Die Islamisten und der Streit um die neue Verfassung in Ägypten und Tunesien

Ein Kampf um jedes Wort

In Ägypten und Tunesien wächst der Widerstand gegen Versuche, die Verfassung an der Sharia auszurichten.

Aus ihrer Perspektive ist es sicher ein bedeutender Sieg: Erst kürzlich konnten die Salafisten in der ägyptischen verfassungsgebenden Versammlung durchsetzen, dass ein Paragraph gestrichen wird, der Menschenhandel unter Strafe stellte. Dann nämlich, so ihr Argument, könnten reiche Saudis nicht mehr minderjährige Mädchen aus armen ägyptischen Familien heiraten. Mit zwei anderen Forderungen hatten sie bislang noch keinen Erfolg: der Herabsetzung des Heiratsalters von Mädchen und der Aufhebung des aus der Ära Hosni Mubaraks stammenden Verbotes weiblicher Genitalverstümmelung. Dafür aber soll künftig im ägyptischen Familienrecht die Gleichheit von Mann und Frau nur insoweit garantiert werden, als dies nicht den Geboten der Sharia widerspreche.
Das Hauptaugenmerk der Salafisten aber gilt Artikel 2 des Verfassungsentwurfes, der die Bedeutung der Sharia festschreibt. 1971 wurde unter dem damaligen Präsidenten Anwar al-Sadat festgelegt, dass »die Prinzipien der Sharia die Hauptquellen der Gesetzgebung« seien. Muslimbrüder und Vertreter nichtreligiöser Parteien hatten sich mit Unterstützung der al-Azhar-Universität und der koptischen Kirche geeinigt, diese Formulierung unverändert beizubehalten.

Unter »Prinzipien«, kritisieren die Salafisten, aus ihrer Sicht ganz zu Recht, könne vieles verstanden werden. Es müsse klargestellt werden, dass die Sharia die einzige Quelle von Gesetzgebung und Rechtsprechung sei. Notfalls, so erklärte erst kürzlich ein Vertreter der Jama’a al-Islamiya, werde man wieder zu den Waffen greifen, um dieses Ziel zu erreichen. In Konflikt geraten sie damit nicht nur mit den nichtreligiösen Gruppen und Parteien, die sich seit einiger Zeit zu organisieren beginnen, sondern auch mit der al-Azhar-Universität.
Was nämlich für Außenstehende wie Wortklauberei klingt, betrifft in Wirklichkeit unmittelbar die künftige Gestalt des ägyptischen Staates, ja die Staatlichkeit in der islamischen Welt überhaupt. Solange es nämlich bei »Prinzipien« bleibt, einer recht vagen Formulierung, wird das Oberste Verfassungsgericht das letzte Wort behalten, ob ein Gesetz verfassungskonform ist oder nicht. Die Salafisten und andere Islamisten dagegen streben eine Theokratisierung Ägyptens an. Nicht mehr vom Staat ernannte Richter, sondern die Kleriker der obersten sunnitischen Institution al-Azhar wären dann die letzte rechtliche Instanz.
Nur wenn dies verhindert wird, bliebe Ägypten ein »ziviler« Staat, der Klerus hätte rein beratende Funktionen. Und nichts anderes meinen die Muslimbrüder, wenn sie erklären, sie träten für einen »demokratischen und zivilen« Staat ein. Stimmten die Salafisten der Formulierung von Artikel 2 in seiner jetzigen Form allerdings zu, übten sie dagegen in der Tat Verrat an ihren ideologischen Prämissen: Ein »islamischer Staat« nämlich kann und darf weder auf Volkssouveränität beruhen noch Menschen das Recht geben, Gesetze zu erlassen. Beides obliege allein Allah.

