, Papier oder Tastatur (oder Kopfabdruck auf Tastatur), vergiss es! Alles, was gedacht wird, wird automatisch aufgezeichnet und ist für die anderen (sofern freigestellt) automatisch lesbar und (sofern nicht kopiergeschützt) kopierbar. Sieht aus wie Gedankenübertragung, sagte sie, kommt aber erst später. Vorerst werden es intelligente Mikrocomputer sein, die etwas Ähnliches ermöglichen, die (gleich nach der Geburt) jedem menschlichen Körper eingebaut werden werden werden. Aber eines Tages, wenn der Lernprozess, der als langwieriger Dialog zwischen Gehirn und dort eingebautem Computer ununterbrochen stattfinden werden werden wird, abgeschlossen geschlossen sein werden wird, wird der Mensch endlich fähig sein, ohne (und sie zeigte mit einer genervten, aber auch stolzen Forschergeste auf die sie umgebenden Geräte) Geräte mit (an welchem Ort, in welcher Zeit auch immer lebenden) Menschenwesen und Wesenmenschen zu kommunizieren. Ob tot oder lebendig oder noch nicht lebendig. Sie legte die Hand auf ihren Bauch (das Ungeborene, eine schöne Geste, dachte ich), schon wieder Hunger, sagte sie, und wir schmierten erst mal gigantische Käsestullen.
Das Hineinschlüpfen der Geräte in die Körper, sagte ich, während ich umherstakte auf der Suche nach einer Sitzgelegenheit, es hat schon heute begonnen, in der U-Bahn. Und ich gab ihr (neben meinem schriftlichen Einverständnis, dass folgender Bericht aufgezeichnet und die seine Aufzeichnung eventuell begleitenden paranormalen Erscheinungen zu wissenschaftlichen Zwecken ausgewertet werden werden dürfen) folgende Geschichte zu Protokoll.

Monolog Eddi, Dauer 2 Minuten, direktes Protokoll:  … rief auf einmal laut eine Stimme DAS IST MIR DOCH EGAL bestimmt IST MIR DOCH EGAL (für wen?) EGAL (für mich?) ich drehe mich um und sehe: Es ist ein pralles blondes Mädchen, das neben mir sitzt und das, während sie mit unveränderter Stimme MACH DOCH, WAS DU WILLST weiterspricht, auf einmal furchtbar zu zittern anfängt, während sie weiterredet IST MIR SO WAS VON EGAL mit dieser lauten, kunstvoll verstellten IST MIR DOCH EGAL coolen, trotzigen Stimme in ihre Freisprechanlage, die (für mich) nahezu unsichtbar ist, nichts hält sie in der Hand, womöglich steckt ihr etwas im Ohr, ist ihr (noch) um den Kopf geklebt (ich bin zur Zeit immer zu erreichen, auch wenn ich gerade beide Hände in Gips), lügt freihändig in ihre Freisprechanlage hinüber zu einem uns unbekannten vermutlich Liebhaber MACH DOCH, WAS DU WILLST, IST MIR DOCH SO WAS VON TOTAL während sie lautlos weint, direkt neben mir die ganze Enttäuschung rauslässt. Verschont ihren (uns unbekannten) Liebha­ber mit ihren Emotionen, während wir uns hier (in der U-Bahn) die ganze Vormacherei, die Lüge, ihre ganze aufgeweichte Verzweiflung mit ansehen müssen. Das ist widerlich! Ich finde das widerlich. Ich, Eddi, finde das GERÄUSCH ja sind wir denn weniger sensibel, weniger anwesend als die (uns unbekannte) Person auf der anderen Seite der Leitung? Lebt denn dieses dicke Girl bereits mehr in der Luft als im konkreten Jetzthier und Raum?! Verdammt! Was ist das!

