Alon-Lee Green im Gespräch über die Zukunft der sozialen Bewegung

»Diese Wahlen sind eine Chance«

Was ist aus den sozialen Protesten und den Zeltlagern in Tel Aviv geworden? Ist in Israel eine antikapitalistische Front gegen die Politik der konservativen Regierung möglich? Und wie gehen die linken Parteien mit diesem neuen politischen Potential um? Alon-Lee Green, Aktivist und Mitglied des linken Bündnisses Hadash, über die Zukunft der sozialen Bewegung in Israel.

Die vorgezogenen Neuwahlen werden allgemein als taktisches Manöver von Ministerpräsident Netanyahu interpretiert. Haben diese Wahlen politisch wirklich überhaupt keine Bedeutung?
Es gibt zwei Aspekte. Auf der realpolitischen Ebene haben wir es klar mit einem taktischen Schritt des Ministerpräsidenten zu tun. Ihm geht es bekanntlich darum, sich eine neue Mehrheit für die Verabschiedung des Haushalts zu sichern, eines Gesetzes, welches viele unsoziale Maßnahmen enthält. Es sieht Privatisierungen und umfassende Kürzungen in nahezu jedem Bereich des Sozialsystems vor. Den Kommunen werden die Mittel gekürzt und gleichzeitig wird Geld in den Siedlungen sowie im Sicherheitsbereich investiert. Netan­yahu weiß, dass er sich nach der Verabschiedung solcher Maßnahmen keine Wahl leisten kann. Deshalb lässt er davor wählen. Ähnliches gilt für den Militärschlag gegen den Iran, um den es seit Monaten geht. Netanyahu und seine Regierung wissen, dass die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung gegen diesen Schritt ist. Falls es dazu kommen sollte, so die Logik, dann erst, nachdem er wiedergewählt wurde. Dennoch kann diese Wahl für die Linke und die progressiven politischen Kräfte in Israel als Chance angesehen werden, den politischen Diskurs in eine neue Richtung zu lenken, was übrigens mit den sozialen Protesten im vergangenen Jahr bereits begonnen hat.
Welche Kräfte oder Parteien meinen Sie damit?
Unsere Seite des politischen Spektrums besteht aus vier oder, wenn man die Mitte-Links-Partei Kadima dazuzählt, fünf Parteien. Wir von Hadash sagen, dass diese Wahlen eine Chance sein können, eine radikale Politik für einen politischen und sozialen Wandel voranzutreiben. Wir als politische Parteien können und sollten mit den Teilen der Gesellschaft zusammenarbeiten, die den Wunsch teilen, das herrschende politische und ökonomische System zu verändern, und ­radikale Forderungen artikulieren. Allerdings sind Meretz und Hadash die einzigen Parteien im israelischen Parlament, die deutlich gesagt haben, dass sie nach den Wahlen nicht mit Netanyhau koalieren werden.
Haben die sozialen Proteste im vergangenen Jahren den politischen und sozialen Wandel ausgelöst, von dem Sie sprechen?
Die Proteste haben die israelische Gesellschaft wachgerüttelt und viele Menschen für soziale Themen sensibilisiert. Es war das erste Mal in der Geschichte Israels, dass sich ein großer Teil der israelischen Gesellschaft, mit all ihren Konflikten und Widersprüchen, an einer sozialen Bewegung beteiligt hat, die nicht primär von linken oder Mitte-Links-Parteien initiiert worden war. Es war ein historisches Ereignis, auch, weil zum ersten Mal Juden und Araber gemeinsam auf die Straßen gegangen sind, mit antikapitalistischen Forderungen jenseits des israelisch-palästinensischen Konflikts und der Frage nach dem Existenzrecht Israels. Die Wirtschaftskrise, die Niedriglohnpolitik bei gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten und explodierenden Mieten sind Fragen, die immer mehr Menschen in der israelischen Gesellschaft betreffen. Insofern würde ich sagen, dass die sozialen Proteste eher ein Symptom als der Auslöser des sozialen Wandels waren. Dieser Wandel findet bereits statt. Die soziale Bewegung des vergangenen Jahres hat versucht, bestimmte politische Forderungen zu artikulieren.
Das Zeltlager auf dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv ist abgebaut worden. Wo findet sozialer Widerstand in Israel derzeit statt?
Es gibt zwar einige Gruppen und Organisationen, die versuchen, den Protest auf der Straße aufrechtzuerhalten. Doch die öffentlichen, spektakulären Aktionen sind seltener geworden. Die Leute sind nach dem Sommer zu ihrem alltäglichen Leben zurückgekehrt. Für immer mehr Menschen in Israel sind die Verhältnisse im Alltag schwierig geworden. Der Widerstand wird zwar nicht mehr spektakulär ausgetragen, aber es gibt Beispiele dafür, dass es in Israel immer mehr Menschen gibt, die diese Verhältnisse nicht mehr hinnehmen. Ich rede von ganz konkreten Arbeitskämpfen, wie dem der Arbeiterinnen und Arbeiter der Glasfabrik Phoenicia, die geschlossen werden soll und die die Beschäftigten ohne Abfindung nach Hause schickt, oder dem der Redakteurinnen und Redakteuren der bankrotten Zeitung Maariv. Wir als Partei versuchen, diese Kämpfe zu unterstützen, Hadash hat etwa einen Gesetzentwurf verfasst, der finanzielle Hilfe für die Beschäftigten von Unternehmen vorsieht, die vor der Schließung stehen. Konkret geht es um einen öffentlichen Fonds, der es den Beschäftigten ermöglichen würde, die Firma für eine Übergangszeit von einem Jahr zu übernehmen. Nach dieser Zeit kann die Firma entweder weiter von den Beschäftigten betrieben, verkauft oder aber auch geschlossen werden, wenn sie keine Profite mehr erzielt.
