Gabriele Heinecke im Gespräch über den Piraterie-Prozess in Hamburg

»Eine sehr deutsche Sicht auf die Verhältnisse«

Nach fast zwei Jahren und über 100 Verhandlungstagen endete Mitte Oktober der umstrittene Piraterie-Prozess. Das Land­gericht Hamburg verurteilte die zehn Angeklagten aus Somalia, darunter drei Heranwachsende, wegen erpresserischen Menschenraubes und bewaffneten Angriffs auf den Seeverkehr zu Haftstrafen zwischen zwei und sieben Jahren. Sie hatten im April 2010 das deutsche Containerschiff Taipan überfallen. Gabriele Heinecke war Pflichtverteidigerin eines 28jährigen Angeklagten, der Vater zweier Kinder ist. Die Hamburger Rechtsanwältin stellt die Rechtmäßigkeit des Verfahrens in Frage. Gegen das Urteil hat sie Revision beantragt, die Anwälte acht weiterer Angeklagter ebenso. Bis ein rechtskräftiges Urteil beim Bundesgerichtshof gesprochen wird, kann ein Jahr vergehen.

Sie haben das Verfahren von Anfang an kritisiert. Warum?
Das fängt schon mit der Festnahme an: Nach der Strafprozessordnung muss jeder Beschuldigte spätestens nach 48 Stunden einem Richter vorgestellt werden. Die zehn Festgenommenen sind neun Tage lang im Indischen Ozean herumgefahren worden. Einen Richter haben sie nicht gesehen, sondern sie waren gefesselt auf dem niederländischen Kriegsschiff Tromp. Wenn man Menschen ins Land holt, um sie abzuurteilen, dann muss man auch die dort geltenden Rechte vom ersten Tag an wahren. Das ist hier nicht passiert. Ich halte das für einen gravierenden Verfahrensfehler.
Der zweite Punkt ist die Anwendung des Seerechtsübereinkommens, eines völkerrechtlichen Vertrags, dem 1989 auch Somalia beigetreten ist. Mit dem Übereinkommen erlauben die vertragschließenden Staaten das Aufbringen von Piraten auf See. Ich bezweifle, dass diese Erlaubnis in unserem Fall galt. Denn Somalia ist inzwischen kein Staat mehr, sondern ein failed state. Gegenüber den Menschen aus Somalia kann daher das Seerechtsübereinkommen keine Rechtsgrund­lage für eine Festnahme im Indischen Ozean sein.
Nach Aussage eines Angeklagten, der gegenüber der holländischen Marine ausgepackt hat, soll Ihr Mandant der Anführer gewesen sein. Er selbst sagt, er sei wegen seiner Schulden unter Waffengewalt zum Überfall gezwungen worden. Die Ladung von Zeugen aus Somalia hat das Gericht stets abgelehnt. Wie ging es Ihrem Mandanten nach der Urteilsverkündung?
Dass die Strafkammer unseren Anträgen auf Anhörung des in Somalia lebenden Entlastungszeugen nicht nachgekommen ist, beweist die Verletzung von grundlegenden prozessualen Rechten. Hätte der Zeuge die Erklärung unseres Mandanten bestätigt, hätte dieser freigesprochen werden müssen. Aber die Kammer fand eine Reise nach Somalia zu gefährlich und sah keine Möglichkeit, den Zeugen nach Hamburg zu holen. Das alles hat unseren Mandanten extrem belastet.
Einerseits ist er nun erleichtert, weil das Gericht dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft von zwölf Jahren nicht entsprochen, sondern »nur« sieben Jahre verhängt hat. Andererseits ist er sehr enttäuscht, dass er mit seiner Einlassung und seinen Anträgen nicht wirklich gehört worden ist.
Er und die anderen sechs erwachsenen Angeklagten müssen die Kosten des Verfahrens tragen. Wissen Sie schon, was da auf Ihren Mandanten zu kommt?
Etwas Unbezahlbares.
Haben Sie die lange Dauer und die Wendungen des Prozesses erwartet?
Dass es kompliziert werden würde, Sachverhalte aus Somalia in Hamburg in den Prozess hineinzutragen, war uns schon klar. Auch die lange Dauer hat damit zu tun. Wir mussten uns alle erst einmal in die Materie einarbeiten, Sachverständige hören und versuchen, den Alltag dieses Landes kennenzulernen.
Wie überzeugend fanden Sie die vierstündige Urteilsbegründung des Richters?
Die Begründung war widersprüchlich. So ist das das Gericht zwar ungeprüft davon ausgegangen, dass die Einlassungen der Angeklagten zur Person zutreffen, also die Clanzugehörigkeit und die persönliche Lebenssituation. An die Einlassungen zur Sache wurde aber ein anderer Prüfungsmaßstab angelegt. So wurde im Urteil ausgeführt, das Benutzen eines Mobiltelefons auf dem »Mutterschiff«, um seine Familie zu informieren, beweise, dass unser Mandant nicht entführt worden sei. Diese Einschätzung beruht auf Annahmen, die ihre Grundlage nicht in unserem Strafprozess haben, sondern ein schlichtes Vorurteil darüber sind, wie der somalische Mensch sich so verhält. Das Vorurteil lautet: Wer mit dem Telefon eines anderen hier Angeklagten seine Familie anruft, ist Pirat. Das halte ich für Unsinn.