Ich war (erzählend) mit dem rechten Fuß in eine fiese Ansammlung diverser Kabel (eine Kabelfalle?) geraten und stürzte wie ein Kalb mit (von einem Lasso blitzschnell umfesselten) Vorderbeinen zu Boden. Dabei riss ich ein (oder mehrere) Kabel aus ihren Anschlüssen. WO WAR JETZT WELCHES KABEL, WIE WAR WELCHES WO UND WO WAR WELCHES WIE?! Meine Freundin antwortete nicht, ich hörte sie nicht DU IDIOT schreien, sie hatte die Augen geschlossen, schlief sie? SCHLÄFST DU? Blöde Frage, nie würde sie sonst so friedlich der Zerstörung ihrer Versuchsanlage beiwohnen! Rasch steckte ich die herausgerissenen Kabel zurück in VIELLEICHT EVENTUELL HIER, WIRD SCHON PASSEN Buchsen. Die Kabellosigkeit, dachte ich, wird das schönste, was die Zukunft uns bringen werden wird. Unser Körper als eigener Stromerzeuger, als Selbstversorger, der Mensch als Sender und Empfänger. Eine Welt ohne Kabel.
Neulich, setzte ich fort, dachte ich, ich hätte einen Tinnitus, der sich haargenau so anhörte wie mein DU KENNST DOCH DIESEN TON Handy, genau derselbe Klingelton, den ich ABER VIEL VIEL VIEL LEISER, VIEL ZU LEISE ständig gehört habe IRGENDWO KAUM HÖRBAR da klingelt doch mein Handy ICH KANN ES KAUM HÖREN das ist doch mein Handy, das ich da irgendwo in meiner Tasche oder wo ODER VIEL WEITER WEG? Hallo?
Meine Freundin erwachte aus ihrem Schlaf, der (wie sie im Nachhinein behauptete) gar kein Schlaf gewesen war, sondern konzentriertes Lauschen. Sie wollte eben frisch emporschnellen mit ihrem Kopf, doch der blieb ruckartig über der Tastatur hängen, denn auch sie war mit dem Kabel ihres Kopfhörers an den Computer gebunden. Eddi, rief sie, da sprang ich hinzu und biss die Nabelschnur, ich riss die Kabelschnur heraus, danke, sagte sie.
Wenn ich deine Stimme höre, höre ich gleichzeitig kurze Impulse (Knacklaute, Klopfen). Verschiedenartige Schaltgeräusche und Trägerrauschen. Mehrfacher Durchlauf begleitender (frequenzmodulierter) Tonsignale (Sägezahnfunktionen), sagte meine Freundin, während sie genau dies (vermutete ich) tippte. Womöglich handelt es sich um jenzeitliche Personen, die sich auf deinen Wellen zu uns reitend hörbar machen wollen!
Du bist ein Medium, sagte meine Freundin, sie biss in ihre Käsestulle. Besonders hier an dieser Stelle! Ich hörte mich sagen, lebt denn dieses dicke Girl bereits mehr in der Luft, es knackte, ja, es schien mehrfach zu klopfen, und ein dünnes Fiepen legte sich über meine VERDAMMT! WAS IST DAS! Stimme. Man hörte mich mit den Kabeln kämpfen, schläfst du, fragte ich, dann veränderte sich die Qualität der Aufnahme HÖRST DU DAS! mit einem Mal HÖRST DU DIESE STIMME! hörte ich diese Stimme! Sie kommt, rief meine Freundin, aus der Zukunft! Was sagt sie, rief ich aufgeregt. In der Dunkelheit, hörten wir abgehackt, doch hörbar, sind meine Augen Fernseher, bei Tage Kameras. Meine Ohren sind Telefone, die LANGANHALTENDES KNACKEN FOLGTE deinigen auch, auf ewig und unverständlich verbunden.

Wir (die hier unterzeichnenden Anwesenden) erlebten beim Hören der Töne unterschiedliche psychosomatische Empfindungen, die sich teilweise in den folgenden Tagen fortsetzten. Innere Wahrnehmungen von Tönen und bewegte, farbige Formen, schwingungsähnliche Körperzustände, Energien, die sich im Herzzentrum festsetzten, sowie fremdartige Intelligenzen, unter anderem ein Wesen, das – unabhängig subjektiv wahrgenommen – in dreieckiger Form erschien.

Sieben Monate später kam Doris zu uns auf die Welt. Sie war gesund und schrie, sie schrie sehr viel, dabei sah sie aus wie ein gewöhnliches Baby, vielleicht ein bisschen gelb, zumindest an den Kanten.

Gespräche mit Laubhaufen über die Lethargie

Die Stadt wird wohl wie immer außen ums Haus herumliegen/warum sollte man auf Biegen/und Brechen unten heraustreten, wo man doch genausogut?