Indem sie sich auf die parlamentarische Politik einließen, gerieten die Salafisten und andere Islamisten in einen unauflösbaren Widerspruch zu ihrer eigenen Lehre, während die Muslimbrüder aus taktischen Gründen vor einigen Jahren diese strikte Auslegung des politischen Islamismus aufgaben. So sehr beide Gruppen in inhaltlichen Fragen übereinstimmen, wenn es etwa um die Entrechtung von Frauen oder die Terrorisierung von Religionskritikern geht, streben die Muslimbrüder dieser Tage vor allem nach Übernahme staatlicher Macht um jeden Preis und sind, um dieses Ziel zu erreichen, auch zu Kompromissen bereit.
Einerseits ist das Verhältnis der Muslimbrüder zum Rechtsstaat deshalb zwar vor allem taktisch, andererseits sind sie sich dessen bewusst, dass die neuen Verfassungen, die in Ägypten und möglicherweise auch in Tunesien der Bevölkerung zum Referendum vorgelegt werden sollen, maßgeblich unter ihrer Ägide entstehen, also die ersten »islamischen« Verfassungen in der arabischen Welt sein werden. Geraten diese also zu »säkular«, käme dies einer ideologischen Niederlage gleich, deshalb kämpfen die Muslimbrüder verbissen darum, so viel Sharia wie irgend möglich in die Entwürfe einzubringen. Wochenlang dauerte deshalb die Auseinandersetzung um Blasphemiegesetze und die Rolle der Frauen in der Gesellschaft, um jedes Wort wurde heftig gestritten, es kam zu Demonstrationen und Gegendemonstrationen, während Fragen von Verwaltung, Ökonomie und Gewaltenteilung bislang sträflich vernachlässigt wurden.
So gerieten, in Tunesien weit ausgeprägter als in Ägypten, wo islamistische Parteien über eine satte Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung verfügen, diese Debatten zu einer ersten heftigen und grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen religiösen Parteien und ihren Gegnern, wobei letztere sich langsam in beiden Ländern besser zu organisieren beginnen. Seit einiger Zeit finden nicht nur in Tunesien, sondern auch in Ägypten Massenproteste statt, die sich auch gegen jene Elemente in den Verfassungsentwürfen richten, die dezidiert auf eine weitere Entrechtung von Frauen zielen. Am Freitag voriger Woche demonstrierten Tausende auf dem Tahrir-Platz mit Plakaten, auf denen etwa stand: »Kinder sollen spielen, nicht heiraten«.

In solchen Protesten drückt sich neben wachsendem Unmut wegen der katastrophalen ökonomischen Lage und der ausbleibenden Reformen, die Präsident Mohammed Morsi bei Amtsantritt versprochen hatte, sowie seines selbstherrlichen Regierungsstils auch erstmals ein Bekenntnis zu einem Staat aus, der nicht auf religiöser Ideologie fußt. Endgültig ist damit in Ägypten das alte Bündnis zwischen Muslimbrüdern und nichtreligiöser Opposition zerbrochen, das sich in der Mubarak-Ära gebildet hatte. In Tunesien konnten die Gegner der Partei al-Nahda in letzter Zeit einige Erfolge verbuchen, doch ist fraglich, wie groß die Unterstützung für eine neue antiislamistische Bewegung in Ägypten sein wird. Da das Parlament aufgelöst wurde, stehen Neuwahlen bevor, bei denen Umfragen zufolge Muslimbrüder und Salafisten zwar herbe Verluste einfahren, aber weiter die stärkste Fraktion stellen dürften.
Während sich die Opposition gegen die islamistisch geführte Regierung besser zu organisieren beginnt, wächst auch unter deren Wählerschaft der Unmut über die bisherige Regierungsführung. Jenseits der eigenen Anhängerschaft dürfte Morsi im Ausland beliebter sein als in Ägypten. Denn er gefällt sich auf internationalem Parkett in der Rolle des seriösen Staatschefs, wo er, ganz anders als etwa sein iranischer Amtskollege Mahmoud Ahmadinejad, keineswegs als selbsternannter Sprecher unterdrückter Völker auftritt. In Washington sagte er: »Alle Ägypter gehören der Mehrheit an, (…) Männer, Frauen, Muslime, Christen (…), unabhängig von ihren Überzeugungen, ihrem Geschlecht, ihrer Haut­farbe.« Ägypten sei nämlich jetzt »ein neuer demokratischer und ziviler Staat« und weder theokratisch noch vom Militär dominiert.
Das Auditorium dürfte solche Worte gerne vernommen haben, gehörten ihm doch mehrheitlich Unterstützer der Regierung Barack Obamas an, die ganz auf Kooperation mit der ägyptischen Muslimbruderschaft setzt. Ebenso sehr dürfte es die US-Regierung gefreut haben, dass Ägypten nicht nur einen neuen Botschafter nach Tel Aviv entsandt hat, sondern dieser auch noch einen Brief an Shimon Peres mitbrachte, in dem Morsi den israelischen Präsidenten als »guten Freund« bezeichnet und schrieb, er hoffe »auf eine Vertiefung der Beziehungen«. Zurück in Ägypten, betete Morsi dann andächtig mit einem bekannten islamistischen Kleriker, der zuvor allen Juden den Tod gewünscht hatte.