Unser Mandant hatte außerdem erklärt, dass er entführt worden sei, weil er geliehene 500 Dollar nicht zurückzahlen konnte und die Summe durch seine Beteiligung am Überfall abarbeiten sollte. Das Gericht hat argumentiert, dass dies nicht stimmen könne, weil man ihn ja auch so hätte zwingen können, ohne die 500 Dollar Schulden. Diese Beweiswürdigung ist verwunderlich, denn sie setzt die Logik der Kammer an die Stelle wirklichen Geschehens, über das aber gar kein Beweis erhoben worden ist.
Darüber hinaus hält die Kammer eine Zwangssituation für widerlegt, weil die Gruppe als Einheit bei der Enterung der Taipan zusammengewirkt haben müsse, anders sei die Aktion gar nicht denkbar. Auch hier setzt das Gericht seine Vorstellung an die Stelle einer notwendigen Beweiserhebung. Wer Angst um sein Leben hat, würde aber alles tun, um zu funktionieren.
In dem Urteil steckt ein profundes Vorurteil. Es gibt viele Anhaltspunkte dafür, dass die Sicht der Kammer eine sehr deutsche Sicht auf die Verhältnisse in Somalia und unter Somaliern ist. Mir scheint, dass diese Sicht nicht stimmt.
Sie hatten auf Einstellung des Verfahrens plädiert.
Nach unserer Überzeugung hat dieses Verfahren bewiesen, dass die Umstände und die deutsche Strafprozessordnung nicht die Mittel zur Verfügung stellen, um dieses Verfahren in einer fairen Art und Weise durchzuführen. Es hätten Beweise in Somalia erhoben werden müssen. Die darauf gerichteten Beweisanträge hat die Kammer zurückgewiesen. Im Fall unseres Entlastungszeugen aus dem Flüchtlingslager nahe Mogadischu scheiterte es daran, dass der Zeuge keinen Pass hatte. Ein Professor aus Mogadischu wäre bereit gewesen, bei der Beschaffung des Passes und der Ausreise zu helfen. Aber es hätte eine kleine Summe für die Beschaffung des Passes gezahlt werden müssen. Die Kammer hat uns in der Urteilsbegründung vorgehalten, wir hätten das Ansinnen an das Gericht gestellt, »Schmiergelder« für den Pass aufzubringen.
Die Strafkammer hat die Aussage dieses Zeugen in verschiedenen Beschlüssen als wesentlich bezeichnet. Wenn es dann nicht gelingt, sich des Zeugen zu bedienen, weil man weder selbst nach Somalia reisen noch die Möglichkeit einer audiovisuellen Vernehmung in Anspruch nehmen noch dem Zeugen bei der Passbeschaffung behilflich sein will, muss man sich eingestehen, dass das Verfahren rechtsstaatlich nicht zu handhaben ist. Wenn die rechtsstaatlich gebotene Aufklärung des Falles nicht möglich ist, besteht ein Verfahrenshindernis, das zur Einstellung des Verfahrens führen muss.
Das Verfahren wurde nicht eingestellt. Brauchte die Bundesregierung den Prozess, um den Einsatz der deutschen Marine am Horn von Afrika zu legitimieren, wie manche Kritiker meinten?
Nein, das glaube ich nicht. Das Gericht hat sich bemüht, rechtsstaatliche Entscheidungen zu treffen. Die Strafkammer befindet sich aber im Irrtum, wenn die Richter meinen, sie könnten mit dem zur Verfügung stehenden Instrumentarium die Hintergründe des Angriffs auf die Taipan aufklären und eine gerechte Entscheidung treffen.
Wie bewerten Sie es, dass die Erstürmung der Taipan nach Absprache mit der Bundesregierung stattfand und der Prozess nur unter Mithilfe des Militärs am Golf von Aden möglich war?
Das ist sicher ein grundsätzliches Problem. Die Strafverfolgung ist Aufgabe der Polizei, nicht des Militärs. Hier hat das Militär polizeiliche Aufgaben wahrgenommen. Das ist rechtswidrig.
Einzelne Kommentatoren bemängelten die Unerfahrenheit des Gerichts in grenzüberschreitender Arbeit. Müssen Gerichte angesichts zunehmender »Weltjustiz« besser ­qualifiziert werden und außereuropäische Lebensverhältnisse genauer studieren? Oder ist die entgrenzte Strafverfolgung schon das Problem?
Ich weiß nicht, wie erfahren die Kammer in anderen Verfahren mit internationalem Bezug ist. Das Problem scheint mir ein viel grundlegenderes zu sein: Auf der einen Seite gibt es die reichen und mächtigen Länder, denen alles offen steht und die sich auf dieser Welt nehmen können, was sie wollen, notfalls mit Waffengewalt. Eine strafrechtliche Verfolgung existiert hierfür nicht. Diese Länder setzen ein Recht, das für die armen Länder oft Unrecht ist.
Es entsteht eine Schieflage auf der Ebene des Rechts. Recht im Wortsinne aber ist nur Recht, wenn es zu Gerechtigkeit führt. Gerechtigkeit ist nicht, wenn ein reiches Land mit Macht das selbstgesetzte Recht durchsetzt. Somalia ist ein zerfallener Staat. Er kann seinen Bürgern keinerlei Schutz bieten, weder im Land noch hier auf der Anklagebank. Deutschland nimmt sich das Recht des »Weltrechtsprinzips«. Es ist eine Rechtsetzung durch Macht, nicht durch Gerechtigkeit, und das ist ein Problem.