Der Wald, sagt Fahrlehrer Uwe, ist an der Seite der Straße angebracht. Hinter der Leitplanke. Wir fahren also nicht direkt darauf zu.

Laubhaufen findet mich gedankenlos und schlicht zusammengefaltet auf der Couch. Er hat einige Flaschen mit dem Bier unten am Arm hängen. Aus dem Fernseher schälen sich lauter Einzelpersönlichkeiten heraus. Souverän gelingt Dieter Baumann der Ausstieg aus seiner Warmupwurstpelle, er findet am unteren Ende zwei Beine und schaut verklärt drein. Vor ihm taucht ein riesiger, lilafarbener Knödel auf.
Ich bringe nichts zustande, sehe aber trotzdem immer gut aus, sage ich zu Laubhaufen, der seinen Körper jetzt aufgeklappt hat wie einen Liegestuhl über dem Teppich, ehe er mit quietschenden Scharnieren zusammenbricht.
Warum sollte man sich ein Bein ausreißen, sagt Dieter Baumann jetzt für alle in den riesigen, vor ihm schwebenden lila Stoffknödel hinein, wenn man damit noch 5 000 Meter rennen kann!
Eine meiner Hände scheint sich in der Ferne würgend lange schon um einen solchen Flaschenhals gegriffen zu haben. Laubhaufen hustet. Ich hole sie zu mir. Wenn jetzt dingsbums, du weißt schon, sage ich zu Laubhaufen, is aber nicht, sagt Laubhaufen und wühlt wieder in seinen Erinnerungsbröckeln herum.
Und auch für Sie heißt es jetzt durchhalten! sagt Heribert Fass-Bendel, unser bärtiger Moderator in Sachen Sport, er hält seinen in einem hellbraunen Slip-Schuh verborgen angedeuteten Fuß über sein Fass-Bendel-Knie.

Kein Glitzer, nichts, sagt Laubhaufen später irgendwie müde, wenn man wenigstens eine Reise tun könnte, aber man hat ja gar nicht die Kraft, tritt man aus dem einen Haus, läuft man automatisch in ein anderes hinein.
Die Automatik ist ein Schlafwandler, sage ich, und weil ich nichts finde, was sich darauf reimt. Reimen ist gut, sagt Laubhaufen, es strengt nicht so an, das zweite Wort rutscht einfach so hinterher. Wir untermauern unsere These sofort:

müde machen/Sachen/

niedrige Sofarolltische von unten betrachten/die grauen Lamellen Deines Rollos, die Dich achten/

gemütsames Lehnen an Hydranten/Bowling Bowling mit Verwandten/

Ey, sage ich zu Laubhaufen, müde kann jeder mal sein, aber so richtig? So richtig immer schläfrig, total interesselos, schlapp, schlaff und irgendwie egal? Ist jeder, der total träge ist, auch immer fett, fragt Laubhaufen. Weiß nicht, sage ich, na, und wenn schon.
Man müsste, spinnt Laubhaufen den Gedanken fort, nichts sagen und dabei leicht aus dem Mund stinken. Wir fuhren fort, da wir nicht wussten, wohin:

Den Anziehsachen beim Liegen auf dem Stuhl zusehen/pinkeln, ohne aufzustehen/

Das Aug auf all den unbekannten Geräten im Raum hängen lassen, das Gewicht ihres Dastehens in das eigene irgendwie Nichts hineinsenken/STAND-BY denken/

Den Körper auslegen wie in Einzelteile zerfallen/ Hände wie Spüli, Füße wie Quallen/

Auch wenn man, fuhren wir fort, weggeht, den Körper auf der Chaiselongue liegen lassen, niemals die eigene Liege-, Sitz- oder Bückstellung antasten/das Berühren von Sofatroddeln oder Quasten/

Stück Apfel ohne zu kauen im Mund, ein wenig Geruch nachatmen, nie ein Telefon besessen haben, überhaupt nicht besessen sein und haben, »Telefon« gar nicht kennen, es auch nicht denken und sonst nicht, nicht denken. Das Atmen wie vergessen. Das Verlieren von allem anderen.
Laubhaufen gähnt. Er sagt: Die Bierdeckelmalerei. Stimmt, sage ich, haben wir vergessen, aber egal. Wir bleiben irgendwie liegen und wälzen uns noch ein bisschen auf dem Boden, bis es dunkel wird. Dann vertagen wir das Ganze auf den nächsten, wo meistens auch noch ein Tag angebracht ist.

