Antrag zur Neuaufnahme der Ermittlungen zum Tode der RAF-Gefangenen

Ungeklärte Umstände

Bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart wurde ein Antrag zur Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens zur sogenannten Todesnacht von Stammheim gestellt.

Am 18. Oktober jährte sich zum 35. Mal der Tag, an dem die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim auf­gefunden wurden. Jahrelang gab es in der Linken starke Zweifel an der offiziellen Version vom Selbstmord, auf Kongressen und bei Demonstrationen wurden diese Zweifel öffentlich gemacht. Allerdings ist der Kreis derjenigen, die sich für die Todesumstände der RAF-Gefangenen interessieren, in den vergangenen Jahren kleiner geworden. Das liegt auch daran, dass nach mehr als drei Jahrzehnten zumindest viele Jüngere Stammheim eher mit einer Diskothek in Nordhessen als mit einem Hochsicherheitsgefängnis am Rand von Stuttgart assoziieren. Das könnte sich ändern. Denn in diesem Jahr waren es keine Vertreter der radikalen Linken, sondern der Buchautor Helge Lehmann und Gottfried Ensslin, der Bruder von Gudrun Ensslin, die für Medienöffentlichkeit zum Jahrestag sorgten.

Pünktlich zum 18. Oktober beantragten sie bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart die Neuaufnahme des Ermittlungsverfahrens zum Tod der drei RAF-Gefangenen. In ihrem Antrag werden insgesamt 32 Punkte aufgelistet, die auf Recherchen beruhen, die Lehmann für sein 2011 erschienenes Buch »Die Todesnacht in Stammheim – eine Untersuchung« unternommen hat. Lehmann unterzog zahlreiche der in der offiziellen Selbstmordversion unhinterfragten Annahmen einer Analyse, mit dem Ergebnis, viele seien unzutreffend. Eine wichtiger Rolle spielt dabei die Kommunikationsanlage, mit der sich die Gefangenen nach Ansicht der staatlichen Ermittler über den Suizid verständigt haben. Lehmann hat die Anlage nachgebaut und dabei festgestellt, dass sie nicht habe funktionieren können. Auch die Frage des Waffentransports sei weiterhin ungeklärt. Sowohl der Plattenspieler in Baaders Zelle, der als Waffenversteck gedient haben soll, als auch die Akten, mit denen sie von Anwälten ins Gefängnis geschmuggelt worden sein sollen, scheiden nach Lehmanns Untersuchungen aus. Weitere Punkte des Antrags beziehen sich auf die Tatsache, dass keiner der in Stammheim Inhaftierten in der Todesnacht einen Schuss gehört hat. Lehmann zufolge müsste die Lautstärke eines ohne Schalldämpfer abgefeuerten Schusses jedoch erheblich gewesen sein. Ein Schalldämpfer wurde aber nicht gefunden.
Mit einem Großteil dieser Punkte knüpfen die beiden Antragsteller an Fragen an, die nach dem Tod der Gefangenen bereits von Anwälten und Solidaritäts- und Menschenrechtsorganisationen gestellt wurden. Sie sind auch in der Sonderausgabe der Hamburger Zeitschrift Arbeiterkampf von 1987 aufgeführt, die zum zehnten Jahrestag der Tode mit der Schlagzeile aufmachte: »Wir glauben noch immer nicht an Selbstmord.«

Damals gab es eine Demonstration in Stuttgart, die von schwerbewaffneter Polizei aufgelöst wurde. In diesen Jahren wurden wegen zahlreicher Publikationen aus der radikalen Linken, die die Selbstmordthese in Frage stellten, Ermittlungsverfahren und Strafprozesse angestrengt. Nach der Auflösung der RAF und eines großen Teils ihres politischen Umfelds ist der Verfolgungsdruck geringer geworden. Seither hat sich ein Großteil der Linken, die Ende der achtziger Jahre weiterhin nicht an Selbstmord glaubten, zumindest damit abgefunden, dass die Todesumstände ungeklärt bleiben. Man ging davon aus, dass es kaum noch zu neuen Erkenntnissen kommen werde. Doch das könnte sich als Irrtum erweisen. Lehmann hat in den Antrag auch ein neues Indiz aufgenommen, das die Zweifel an der offiziellen Version bekräftigt. Es handelt sich um ein ihm zugespieltes Vernehmungsprotokoll des Wachbeamten Hans Springer, der in jener Nacht im siebten Stock von Stuttgart-Stammheim, wo die RAF-Gefangenen untergebracht waren, Dienst hatte. Er sagte aus, er sei von einer für ihn nicht genau identifizierbaren Person gegen 0.30 Uhr telefonisch von seinem Wachposten abberufen worden, um bis 3.30 Uhr in einer anderen Abteilung des Gefängnisses auszuhelfen. Ihm sei ver­sichert worden, dass die Bewachung der Gefangenen in dieser Zeit gewährleistet sei. Sollten sich die Angaben bestätigen, dann wären in dem Zeitraum, in dem die Gefangenen ums Leben kamen, unbekannte Personen für die Bewachung zuständig gewesen. Das Protokoll gehörte zu jenen Akten, die mit der Begründung, sie tangierten die Sicherheit der Bundesrepublik, immer noch geheim sind.
Mit Helge Lehmann beschäftigt sich nun jemand mit dem Tod von Baader, Ensslin und Raspe, der sich nicht an dem innerlinken Streit um die Todesumstände der RAF-Gefangenen beteiligt hat. Dort ging es am Ende nicht mehr um neue Fakten, sondern lediglich um Bekenntnisse.

Auf die Frage, welche Hypothese er selber zur sogenannten Todesnacht habe, antwortete Lehmann beim Pressegespräch anlässlich des Antrags zur Wiederaufnahme des Verfahrens: »Nur eine, dass die offizielle Version in zentralen Punkten nicht stimmen kann.« Damit vermeidet er Spekulationen, im Unterschied zu anderen Autoren, die sich vor ihm kritisch mit den Todesumständen beschäftigt haben. Dazu gehört der inzwischen verstorbene Rechtsanwalt Karl-Heinz Weidenhammer, der das 1988 erschienene Buch »Selbstmord oder Mord. Das Todesermittlungsverfahren: Baader, Ensslin, Raspe« verfasst hat. Neben vielen Fakten, die er als am Verfahren beteiligter Rechtsanwalt präsentierte, erging er sich auch in eigenen, nicht belegbaren Speku­lationen über die Rolle ausländischer Geheimdienste.
Lehmann hingegen kann hoffen, dass mittlerweile verrentete Beteiligte aus dem Sicherheitsapparat ihr Wissen über die sogenannte Todesnacht nicht mit ins Grab nehmen wollen. Das ihm zugespielte Vernehmungsprotokoll ist ein Indiz dafür. Doch ob die Justiz den Fall noch einmal aufgreift, ist fraglich. Schließlich hat Helmut Schmidt, der zu dieser Zeit Bundeskanzler war, bereits 1979 in einem Interview gesagt: »Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken, dass sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben. Man kann nicht alles ­regeln.«