Was 2011 als ein Protest gegen hohe Lebenshaltungskosten und rasant steigende Mieten begonnen hatte, hat sich im vergangenen Jahr zu einer Bewegung für »soziale Gerechtigkeit« entwickelt. Was bedeutet das konkret in Israel?
Um diese Entwicklung zu verstehen, ist es wichtig zu berücksichtigen, was nach den Protesten vom Sommer 2011 passiert ist. Der Winter 2011 war für viele linke und progressive Israelis eine große Ernüchterung. Die Regierung verabschiedete harte neoliberale Maßnahmen, um die Krise zu bewältigen, der Sozialstaat wurde noch weiter demontiert; durch Netanyahus Politik ist ein Frieden mit den Palästinensern in weite Ferne gerückt, und hinzu kam die Kriegsrhetorik mit dem drohenden Schlag gegen den Iran. Diese Ernüchterung hat zu einem Umdenken geführt, dahingehend dass die Forderung nach einem sozialen Wandel nicht von den Forderungen nach Gleichheit und Frieden getrennt werden können. Das klingt sehr abstrakt und allgemein. Für die israelische Gesellschaft geht es aber um sehr konkrete Politik. Wir können nicht von sozialer Gerechtigkeit reden, ohne die Politik einer Regierung zu kritisieren, die Geld in die Siedlungen und in die Vorbereitungen eines Militärschlags investiert. Was also den Aktivistinnen und Aktivisten vom Sommer 2011 klar wurde, ist, dass soziale Gerechtigkeit nicht nur mit bezahlbaren Wohnungen zu tun hat, sondern mit einem breiten Wandel in der Gesellschaft und im politischen System.
Die Bilder des großen Zeltlagers in Tel Aviv ließen im Ausland den Eindruck entstehen, dass die sozialen Proteste von einer homogenen Bewegung getragen werden. Das stimmt vielleicht für bestimmte Fragen. Aber in der Bewegung gab es auch Konflikte, vor allem hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit die Siedlungspolitik thematisiert werden sollte. Was ist Ihre Position dazu?
Ich bin zwar der Meinung, dass die israelische Linke ihre Kritik an der Regierung nicht ausschließlich auf die Siedlungspolitik beschränken sollte, Fakt ist aber: Wenn man in Israel über soziale Gerechtigkeit diskutiert, kann man auch nicht davon schweigen. Wenn wir eine Umverteilung des nationalen Budgets fordern, damit bezahlbare Wohnungen subventioniert oder öffentliche Bildung und Gesundheit garantiert werden, und sehen, dass die Regierung noch mehr in die Siedlungen investiert, muss das kritisiert werden, und zwar nicht aus ideologischen Gründen, sondern auf einer ganz konkreten Ebene, ohne dass man gleich als »Feind Israels« abgestempelt wird. Wenn man die Siedlungspolitik in Hinblick auf ihre Kosten nicht thematisiert, kann man nicht ernsthaft über die israelische Wirtschaft reden. Das ist ein großes Problem in der israelischen Politik. Die Arbeitspartei zum Beispiel schweigt über die Siedlungen, offenbar aus taktischen Gründen, denn sie fürchtet, eine kritische Haltung in dieser Frage könnte ihr Wählerstimmen kosten.
Würden Sie sagen, dass die Siedlungspolitik und allgemein der Konflikt mit den Palästinensern die soziale Bewegung in Israel spalten?
Bevor man von Spaltung redet, muss man etwas Einheit haben. Das, also einheitlich, ist die israe­lische Bewegung nicht. Ich würde eher von einem sozialen Raum anstatt von einer Bewegung sprechen, in dem die Grenzen zwischen Gruppen und Organisationen eher fließend sind. Die großen Aktionen vom vergangenen Sommer haben zwar nach außen den Eindruck vermittelt, es gebe in Israel eine homogene Bewegung. Die Situation ist aber etwas komplexer. Die Debatte über die Siedlungspolitik findet statt, aber ich würde nicht sagen, dass sie derzeit noch großes Spaltungspotential hat, zumindest solange sie nicht ideologisch geführt wird.
Glauben Sie nicht, dass die Forderungen der sozialen Bewegung in Israel an Radikalität verlieren können, wenn sich die politische Debatte erneut um den Konflikt mit den Palästinensern und um Sicherheitsfragen dreht?
Ja, die Gefahr ist real, vor allem in Bezug auf Neuwahlen im kommenden Jahr. Es kann schnell passieren, dass die politische Debatte in Israel sich auf den Konflikt mit den Palästinensern beschränkt, denn die politischen Parteien wissen, am Ende sind es nicht soziale oder ökonomische Fragen, mit denen man Wahlen gewinnt, sondern die Siedlungen, die Westbank und all­gemein die Sicherheit. Es liegt an uns, dies zu ändern und die sozialen Fragen in den Mittelpunkt zu stellen. Und an diesem Punkt kann ich mich nur wiederholen: Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist universal und kann nicht nur für Israelis gelten.