Ich erzähle jetzt kurz noch, wie ich eine ruhige Kugel schob und wie toll es war.
Also: Ich schob eine ruhige Kugel. Sie war immer schön leis und plapperte nicht so viel dummes Zeug wie andere Kugeln. Die Jubelkugel muss die ganze Zeit frohlocken, während andere vor Schmerz laut aufbrüllen, wenn man sie mal über ein spitzes Steinchen rollt. Sie war echt okay. Diese ruhige Kugel schob ich den ganzen Tag. Ich lief mit ihr von Stuttgart nach Heilbronn und wieder retour, ja, und es war insgesamt ein sehr angenehmer Ausflug.

Bevor der Euro eingeführt wurde

Wenn man nicht sprechen will, kauft man seine Zigaretten beim Händler auf der linken Straßenseite, will man wissen, wie das Wetter gerade so ist, beim Händler auf der rechten Straßenseite, der eigentlich keinen Zigarettenhandel, sondern eine Wetterstation betreibt beziehungsweise einen Zigarettenhandel mit integrierter Wetterstation.
Heute regnet es, und ich kaufe auf der linken Straßenseite, wo mir der braungebrannte, runzlig hagere Händler die Packung stumm auf die Theke legt. Er sagt weder HALLO noch HALLI noch weist er mich darauf hin, dass ich nass bin, weil es regnet, weil: Er redet nicht. Seine Aufgabe ist es, braungebrannt, runzlig und hager hinter der Theke zu stehen, auf der ich mit meiner großen Brille das Rausgeld suche und auf die er, bevor der Euro eingeführt wurde, ein 50-Pfennig-Stück geklebt hat.
Bevor der Euro eingeführt wurde, muss dieser Mann ein Spaßvogel gewesen sein, vielleicht ist er es heute noch und geht nach Dienstschluss in seinen Keller, um dort 15 Minuten zu lachen. Jetzt steht er reglos hinter der Theke, über die ich mich mit meinen zwei vorgeschnallten Lupen bücke, während mein Wollfäustling immer wieder über das 50-Pfennig- Stück schabt, und beobachtet meine kleine, etwas behinderte Bewegung, in die ich gefallen bin, und die ich immer wieder zu wiederholen scheine. Mit meiner riesigen Brille über das Glas gebückt, mit meinem Wollfäustling an der Attrappe schabend.
Oft sehe ich ihn vor mir, wie er auf Mallorca am Strand liegt, umringt von elastischen Senioren, auf die er 50-Pfennig-Stücke geklebt hat und auf denen seine Blicke ruhen und schweigen. So wie jetzt hier/auf mir/auf meiner Hand, die wieder und wieder über die Theke schabt, bis ich das 50-Pfennig-Stück 50 Pfennig sein lasse. Die Reparatur des Wollhandschuhs wird teuer genug. Außerdem haben wir jetzt eh Euro.
Auf der Straße werden Gegenstände an Perlonschnüren außer Reichweite gezogen. Immer wieder kniet man vor einem sich entfernenden Geldbeutel. Alles ist flach, die Welt ein großer Teller, eventuell ein schöner großer Teller, eventuell mit schönen großen Blumen, aber bückt man sich in eine dieser Blumen hinein oder greift nach den eventuell schönen großen Stengeln, die da eventuell schön und groß heraus­zuwachsen scheinen, schon werden sie fortgezogen. Alles an Schnüren. Die Busse auch. Der Schuber ist aus Karton, damit er nicht aus Plastik ist. SIND WIR DENN HIER IN FADEN-FADEN?! Eine Flasche Bier entfernt sich von meiner Hand. Irgendwas oder -wer zieht rüber gen Süden. Ich bleibe, wo ich bin, und lege mich hin. Die dunkle Jahreszeit ist nicht die Zeit, zu der wir aktiv und munter sind. Solidarität mit der Schlafforschung. Nahtlos schließt sich ein Tag an den andern. Es ist und bleibt dunkel. Kameraden werden zu Vorgesetzten. Zwölfjährige tragen heute wieder Mützen, in einem Alter, in dem man früher keine Mützen getragen hat. Sie tragen Mützen und baggern alles an: Hunde Katzen Mäuse, alles, was eben aussieht wie Frau. Sie benutzen dazu für sie neue, für uns alltägliche Worte wie FOTZE KACKE und/oder GEIL. Auch Kombinationen wie GEILE FOTZE GEILE KACKE oder GEIL GEIL lösen in ihnen eine geheimnisvolle Freude aus. Die Gruppe kichert und drückt sich zur Seite weg. Ah, da noch eine Maus! GEILE FOTZE. Große Freude. Ich wünschte, auch ich könnte mit so wenigen Worten eine so große Freude entwickeln. Im Wald machen die Rehe Kapriolen. Ich trete zu einem Fünfjährigen und sage GEILE KACKE. Er freut sich. WILLST DU FICKEN sagt er, ich weiß nicht so recht, zu spät, aus dem kleinen Menschen zischelt es einige Worte, die ich hier nicht wiederholen will, dann drückt sich etwas in großer Freude in den Hauseingang zurück. Aus dem Kinderhort ertönen Schreie. SERAFIN, KRYSTALLIN, JANICKA, OTTOKAR, STELLA, IBIZA, SAMOA! ESSEN! Ich habe auch Hunger und weiß, Kinder können nichts dafür. Es sind ja nicht die Kinder, es sind die Namen, die ihnen von den Eltern gegeben worden sind, und die Eltern, die ihnen gegeben worden sind, und die Eltern, die ihnen diese Namen gegeben haben, und natürlich die Namen selbst UND an oberster Stelle die Erzieherin, die diese Namen mit ihrer Erzieherinnenstimme auch noch ruft: IBIZA, SAMOA, PUMUCKL! ESSEN! Ich habe auch Hunger, aber niemand ruft. WENN IHR NICHT REINKOMMT, DANN DÜRFT IHR NACHHER NICHT, JADEN GIL, KOMMST DU JETZT SOFORT! Erziehung Verdauung Ernährung. Meine Kinder werden ASPIRIN heißen. ASPIRIN und/oder PARACETAMOL. Ab in die Küche! Es sind kleine Kinderköche oder Kochkinder. Sie nehmen nicht viel Platz weg und können gut kochen. Manchmal tanzen sie mir was vor. Das ist schön synchron. Wenn sie müde sind, setzen sie sich still in die Ecken und träumen ein bisschen mit großen immeroffenen Augen, aus denen die Tränen still und groß rauslaufen. PARACETAMOL springt über eine Wiese. ASPIRIN sitzt irgendwo im Schatten. PARACETAMOL greift sich ein Bier aus dem Kasten. ASPIRIN holt nochmal Zigaretten. Alles gut. Man trinkt den Kasten aus, dann schwimmt man ein bisschen im See. An den Einsprungstellen, die klein und rund sind, wird das Wasser ein wenig weiß und sprudelt.

Der Künstler in den Augen des Wirtschaftsministeriums

In den verrammelten Laden im Erdgeschoss, der schon seit Jahren leersteht, sei endlich einer eingezogen, ein Künstler, behauptet der Nachbar, ein arbeitsloser Schreiner. Er werde ihm beim Renovieren helfen. Der heruntergekommene Laden solle Kunstatelier und Galerieraum werden. Mein Freund, der Maler ist, zuckt, als er diese Wortkombination hört, zusammen, und das nicht, weil Arbeits- und Verkaufsraum in einem »Galerieatelier« bzw. einer » Ateliergalerie« zusammenfallen, was zu einer reinen Verkaufsmalerei, andererseits aber auch zu einem Malereiverkauf führen kann, nein, mein Freund, der Maler ist, weil er malt und malen kann, zuckt ein wenig zusammen, weil er bereits eine kleine Staffelei durch das wieder offene Schaufenster erspäht hat, auf der eine ebenso kleine und, wie mein Freund behauptet, schrecklich dilettantische, völlig indiskutable Malerei steht, mit der er nichts zu tun haben will.
Der schlaksige Schreiner aber, den ich sonst oft so deprimiert und untätig durch die Gegend schlurfen sehe, Jutebeutel hin- und hertragend, freut sich. Er freut sich, weil er gebraucht wird, denn er schreinert gern, am liebsten in alternativen Zusammenhängen, und er freut sich, weil er das gut findet, dass Kunst und Kultur in unserem Hause Einzug halten. Er findet, dass Künstler interessante Menschen sind, die ein besonderes, ein alternatives Leben führen, im Gegensatz zum kapitalistischen Modell, aus dem er selbst mehr oder weniger freiwillig ausgestiegen ist. Das Bundeswirtschaftsministerium jedoch zeichnet ein anderes Bild vom Künstler. Es ist Herausgeber einer Broschüre (1), die ich neulich im Rahmen meiner Recherchen aus ­einem Broschürenständer zog, als ich im Rahmen meiner Recherchen Zeit in der Cafeteria des Ministeriums verbummelte, in der Putzfrauen und Mitarbeiterinnen des Ministeriums an kleinen Tischchen saßen und sich in der Geborgenheit ihrer Festanstellung so ruhig und gelassen miteinander unterhielten, wie ich es als in Neukölln Wohnende kaum mehr kenne.
Ja, das ganze Gebäude, in dessen Zimmern Menschen konzentriert über Akten brüteten, erschien mir als Oase der Ruhe und Kontemplation, ja, dachte ich, Deutschland ist reich, deshalb kann es sich solche Gebäude wie dieses Ministerium, solche zufrieden abgesicherten, zufrieden kaffeetrinkenden Arbeitnehmerinnen leisten, wie ich sie zumindest in diesem Moment in der Cafeteria sitzend selber in der Cafeteria sitzend sah, vor deren Fenster ein Jüngling inmitten grüner Hecken herumstand und rauchte. Auf dem Cover der Broschüre, die sich an Selbständige der Kultur- und Kreativwirtschaft wendet (also auch an Künstler, also auch an mich) und die zwar vom Ministerium heraus­gegeben, aber eindeutig von einer künstlerisch kreativen PR-Klitsche erstellt worden ist, die genauso künstlerisch kreativ ist, wie sich das Ministerium künstlerische Kreativität bzw. kreative Kunst vorstellt, bilden zwei identische Köpfe (copy paste) gebaut im Stile Arcimboldos aus unzähligen bunten computerfrisierten Kärtchen eine Oberfläche vorgefertigter Möglichkeiten. Bitte wählen Sie aus.
»Kultur und Kreativität brauchen Umsatz und Gewinn« heißt der erste Beitrag, der zweite (2) beginnt mit einer Aufzählung sinnloser Parolen, eine vollendete Power-Point-Präsentation beginnt: »Der Kultur- und Kreativwirtschaft als eigenständigem Wirtschaftsfeld ein Gesicht geben. Ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken. Sie als Wachstumsbranche etablieren.« Selbstverständlich bietet die Initiative ein »Kompetenzzentrum«, das »neue Trends, die sich in den Szenen vor Ort entwickeln, aufgreift«. »Vernetzung« als Überlebensstrategie darf ebenso nicht fehlen wie die »Informationsdrehscheibe«, ein weiteres Internetportal, das niemand braucht, außer die Macher der Broschüre, die die Macher des Internetportals sein werden, Macher, die irgendwo zwischen »Designwirtschaft« und »Werbemarkt« arbeiten und die für die Gelder des Ministeriums etwas vorzeigen müssen, was man vorzeigen kann, am liebsten weiterlaufende Posten wie Internetportal und Wettbewerbsausschreibung, an der sich »Kultur- und Kreativpiloten Deutschlands« beteiligen können, »die mit einer besonderen kreativen oder kulturellen Idee unternehmerisch tätig werden möchten. Konzipiert, geplant und durchgeführt wird der Wettbewerb durch das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes und das u-Institut für unternehmerisches Denken und Handeln.«
u-Institut. Schöner hätte ich es mir selbst nicht ausdenken können. Schmerzhaft nur, dass diese Broschüre nicht erfunden ist, sondern hier eben in echt vor mir liegt, gedruckt auf Papier aus verantwortungsvollen Quellen, bedruckt mit Text, der wie Satire klingt, aber keine ist. Warum nur wird dieser Sprache, der Sprache der PR-Klitschen, in unserer Gesellschaft, insbesondere in der Politik so viel Raum gegeben? Diese Sprache, die einen so seltsam versteckten Sarkasmus in sich trägt und die Welt mit aufgeblähten Handlungsvorschlägen zumeiert, in denen sie Aktivität vortäuscht:
»Checkliste: Konzeptvorbereitung für Künstler und Medienschaffende. Gründungsidee: Habe ich meine Idee schwarz auf weiß formuliert? Standort: Weiß ich, ob ich zu Hause, im Atelier, im Büro, in einem Übungsraum, im Theater/Filmstudio arbeite?«
Wer den Leitfaden studiert und alle Punkte beachtet, dürfte in Zukunft mit seiner kleinen (Kunst-)Firma zufriedenstellend und reibungslos Kunst produzieren, verkaufen und, wenn die Gewinne dann steigen, Steuern abgeben, deren Namen er jetzt kennt (»Diese Steuerarten sollten Sie kennen«) und für die er »rechtzeitig etwas auf die hohe Kante gelegt hat, um Zahlungsengpässe zu vermeiden«.
Ein unternehmerisch professionalisierter Künstler entsteht, dessen neoliberales Selbständigengewurstel auch dem Normalo als Lebensmodell dienen soll. Nicht aber meinem Nachbarn, dem Schreiner, der für den Neuankömmling Balken und Boden schleift. Gestern Abend wäre man schon sehr nett beieinander gesessen, er besorge irgendwo Holz und baue noch eine kleine Theke ein.
Als ich an diesem Tag von einem wichtigen Gang nach Hause komme, empfängt mich ein bisher unbekannter Typ mit halblangem Haar, der auf dem Gehweg vor dem Laden ein kleines Tischchen aufgebaut hat, (der Künstler!) mit: »Gläschen Wein?« Ich lehne ab und eile ins Haus. Von meinem Balkon aus beobachte ich, wie ­einige Nachbarn dort stehen bleiben, unter anderem der Schreiner, aber auch Leute, die ich gar nicht kenne, und auch solche, die ich noch nie gesehen habe und die jetzt mit dem langhaarigen Mann anstoßen. Geplauder, wie ich es seit langem nicht mehr in unserem Haus gehört habe, steigt empor.
Wochenlang noch arbeitet der Schreiner im Laden. In der Nacht sitzen er und seine Freundin, die bald Freundin des so interessanten Freundes des Künstlers wird, beisammen und trinken Wein. Bei der Eröffnungsfeier der Galerie, in der kein einziges Bild hängt, in dem Atelier, in dem wir auch in den kommenden Monaten nie jemanden werden malen sehen werden, lernen sich die Hausbewohner, die schon seit Jahren im selben Haus wohnen, ohne sich zu kennen, kennen.
Mindestens einmal täglich kreuzt der junge Mann den Hof und klopft an das Fenster im Erdgeschoss gegenüber. Ein alter Mann zieht die Vorhänge beiseite und öffnet das Fenster, und dann sehe ich, wie sie sich unterhalten, als redeten sie über etwas, über das sie immer wieder gerne redeten. An ihren Mundbewegungen erkenne ich, wenn sie lachen.
Als der Künstler auszieht, irgendein Projekt auf dem Land aufziehen, zieht auch die ehemalige Freundin des Schreiners aus. Den arbeits­losen Schreiner, dessen Haare ergraut sind, sehe ich kaum noch seine Jutetaschen die Straße entlangtragen.
Der Laden steht immer noch leer. Ich habe schon überlegt, dort ein Schreibbüro zu eröffnen, checke momentan noch die Checkliste.

(1) »Alles, nur kein Unternehmer? – Tipps für Gründerinnen, Gründer und Selbständige in der Kultur- und Kreativwirtschaft«
(2) »Die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung«

Felicia Zeller ist 1970 in Stuttgart geboren, lebt in Berlin-Neukölln und schreibt hauptsächlich Theaterstücke. Der Band »Einsam lehnen am Bekannten« enthält neben bereits früher veröffentlichten Erzählungen neue Kurzprosa der Autorin.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Felicia Zeller: Einsam lehnen am Bekannten. Kurze Prosa. Lilienfeld-Verlag, Düsseldorf 2012, 214 Seiten, 12,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.